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Nachtigall, ick hör dir trapsen

2019 5. Februar
von Martin Löschmann

Nein, ich fange nicht an zu berlinern. Aber diese, auf ein altes, heute kaum noch bekanntes Volkslied „Frau Nachtigall“ zurückgehende Wendung (wie mich Wikipedia belehrt), drängte sich irgendwie auf. Immerhin soll es in Berlin 1500 Nachtigall-Reviere mit rund 3000 Exemplaren geben. „Das sind mehr als in ganz Bayern.“ (Morgenpost)

Ist Ihnen auch aufgefallen, der Osten, der Osten Deutschlands, die neuen Bundesländer, die Neufünfländer, Ostdeutschland, die östlichen Länder finden mal wieder in der offiziellen Politik und damit in den Medien größere Aufmerksamkeit als normalerweise?

Wie sich das zeigt?

Auf einmal – wie aus heiterem Himmel – wird festgestellt: „von aktuell 14 Unterabteilungen (in der Bundesverwaltung) werde lediglich eine von einem Ostdeutschen geleitet. (Klar zudem: ein Mann – ML). Außerdem kamen dem Sprecher zufolge seinerzeit von insgesamt 101 Referats-, Fachbereichs- und Sekretariatsleiterinnen und -leitern nur vier aus Ostdeutschland.“ *

Oh Schreck und kein Weh, die Präsidenten der obersten Ostgerichte sind sogar zu 100 Prozent Westdeutsche. Immer noch! Klar: Nur Männer.
Es gäbe noch -zig Beispiele, aber wozu sich um Details kümmern, wenn man doch weiß, zwei Drittel der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft in Ostdeutschland werden von Westdeutschen besetzt. (Nach einer Untersuchung, die die Leipziger Universität im Jahr 2015 im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks durchführte.*)

Das aber soll nun, ab jetzt, ab 2019 anders werden:
– Die Grünen fordern, mehr Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen nach Ostdeutschland. Bravo – nach 30 Jahren endlich. Was Besseres ist Ihnen nicht eingefallen. Gegenrede: Besser als gar nichts!
– Die SPD will für die Ostdeutschen mehr soziale Gerechtigkeit durchsetzen. Oh, das klingt gut, mehr soziale Gerechtigkeit, aha, denn „Grundgerechtigkeit“ ist ja schon da. Herz, was willst du mehr, nur noch ein Luxusproblem: mehr, mehr, mehr Gerechtigkeit – und das schon nach 30 Jahren!
– Die Linke will die Ungerechtigkeit im Osten nicht hinnehmen. Klingt schon besser. Man kann von der Linken sagen, was man will, sie hat sich von Anfang an gegen den Kahlschlag ostdeutscher Eliten gewehrt. In dem Buch Gregor Gysi, Ausstieg Links* lässt sich Gregor Gysi fragen, was in der Geschichte von ihm eines Tages geblieben sein wird. Stolz hebt er seinen Anteil an der Überführung der Eliten aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland hervor. Wie wahr: „Es gab keine andere Partei, die sich dieser Aufgabe stellte. Übrigens zunächst auch kein Medium. Das war äußerst schwierig, und ich glaube, dass es einigermaßen gelungen ist.“ Nur Letzteres est dubitandum.

Sie fragen mich doch bestimmt nicht, warum in diesem Jahr solch auffällige Geschäftigkeit gen Osten?

