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Verspätete und notdürftige Anmerkungen zu einem langen Interview

2018 25. Januar
von Martin Löschmann

Freunde haben mich auf dieses Interview vom 20. Dezember des vergangenen Jahres aufmerksam gemacht: Du interessierst dich doch dafür, was so zum Hochschulwesen der DDR gesagt oder geschrieben wird. Hier spricht einer, dessen Wissenschaftskarriere in der DDR begann und der mit seiner Heirat 1998 als Wissenschaftler-Ehemann der Bundeskanzlerin ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geriet.

Warum nicht? Bevor ich das Interview überfliege, stutze ich erst einmal: Dies soll ein großes Interview sein? Ungewöhnlich lang ist es auf jeden Fall, geht es doch über eine ganze Zeitungsseite. Worin aber das Große dieses Interviews besteht, erschließt sich mir beim Überfliegen nur bedingt. Also genauer lesen.

Zwei Argumentationsebenen bieten sich an. Groß, weil ein großer Wissenschaftler zu Worte kommt, nämlich der 68-jährige Quantenchemiker Prof. Dr. Joachim Sauer, der ganz offensichtlich Beachtliches an wissenschaftlichen Leistungen hervorgebracht hat und diese Leistungen, nicht ganz uneitel, ins richtige Bild rückt. Seine Auszeichnungen – Respekt einflößend. Das geht gelegentlich so weit, dass man den Eindruck gewinnen könnte, dieser verdienstvolle Wissenschaftler sei bisher nur kurz am Nobelpreis vorbeigeschrammt. Jedenfalls beschäftigt er sich mit einem Gebiet, auf dem der Berliner Forscher Gerhard Ertl einen Nobelpreis erhielt. „Während Ertl sich mit Metallen befasste, geht es bei meiner Forschung – gemeinsam mit zahlreichen Berliner Kolleginnen und Kollegen – um Metalloxide, die auch katalytisch aktiv sind.“ Klar, dass auf diesem Feld womöglich kein weiterer Nobelpreisträger folgen kann, weshalb uns Prof. Sauer auch erklärt, Nobelpreisträger sind nicht die einzigen „tollen Wissenschaftler“. Traun für wahr, wer wäre auch so vermessen, große, verdienstvolle Wissenschaftler erst beim Nobelpreis anzusetzen.
Die zweite Ebene wäre die Privatsphäre. Groß, weil er seit 1998 verheiratet ist mit der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und sich als Interviewpartner bisher rargemacht hat:
„Der 68-jährige Quantenchemiker steht nicht gern im Rampenlicht, schon gar nicht in der politischen Öffentlichkeit. Denn, und darauf legt er größten Wert, er ist Wissenschaftler … Abgesprochen ist, dass es um seine Forschung und seine Karriere gehen soll.“ Liest man das Interview, erkennt man problemlos, dass er sich nur zu hochschulpolitischen, also nur zu i.w.S. politischen Fragen äußert. An einer Stelle, wo es um die DDR-Zeit geht, verlässt er schon den hochschulpolitischen Raum; immerhin spricht er von einem „politisch Gleichgesinnten“, nämlich dem späteren tschechischen Akademiepräsidenten Rudolf Zahradnik.

Ist das Interview vielleicht deshalb in den Augen der beiden Interviewer, Juliane Meissner und Torsten Harmsen, so groß, weil man Herrn Sauer aus der Reserve gelockt hat. Klar, zur aktuellen Politik seiner Frau äußert er sich auch hier nicht. Wäre ja auch noch schöner, die eigene Frau in der Öffentlichkeit womöglich in Erklärungsnöte zu bringen. Da wird sie wohl ein Wörtchen mitgeredet haben, dass sie außen vor bleibt. Ich würde jedoch nicht so weit gehen, dass sie sein Interview vor der Freigabe gelesen oder gar hat prüfen lassen. Wäre das geschehen, dann wären die zahlreichen Ungereimtheiten zweifelsohne beseitigt worden. Zum Beispiel die ganz harmlose: Ein Professor in Berlin müsse neun Semesterstunden pro Woche lehren, das bedeutet aber m.E. mitnichten, „dass man jeden Tag eine zweistündige Vorlesung hat.“ Krasser wird es schon, wenn es um seine wissenschaftliche Laufbahn in der DDR geht.

