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Nachlese

2016 1. Dezember
von Martin Löschmann

Eigentlich hätte mir diese Publikation schon längst auffallen können, ja müssen, stellt sie doch mein nachwendisches Schicksal in einen von mir schmerzlich erlebten Zusammenhang. Die Rede ist von Arno Hechts (Hrsg.) Enttäuschte Hoffnungen. Autobiographische Berichte abgewickelter Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands. (verlag am park in der edition ost Ltd. Berlin 2007); ausführlich und treffend besprochen von Klaus Mylius in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 95(2008), 17 3–178. Michael Thormann hat sie gefunden und mich dankenswerter Weise auf sie aufmerksam gemacht.

Nicht, dass ich nicht bemüht gewesen wäre, mich mit Veröffentlichungen zur „Verdrängung der Wissenschaftselite Ostdeutschlands“ zu beschäftigen bis hin zur Erarbeitung meiner eigenen Memoiren Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen (Engelsdorfer Verlag, 2015). Nachzulesen u. a. vor allem hier unter Verjagt mit keinem guten Grund. Allerdings war mein Schreibanlass das eigene Erleben, wobei meine Gedankengänge mitbestimmt wurden von den leicht beweisbaren Tatsachen, dass sich die Erinnerungsbestände in einem weithin sichtbaren Verallgemeinerungsraum bewegen. So konnte es gar nicht anders sein, als dass sich in meinem Erinnerungsband Namen wiederfinden, die in Enttäuschte Hoffnungen in voller Größe in Erscheinung treten. Bei mir wird nur kurz der Rostocker Mediziner Prof. Dr. Klinkmann erwähnt, „mit mehreren Ehrendoktorhüten und -professuren ausgestattet und in mehr als zwanzig internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften tätig, Präsident der Welt- und europäischen Gesellschaft für künstliche Organe. Er musste wegen ‚schweren Fehlverhaltens‘ sein Amt als Klinikdirektor aufgeben. Derartige Beispiele gibt es bekanntlich viele, viele: die Leipziger Professoren Lommatzsch, Kiene, Arnold, die wie ich geklagt und erstinstanzlich gewonnen hatten usw. usf.“

Die aufmerksamen Lesenden – ich vermeide unglücklich den eingeschliffenen Begriff ‚der aufmerksame Leser‘ – merken natürlich sogleich, dass ich meinen Fall in eine illustre Gesellschaft einbinden will, soll heißen, in der ‚Säuberungsaktion‘ wurden ganz andere Kaliber von den ostdeutschen Universitäten verjagt. Neben den schon bei mir aufgeführten Professoren Siegfried Kiene, ehem. Direktor der Chirurgischen Klinik an der Karl-Marx-Universität, und Peter Lommatzsch, Prof. für Augenheilkunde und ehem. Klinikdirektor, ebenfalls an der KMU, sollen aus dem Sammelband nur der Herausgeber des besagten Bandes und ehemaliger Direktor des Instituts für Pathologie an der KMU und Vorsitzender der Gesellschaft für Pathologie der DDR sowie Gisela Jacobasch, Professorin für Biochemie der Charité, und Professor Reinhard Mocek, ehemaliger Dekan der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, genannt werden. Das reicht wohl, um zu zeigen, dass Prof. Martin Löschmann vom Herder-Institut der Leipziger Universität beileibe kein Einzelfall war. Im Übrigen kann die vollständige Liste der Beiträger und Beiträgerinnen nachgelesen werden. Sie zeigt, dass es dem Herausgeber und den anderen Mitwirkenden darauf ankam nachzuweisen, dass „der wissenschaftliche Rang bei den ‚Evaluierungen‘ niemals auch nur die allergeringste Rolle gespielt“ hat. (Mylius, S. 174) So sehr dieses Anliegen auf der einen Seite hervorgehoben werden muss, weil dergestalt die Mär des nichtfachlichen Geeignetseins als Vertreibungsgrund Lügen gestraft wird, so wenig ist natürlich zu übersehen, dass eine derartige Auswahl womöglich das inhumane Vorgehen der Regierungsvertreter der Bundesrepublik gegenüber der DDR-Wissenschaftselite insofern relativieren, als unterschwellig mitklingen könnte, man hätte wenigstens die Koryphäen der jeweiligen Wissenschaftsbereiche schonen können, wenn nicht gar müssen. Freilich lässt sich das Unrecht im Angesicht bedeutender Persönlichkeiten besonders wirkungsvoll demonstrieren. Für mich war lange Zeit, abgesehen von meiner Wenigkeit, das Paradebeispiel, das auch in diesem Band, nicht jedoch in meiner Veröffentlichung gegeben wird: Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch, der aus dem Amt vertrieben wurde trotz aller Vertrauensbekundungen der Thomaner und ihrer Eltern. In Österreich wurde seine Kompetenz geschätzt: Er fand am Mozarteum in Salzburg als Gastprofessor für evangelische Kirchenmusik eine Anstellung. Aus Hechts Band erfahren wir weiteres: der Onkologe Stefan Tanneberger ging nach Bologna, der Molekularbiologe Charles Coutelle wie ich nach London, der Biotechnologe Reinhard Renneberg nach Hongkong.

