Skip to content

Ganz persönliche Gedanken zum Brexit

2016 27. Juni
von Martin Löschmann

Ich werde gefragt, was ich als Experte denn von dem Brexit hielte.
Na, wohl kaum. Der sei ich eher nicht.
Wie auch immer: Auf jeden Fall kennst du England besser als ich

Ich muss gestehen, als vermeintlicher England-Experte habe ich kläglich versagt, denn ich war geradezu stoisch davon überzeugt: Great Britain will remain, schließlich habe ich wie einst Theodor Fontane erfahren, dass Engländer sehr gut rechnen können. Doch offensichtlich wurden sie da jetzt von den Schotten und den Nordirländern übertroffen. Ob die ‚älteren Brexitanhänger‘ und ‚die vom Lande‘ daran gedacht haben, dass Great Britain nun endlich doch auseinanderbrechen könnte?

Ich war ja in den 90er Jahren ein Nutznießer der EU im besten Sinne des Wortes, warum sollte ich den Brexit nicht bedauern? Im Übrigen bin ich der Meinung: Zur europäischen Union gibt es letztlich keine Alternative. Keine Frage ist: Es muss nicht diese, es darf nicht die heutige sein.

In meinen „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ steht, wie ich nach der Wende nach Kingston upon Thames kam. Eben über ein EU-Projekt (Tempus) unter Federführung der Kingston University in London.

Wir schreiben das Jahr 92 und ich bin auf dem Wege in die Arbeitslosigkeit. Da kommt mir – eben noch an der Uni Leipzig – das Mitwirken an einem EU-Projekt „zur Förderung europäischer Kommunikationsfähigkeit“ zupass. Es hat konkret die Vermittlung und Aneignung der Fachsprache Medizin zum Ziel, weshalb sich das Projekt zuerst auf den Fachsprachenunterricht an der Uni Leipzig/Herder-Institut und an der Budapester Semmelweis-Universität konzentriert, ein Jahr später wurde die Medizinische Universität in Varna einbezogen.
Am Rande bemerkt: Was für eine Freude, als es in diesem Jahr (2016), also nach 18 Jahren, im Rahmen eines EU-Mobilitätsprojekts des IIK Ansbach ein Wiedersehen mit damaligen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gab.
Sollte sich jemand für das alte Projekt interessieren, verweise ich auf die vom DAAD herausgegebenen Success Stories (Bonn 1992), in dem ich darüber berichtet habe.

Man mochte sich fragen, weshalb gerade die „School of Languages“ die Federführung seinerzeit bekam. Schon bei diesem Projekt zeigte sich nämlich eine Schwäche des EU-Managements, ein hoher bürokratischer Aufwand, den man erst einmal begreifen und bewältigen musste. Aber das ändert nichts am Segen des gemeinsamen Unternehmens für alle Beteiligten – auch für die Briten.

Die Schwäche bestand für mich damals darin, dass eine Institution die Federführung bekam, die mit dem fachlichen Gegenstand des Projekts anfänglich wenig zu tun hatte. Halt eine Aushandlung von Politmanagern.
Der berühmt gewordenen Kommission, die die grüne Gurke in Brüssel geradeziehen wollte, hätte man allerdings von vorneherein die Ohren langziehen müssen.
Doch von dieser Problematik abgesehen, die übrigens durch Verringerung, ich schreibe nicht durch Abschaffung der sich allmählich immer höher auftürmenden Bürokratie zu beseitigen sein sollte, handelte es sich wirklich um ein für alle Seiten ertragreiches Unternehmen. Wir haben gemeinsam etwas daraus gemacht. Und ich persönlich fand mich schließlich im Gefolge der Aktion über eine aufwändige Bewerbungstour als Reader an der Kingston University.

Kaum zu glauben, solche und andere Projekte unter Beteiligung des United Kingdom wird es wohl vorerst nicht mehr geben, wirklich schade.

Trotz meines Versagens als das Brexit-Votum voraussehender Experte bleibe ich dabei: ein Rückschritt, eine rückwärtsgewandte Entscheidung, keine Revolution, eine Rückkehr zum sich isolierenden Inselbewusstsein. Dass die ältere Generation und die vom Lande vor allem für den Ausstieg plädierten, macht für mich – einen alt gewordenen Deutschen und vom Lande Herkommenden – die Sache nicht besser. Ich kann mich mit ihnen nicht solidarisieren, denn sie haben aus meiner persönlichen Sicht die falsche Entscheidung getroffen. Aber das ist noch lange kein Grund, von Deutschland aus Altersdiskriminierung zu betreiben, wie sie deutsche Medien gegenwärtig veranstalten. Alte und Deppen vom Lande haben die rückwärtsgerichtete Entscheidung bewirkt. So schürt man einen Generationskonflikt im fremden Lande und verunglimpft die Leute vom Lande.

Wenn ich einerseits die älteren ‚Pro-Exiter und -Exiterinnen‘ nicht so recht verstehen kann, so kann ich natürlich nicht übersehen, dass auch sie wie Wähler vom Lande gute Gründe auf ihrer Seite haben, die nicht einfach übergangen werden können.