Also, Herr Sauer geht zur Vorbereitung seiner Abschiedsvorlesung und auch wegen eines persönlichen Jubiläums ins Archiv der Humboldt-Universität, um sich „noch einmal … die Unterlagen der Immatrikulationsfeier von 1967“ anzuschauen, um danach die umwerfende Schreckensmeldung in die Welt hinausposaunen zu können: „Ich habe sie (gemeint ist seine Immatrikulationsfeier – ML) nie vergessen, weil man uns damals in Angst und Schrecken versetzte. Es wurde einem als jungem Studenten klargemacht, dass man in diesem Land kein Bein auf die Erde bekommen würde, wenn man nicht an die Partei und das System glaube und dafür eintrete.“

Sehr geehrter Herr Sauer, darf ich Ihnen unbekannterweise schreiben, dass ich auch mal jung war und kaum glauben kann, dass Sie als junger Mensch, der immerhin eine DDR-Oberschule besucht hatte „Angst und Schrecken“ verspürt haben wollten, ich hätte eher eine Haltung erwartet: Das lassen wir über uns ergehen./Das können die sich sparen./Wieder dieser rote Mist. Oder so etwas Ähnliches, aber Angst und Schrecken? Gut, Sie mögen so ein ängstlicher vorausschauender Typ gewesen sein, aber ist es nicht anmaßend von Ihnen, hier das ICH durch ein WIR zu ersetzen, ohne es näher zu bestimmen?
Die Interviewer müssen gespürt haben, hier lässt einer womöglich zu viel gewollten politischen Dampf ab und sie fragen: „Sie waren schon mit 25 Jahren Doktor. Wie haben Sie das geschafft?“ Man ist geneigt zu ergänzen – trotz aller Angst und allen Schreckens.

Als Antwort fällt dem Herrn Professor nur ein, dass er Glück gehabt habe. Dass dieses Glück nicht nur er hatte, sondern eine ganz beachtliche Gruppe von ausgezeichneten Studenten und Studentinnen, verschweigt er: „Abitur mit Facharbeiterbrief und eine Hochschulreform“ in seinem Immatrikulationsjahr. Richtig: In der DDR wurde damals ein Forschungsstudium eingeführt, in dem man „sofort nach vier Jahren Studium und Ablegen der Hauptprüfungen in die Promotion einsteigen konnte.“ Ein Novum, das sich im Laufe der Zeit bewährt hat. Doch dazu kein Wort: halt nur ein Glücksfall. Oder soll ich die Passage so lesen: Das Forschungsstudium ein Glücksfall in der DDR?
Gewiss, eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer, aber in diesem Blog hier kommt eine ehemalige Forschungsstudentin zu Wort. Sie hat ein solches Forschungsstudium, das ja vergleichsweise gut bezahlt wurde, auch als Glücksfall empfunden, aber kann es im Gegensatz zu Prof. Sauer unvoreingenommen gesellschaftlich verorten. Es war halt ein Ergebnis der III. Hochschulreform, und kam nicht nur SED-Mitgliedern zugute und natürlich auch solchen Studierenden, die sich nur loyal verhalten haben. Ich denke mal, dass Herr Sauer ein solches Verhalten gezeigt hat. Dieses Verhalten aber mit dem des Schauspielers,Regisseurs und Intendanten Gustaf Gründgens, wie es in István Szabós Verfilmung von Mephisto (Roman von Klaus Mann) gestaltet ist, zu vergleichen, ist für mich schon problematisch, weil die DDR kein faschistischer Staat war. „Der Protagonist war ein deutscher Schauspieler, und er wollte es auch bleiben. So war es auch bei mir: Man ist Wissenschaftler und steht vor der Frage, wie viel man tun muss, um Professor an der Universität oder Abteilungsleiter in der Akademie zu werden. Ich muss nicht unbedingt Personalverantwortung haben – das ist mir eher unangenehm. Aber ich wollte auch niemanden haben, dem ich Rechenschaft schulde in den nicht-formalen Dingen.“ (https://www.berliner-zeitung.de/29338036 ©2018) Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Abteilungsleiter an der Akademie der DDR soll in „nicht-formalen Dingen“ nicht mehr zu Rechenschaft gezogen worden sein. Schön wär’s gewesen!
Wer sich mit der Entwicklung (Abwicklung?) im Hochschulbereich in den Zeiten der Wende eine wenig befasst hat, weiß natürlich, dass sich einige Professoren neben den tatsächlich Oppositionellen inszenierten. Ich will Herrn Sauer nicht unterstellen, dass er sich nicht oppositionell betätigt hat, aber zu behaupten, er habe einen „Hammer“, wenn auch „kleinen“, heraushängen lassen und dann nicht mal mehr zu wissen, worin dieser konkret bestand, finde ich schon kläglich.
Ja, es war furchtbar, wenn Wissenschaftler nach einem SED-Parteitag aufgefordert wurden, zustimmende ‚Jubelkommentare’ abzugeben. Ich fühle das heute noch nach. Selbst wenn man davon absieht, dass man sich da auch mit viel Geschick gelegentlich herauswinden konnte, bleibt dieses Ansinnen einfach hirnrissig. Prof. Sauer beugte sich dem Zwang, baute aber einmal eben einen „kleinen Hammer“ ein. Ehre, wem Ehre gebührt, nur wenn sogar das emotionale Gedächtnis ihn verlässt, können sich beim Leser schon Zweifel einstellen:
„Wissen Sie noch, was dieser ‚Hammer‘ war? fragen die Interviewer. „Ich habe den Text leider nicht mehr, ich habe ihn schon oft gesucht.“ Keine Frage, je älter man wird, desto mehr sucht man, obwohl man normalerweise kein Suchender mehr ist. Seine Erinnerungsstücke bleiben ohne den authentischen Text vage und nur bedingt verdächtig, weil er die Brisanz seines „Hammers“ nicht mal andeutungsweise in seiner Erzählung einsichtig machen kann. Überhaupt fragt man sich, für welche Öffentlichkeit ist dieses Interview eigentlich gedacht.