Dass die Entfernung der DDR-Eliten beschlossene Sache war, macht dieses Buch einmal mehr deutlich. So musste der soeben erwähnte Charles Coutelle wie auch ich erfahren, dass keine Vertrauensbeweise halfen. Prof. Coutelle erhielt 1990 mehr als 90% Zustimmung in seinem Arbeitsbereich und musste trotzdem gehen. Bei mir waren es nicht ganz so viele Prozentpunkte, aber dennoch verfügte ich – wie es heute heißt – über ‚eine satte Mehrheit‘.
Aber solche demokratischen Vertrauensbekundungen zugunsten einer Wissenschaftlerin oder eines Wissenschaftlers wurden einfach von der jeweiligen Personalkommission ignoriert, deren widerwärtiges Auftreten mir gegenüber ich ja relativ ausführlich in meinen Erinnerungen schildere. Im Falle von G. Jacobasch scheint ihre Kommission vorerst den Vogel des Zynismus abgeschossen zu haben: Durch ihre „wissenschaftlichen Leistungen“ hätte sie „das internationale Ansehen der DDR erhöht“ und sei „deshalb nicht berufungsfähig“ (S. 94). Dümmer geht’s nimmer, besser: dummdreister geht’s nimmer. Wie habe ich mich darüber geärgert, mit welchen primitiven Verdächtigungen ich aus dem Sattel gehoben werden sollte und letztlich auch trotz arbeitsgerichtlicher Freisprechung gehoben wurde.
Anders als Prof. Lindenau (Herzchirurg), der bei ‚seiner‘ Personalkommission‘ feststellen musste, dass seine fachliche Arbeit, sein ärztlicher Lebensweg völlig unbeachtet blieben. Traun für wahr, die Personalkommissionen waren einzig und allein eingerichtet, um unter dem Vorwand der Überprüfung persönlicher Integrität, also der Sittlichkeit, des Wohlverhaltens, der Politiknähe bzw. Regimenähe, der Stasiverstrickung der Deliquenten im Schnellverfahren zu richten, d.h., sie von den Lehrstühlen zu vertreiben. Auch ich habe mich gefragt, was denn die Personalkommissionen überhaupt berechtigte, Urteile über ehemalige Kollegen und Kolleginnen zu fällen, die diese brotlos machten. Mit Rechtstaatlichkeit und Transparenz hatte dies nichts zu tun. Die Mitglieder der Personalkommissionen wurden durch relativ leicht durchschaubaren Zuruf zusammengestellt und offensichtlich praktisch nicht aufgehalten, in nicht wenigen Fällen Rufmord zu begehen.
Im Buch, um das es hier geht, werden auch Wissenschaftler aufgeführt, die sich nicht anders zu helfen wussten, als sich selbst zu töten. Ich greife hier nur zwei Beispiele auf: Prof. Heinz Köhler, ehemaliger Direktor im Universitätsklinikum Leipzig, und Prof. Gerhard Riege, in Jena zum Rektor der Friedrich-Schiller-Universität gewählt, diese Wahl allerdings von der vermeintlich zuständigen Behörde annulliert. (Vgl. Mylius, S.175)