Die Antwort liegt zu offensichtlich auf der Hand: Es ist nicht Showtime, das auch, im Herbst 2019 wählen Sachsen, Brandenburger und Thüringer neue Landtage.
Es ist geradezu unabdingbar, man muss sich in Position bringen, anders geht es nicht. Aber ob man durch solche ad hoc-Enthüllungen, Forderungen und Versprechungen punkten kann, ob man auf diese Weise die Wähler zuhauf gewinnt und etliche von der AfD zurückholt, möchte ich bezweifeln. Nicht zuletzt deshalb, weil die westdeutsche Fremdbestimmung, die Nichtanerkennung in der DDR entstandener Biografien, die sich jenseits der verhältnismäßig kleinen Opposition, die nicht genug gewürdigt werden kann, entwickelten, haben tiefe Spuren hinterlassen. Und die können nicht allein durch vermeintlich gute Forderungen 30 Jahre später beseitigt werden. Schon gar nicht, wenn man sich nicht ehrlich damit beschäftigt, wie sich das Wahlverhalten in den ostdeutschen Ländereien und warum es sich so entwickelt hat. Solange man hinter vorgehaltener Hand DDR mit „der dumme Rest“ identifiziert, wird sich die ‚Flüchtlingsbewegung‘ nicht nur weiter in Richtung Westdeutschland bewegen, sondern auch hin zur AfD.
Es muss einfach zu denken geben und es gibt inzwischen, wenn auch offensichtlich nicht genügend Menschen, die sich fragen, warum die westdeutsche Elitendominanz nach 30 Jahren immer noch herrscht. Darüber lässt sich freilich trefflich streiten. Einer der Gründe scheint mir plausibel der folgende zu sein:
Der zum Teil staatlich sanktionierte unlautere Verdrängungskampf im Prozess der Wende, der bekanntermaßen dazu führte, dass sogar international anerkannter Vertreter und Vertreterinnen der DDR-Elite ausgeschaltet, an die Peripherie gedrängt wurden oder sich gezwungen sahen, neue, andere Wege zu beschreiten. Die, die sich im Osten mit rabiater Gewalt und kräftigem Ellenbogen durchsetzten, besser: festsetzten, waren dabei mit Verlaub häufig nicht gerade die Besten. Sie sicherten ihre Pfründe mit aller Macht und allen Raffinessen. Bei Ausschreibungen z.B., die unverzichtbar sind, lassen sich die Vergaben unter der Hand oft nicht nachweisen. Ein westdeutscher Intelligenzler macht doch keinem ostdeutschen Platz, den hat er ja womöglich vor Jahr und Tag höchstpersönlich in die Wüste gejagt.
Überdies: Der Vergleich mit Kolonialherren hinkt, hinkt sehr, aber zu einem Teil dann wiederum auch nicht: Die sich aus der bewussten, mit viel Geringschätzung, auch Diffamierung ostdeutscher Eliten verbundene bewusste Etablierung westdeutscher Eliten zweiter Klasse ohne Ansehen der Person im Geläuft der Wende erneuert sich aus sich selbst.
In diese Vorgänge muss man hineinleuchten, ohne Besinnung auf die historischen Vorgänge, die zu Enttäuschung, Verzweiflung, Negierung der Verbesserung der Lebensbedingungen im Osten führten, wird es kaum gehen. Fehlersuche allein hilft da noch nicht weiter, denn es handelte sich um die klar erkennbare Strategie der CDU/CSU zur Verteuflung der DDR-Eliten, die leider von der SPD mitgetragen wurde.

Wie sie sich im Falle des Herder-Instituts in Leipzig auswirkte, kann man in diesem bescheidenen Blog nachlesen, Sie liegen nicht falsch, wenn mein letzter Satz noch einmal die Nachtigall aufruft, und Sie sie trapsen hören.

Nachtrag:
Und wie passt mein Kommentar vom 4. Februar 2019 zu den obigen Ausführungen?

Ich gebe zu, das Thema Plagiate ist für mich abgehakt, wohlwissend, die Vorwürfe und Aberkennungen von Doktorgraden werden vorerst nimmer aufhören. Doch das Spiel mit der Raterei, wer ist der nächste Kandidat, ist aus, aus, aus.
Indes: Spiegel online überfliegend, stoße ich am 4. Februar auf die Meldung und kann es nicht lassen, sie in den Blog zu transformieren:
FU Berlin entzieht dem durchaus bekannten Berliner CDU-Politiker Frank Steffel wegen Plagiate den Doktortitel.
Es sind vor allem Politiker und Politikerinnen aus dem Westen, die es trifft. Doch mal eine erfreuliche Nachricht.
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*http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Politik/Neue-Abteilungsleiter-der-Bundestagsverwaltung-sind-ausschliesslich-Westdeutsche)
*http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Politik/Neue-Abteilungsleiter-der-Bundestagsverwaltung-sind-ausschliesslich-Westdeutsche
*Gegor Gysi, Ausstieg Links? Eine Bilanz. Nachgefragt und aufgezeichnet von Stephan Hebel. Frankfurt/Main: Westend 2015, Ebook Edition, S. 31f.

  1. H.U. permalink
    Juli 29, 2019

    Gut beobachtet, wie das Thema der Spezifika des Ostens im Wahlkampf dominant wird.

    Etwas Ähnliches passiert ja augenblicklich in den Betrachtungen zum Verhältnis Deutschland – Russland. Bestimmt haben Sie festgestellt, dass ostdeutsche Politiker, und zwar nicht nur die Linke, ein Ende der Sanktionen gegenüber Russland fordern. Sie verweisen darauf, „dass der Osten anders „ticke“ und größeres Verständnis für Russland hätte. Und auch die hiesige Wirtschaft leide besonders unter den Sanktionen.“

    Man könnte auch schreiben: Besonders vor den Wahlen tickt der Osten anders – zumindest in den Parteien CDU und SPD.

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  1. Ja, Ostdeutschland findet mal wieder statt | Herderblog.net

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