Auch die Andeutungen über seine Begegnungen mit der Stasi bleiben vage, bestenfalls kafkaesk, aber gut, die Stasi war eine undurchschaubare Übermacht, wer wollte dies in Frage stellen. Nicht in Frage stellen möchte ich indes den Verdacht, dass es selbstredend Bestrebungen ausländischer Geheimdienste gab, den BND eingeschlossen, herausragende Wissenschaftler aus der DDR abzuwerben. Durchaus denkbar, dass man den großen Wissenschaftler Sauer auf dem Schirm von Geheimdiensten hatte. Überhaupt werden bestimmte Problematiken sehr oberflächlich, aber im Trend liegend angerissen. Eine unselige Praxis war die Qualifizierung als Reisekader, der Schreiber kann davon auch ein schlimmes Lied singen, aber er hat in diesem Blog einzelne Strophen dazu veröffentlicht. Wie sollen heutige Lesende den Begriff Reisekader verstehen. Selbst mir als Eingeweihtem bleibt einiges im Falle von Herrn Sauer unklar. Offensichtlich durfte der Interviewte ins sogenannte sozialistische Ausland reisen, aber nicht ins nichtsozialistische, sprich in den Westen, allerdings ab September 1988 schon. Wie denn nun? Wir, die Leser, erfahren nicht, warum diese Erhebung in den Adelsstand eines Westreisenden auf einmal erfolgte. Jedenfalls so viel ist unumstritten: Wer in der Opposition in der DDR war, bekam diesen Reiseadelstitel bis zum Ende der DDR nicht.