Man kann dem Rezensenten (siehe Einleitungstext) nur zustimmen, wenn er sich „ein Lexikon der bei diesem Elitenwechsel tätig gewesenen Macher und ihrer Opfer“ wünscht, das nicht nur „für spätere Historikergenerationen eine verlässliche Materialsammlung bieten“ (S.176) könnte, sondern für jedermann sichtbar das im Zuge der Verwestlichung der ostdeutschen Universitäten begangene Unrecht und die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit demonstrieren würde.
Diese ‚Macher‘, in einigen Fällen besser ‚die Mitmacher‘ kamen nicht nur aus dem Westen, sondern zu einem Großteil aus der DDR selbst. Ehemalige Kolleginnen und Kollegen, in den wenigsten Fällen Opfer der DDR-Zeit, wie einige aufgeführten Beispiele unmissverständlich zeigen, beteiligten sich in vielen Fällen aus leicht erkennbaren Gründen an der Hetzjagd. Neben dem sächsischen Wissenschaftsminister Prof. H.-J. Meyer, dem obersten Hexenjäger in Sachsen, dem Initiator der sog. Schwarzen Liste, der sowohl in meinem Memoiren (S. 224 f.) als auch im herderblog.net (Zugeordnet und eingeordnet und auf der Schwarzen Liste, Verjagt mit keinem guten Grund) ausführlich in seiner Treibjagd beschrieben ist, wird z.B. ein Prof. Hans-Albrecht Freye, ehemaliger Staatssekretär im Magdeburger Wissenschaftsministerium erwähnt (S.223), der zur DDR-Zeit mit dem Vaterländischen Verdienstorden ausgezeichnet worden war. Wenn es hier wie dort nicht schwarz auf weiß dastände, man würde es nicht glauben. Aber es ist die bezeugte Wahrheit. Wohin Hass, Rachsucht, Neid, Selbstgerechtigkeit, Geltungsdrang, Gier führen können, enthüllt die menschenverachtende Äußerung von Prof. Fritz Meißner, der „alle über 55 alten Professoren in die Wüste schicken“ wollte, weil sie „nur die Ausstrahlung einer Taschenlampe“ hätten. (Ebenda)

Frau Prof. G. Jacobasch führt das miese Verhalten einiger Kollegen auf „ihre charakterlichen Schwächen“ zurück (S.92) Das ist sicherlich generell nicht zu bestreiten, für mich war und ist dennoch die Charakterisierung als Vorteilsnehmer zielführender. Einen Menschen, der sich vordergründig um meinen Hinausschmiss verdient gemacht hat, führe ich deshalb unter der Überschrift Ein Vorteilsnehmer ist ein Vorteilsnehmer ist ein Vorteilsnehmer vor.
So sehr man mit den neuen Machthabern und den diese auf Kosten anderer unterstützenden Vorteilsnehmern ins Gericht gehen muss und so sehr eine Aufarbeitung des Unrechts, des Denunziantenklimas, der Rechtsverletzung und der Intransparenz im Zeitraum der Wende noch aussteht, einen Bezug zum Verhalten restaurativer Kräfte nach dem Ende des 2. Weltkrieges würde ich nicht herstellen wollen, wie es der Rezensent Mylius vorschlägt (vgl. 175). Keine Frage, dass in der Nachkriegszeit die Nazis weitgehend unbehelligt in ihren Ämtern, an den Universitäten blieben bzw. auf ihre Posten zurückkehrten. Indes was einst tabu war, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern der heutigen Bundesrepublik. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die DDR hat dazu auch beigetragen. Doch der Vorwurf, mit den Nazis sei man wesentlich ‚freundlicher‘ ‚nachsichtiger‘ umgegangen als mit Wissenschaftlern in der DDR, die sich zu ihrem Staat loyal verhalten und ihn unterstützt haben, scheint mir in hohem Maße abwegig. Weil hier etwas verglichen wird, was nicht zu vergleichen ist, ganz abgesehen davon, dass sich die Bundesrepublik inzwischen gewandelt und ihre Vergangenheit in einem bestimmten Maße aufgearbeitet hat bzw. aufarbeitet.

Die „autobiographischen Berichte abgewickelter Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands“ bieten eine verallgemeinerungswürdige Grundlage für die längst fällige Aufarbeitung, abgesehen davon, dass sie sich interessant lesen.

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