Wie es auch sei, es kann nur zu Ihrem Nutz und Frommen sein, Herr Prof. Sauer, wenn Sie sich mit Ihrem Freundkollegen Rudolf Zahradnik einig waren, „dass dieses System untergehen muss.“ Ehrlicherweise geben Sie zu, Sie hätten nicht zu hoffen gewagt, dass es zu Ihren Lebzeiten passieren könnte. Ich übrigens auch nicht, Kanzler Kohl und viele andere ebenso nicht. Da waren Sie beide beileibe nicht die einzigen, die solche Gedanken hegten. Aber ist es nicht eigentlich anerkanntes Ideengut: Alles fließt, nichts ist ewig. Oder auf ein Gebiet bezogen, auf dem ich gearbeitet habe:“Eine Kultur, die sich nicht länger verändert, ist tot.“ (François Jullien, französischer Philosoph)
Jedes gesellschaftliche System geht irgendwann zu Ende, indem es sich verändert – wie auch immer, auch das gegenwärtige hat keinen Ewigkeitsbestand, wenngleich uns die Volksparteien mit ihren Journalisten dies suggerieren wollen. Wenn man den führenden Zeitschriften glauben darf, erleben wir gegenwärtig den Niedergang des „Merkel-Systems“, was immer man darunter verstehen mag. „Selbst wenn Merkel sich jetzt noch einmal in eine schwarz-rote Regierung rettet: Ihre Zeit neigt sich unweigerlich dem Ende zu. So wie vor 30 Jahren die Zeit des Kommunismus. Und knapp zehn Jahre später die von Kohl.“ (Ludwig Greven, ZEIT ONLINE 14. Jan. 2018). Aber das nur nebenbei.
Freilich für den Untergang des gesellschaftlichen Systems der DDR gab es natürlich ganz andere und weitaus zwingendere Argumente. Sie, Herr Sauer, hatten und haben gute Gründe dafür, dass das Hochschul-, das Wissenschaftssystem der DDR untergehen musste. Das ist Ihr gutes Recht, aber dass Sie im Gegensatz zu vielen Intellektuellen aus Ost und West die Säuberungsaktionen nach der Wende mit keinem Wort für erwähnenswert halten, geschweige denn problematisieren, überhaupt jedwede kritische Stimme zum Vorgehen bei der „Wiedervereinigung der Wissenschaft nach dem Mauerfall“ ignorieren, zeigt nur, dass Sie sich politisch eindeutig einseitig positioniert haben. Das geht so weit, dass Sie Ihre Akademiezeit indirekt schlechtreden. „Erst nach der deutschen Einheit konnte ich an die Humboldt-Universität zurückkehren, wo ich 1993 zum Professor berufen wurde.“ Die Akademie der DDR als Hinderungsgrund für eine universitäre Karriere, das habe ich trotz meines relativ langen Lebens noch nicht gehört. Ich kenne einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die ihre Berufung in die Akademie der Wissenschaften als Wertschätzung auffassten – eigentlich will mir so gar niemand einfallen, der es nicht so sah – und nicht selten froh waren, dass sie sich dort weniger mit Studierenden ‚herumplagen‘ mussten und sich mehr mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten befassen konnten. Sie mögen gezwungen worden sein, Mitglied der Akademie zu werden, aber das wäre ein Ausnahmefall. Selbstredend hätte man der Öffentlichkeit nur mitteilen können: Die Akademie der DDR wurde abgewickelt und einige Mitarbeitenden der Akademie fanden an der Humboldt-Universität ihre neue Wirkungsstätte. Basta.
Ach, rufen Sie doch einfach z.B. das Buch von Bednarz auf, das in diesem Blog vorgestellt ist, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Zugleich kann ich den beiden Interviewern nicht den Vorwurf ersparen, dass sie nicht nachfragten, vor Ehrfurcht erstarrt vielleicht.

Dabei will ich nicht übersehen, dass Prof. Sauer das bundesrepublikanische Hochschul- und Wissenschaftssystem durchaus kritisch betrachtet und so z.B. „ein klares Bekenntnis zum Leistungsprinzip“ vermisst, ohne freilich aufzeigen zu können, woran es liegt. An Nachwirkungen des SED-Regimes wird er wohl weniger gedacht haben, mal davon abgesehen davon, so richtig ausgehebelt war das Leistungsprinzip in der DDR ja auch nicht. Dafür sind Sie selbst ein hervorragender lebender Beweis.

Das trifft auch für Ihre ‚populistische‘ Kritik an der Bologna-Reform zu. So reizvoll Ihre Charakterisierung – sie sei „zu einem Hexen-Einmaleins geworden“ – sein mag, sie geht einfach am Kern vorbei, wenngleich ich die Fehlentwicklungen dabei sehe. Gern bin ich bereit, Ihnen zu erklären: warum. An dieser Stelle jedoch fehlt der Platz, meine Anmerkungen überschreiten vielleicht schon das gegebene Formatmaß: Anmerkungen.
Spätestens hier also: ENDE

  1. Mark permalink
    Februar 6, 2018

    hallo Martin,
    immer ein Vergnügen, deine Blogs zu lesen. Mich fasziniert dein fantastischer Umgang mit der deutschen Sprache und die nachvollziehbare Logik deiner Ausführungen. Hat es irgendwelche Kommentare zu deinem Sauer-Aufsatz gegeben? M.E. ist das Verhalten von Prof. Sauer typisch für unzählige andere Wissenschaftler, Künstler oder Ärzte, denen es in der DDR mehr als gut ging. Im gewissen Maße auch nachvollziehbar und verständlich. Jeder versuchte, irgendwie Fuß zu fassen Schlimmer für mich Gunther Emmerlich. Ich habe hautnah erlebt, wie er aber auch Kurt Masur dem Generalsekretär der Sozialistischen …… und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR in den A… gekrochen ist. Unerträglich ihre Kommentare nach der Wende.
    Gruß Mark

  2. Martin Löschmann permalink*
    Februar 6, 2018

    Leider nein, wie du sehen kannst.
    Martin

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