Der venezianische Botschafter Andrea Travisana schrieb 1497 „Sie glauben nicht, dass es andere Menschen als sie selbst oder eine andere Welt als England gibt. Wenn sie einen attraktiven Ausländer sehen, sagen sie, dass er wie ein Engländer aussehe, oder sie bedauern, dass er kein Engländer sei.“ (zitiert nach „Der Engländer an sich“ – http://www.sotscheck.net/leseproben/englandbuch.html)
Das kann man bis heute beobachten, wenn auch nicht durchgehend, aber doch hier und da und z.T. unterschwellig. Das einfach zu ignorieren und gar zu versuchen, Engländer zu disziplinieren und ihnen eine gerade Gurke als Maß aller im Königreich angebauten Gurken offerieren zu wollen, kann nicht klappen. Schon gar nicht dürfen dabei Deutsche das Sagen haben. Sie genießen ohnehin den Ruf, alles besser wissen und andere ständig zu ihrem „Ordnungssinn“ bekehren zu wollen. Dazu kommt, die ältere Generation hat nicht vergessen und kann nicht vergessen, dass einst Deutsche sie angegriffen, Bomben abgeworfen und Raketen auf ihr Land gerichtet hatten.
In Deutschland machte und macht man sich lustig über TV-Filme über den 2. Weltkrieg, die die Zeit von 35 bis 45 reflektieren und in denen die Deutschen schlecht bei wegkommen: Sie organisieren alles perfekt, sind gehorsam, und die schlauen Engländer legen sie mit einfachsten Finten herein. Ich weiß nicht, ob die Filme heute noch gespielt werden, aber im Bewusstsein der älteren Generation sind die damaligen Ereignisse auf jeden Fall wirksam. Ein Beleg dazu aus meinen Erinnerungen:

„Auf einer Party mit Mrs. Elvin werde ich einem relativ jungen Mann vorgestellt. Er fragt mich ziemlich unverblümt, auf keinen Fall trunken, in gutem Deutsch, ob ich einen älteren Bruder habe. Ich bejahe es und schon schießt es snobistisch giftig aus ihm heraus: „Dann war er bestimmt in der Naziarmee und hat gegen uns gekämpft.“ Verabschiedet sich, zitiert aus Löns martialischem Englandlied „wir fahren, denn wir fahren,/Denn wir fahren gegen Engeland, Engeland“ und verschwindet im Party-Getümmel. Der Krieg der Deutschen ist immer noch gegenwärtig, nicht nur im Film und Fernsehen.“

Unsere Kanzlerin blendet dies und anderes aus, sonnt sich in ihrer deutschen Willkommenskultur für Flüchtlinge. Oh, liebe Flüchtlinge, oh, kommet nur. Und sie kamen ja auch zuhauf (ohne Obergenze!). Als Deutschland aus den Kapazitätsnähten platzte, wurde die europäische Reißleine gezogen: Alle EU-Länder müssen Flüchtlinge aufnehmen, natürlich auch das Königreich. Doch wer mal in Great Britain war, weiß natürlich, dass dieser Staat unübersehbar bereits einen hohen Ausländeranteil hat, auch aus den EU-Ländern, gar nicht zu schreiben von dem Anteil mit ‚Migrationshintergrund‘. Wer wollte da nicht verstehen: Enough is enough, Brüssel. Eine Quittung geht bestimmt in diese Richtung, wenngleich auch Frau Merkel sie nicht wird akzeptieren wollen.

  1. M. T. permalink
    Juni 28, 2016

    Es ist wohl nicht falsch – wie in deinem Beitrag – zu betonen, dass der Brexit keine nur rationale Entscheidung der Briten war. Wenn man sich an die Aussage von Ludwig Erhard erinnert, dass 50 Prozent der Wirtschaft Psychologie sei, dann gilt das mindestens genauso für die Politik. Die breite Masse orientiert sich bekanntlich bei politischen Willensbekundungen weniger an ökonomischen Kennziffern als an der individuellen Soziallage und ihrer persönlichen Perspektive und die sind nun mal sehr unterschiedlich, wenn man bedenkt, dass das Wirtschaftssystem viele Gewinner, aber eben auch nicht wenige Verlierer produziert. Und je mehr es werden, desto unübersehbarer drücken sie politischen Wahlen ihren Stempel auf. Und erst dann bricht die gern unterstellte Gemeinsamkeit der Interessen in der Bevölkerung auf. Das wurde vor dem Brexit offenkundig, als Finanzfachleute die britischen Arbeitslosen in ihrem Wahlverhalten mit dem Argument zu steuern versuchten: „Ihr habt durch den Austritt viel zu verlieren“, sich dann aber die selbstbewusste Reaktion anhören mussten: „Nein, ihr habt viel zu verlieren.“ So zu lesen in einem Artikel der SZ , dessen Autor Raymond Geuss ist, Prof. em. an der Universität Cambridge. Und Geuss stellt auch heraus, dass auf der einen Seite die hoffnungslose Massenarbeitslosigkeit in den Midlands als Fakt eine Rolle beim Brexit gespielt hat, nicht weniger aber die xenophobe Mentalität vieler gutsituierter Briten, die gern von sich sagen: „Wir waren nie Europäer, wir sind auch jetzt keine Europäer, und wir wollen niemals Europäer werden.“ Diese Mentalität habe ich selbst während meines Englandaufenthaltes in mehr oder weniger verklausulierter Form nicht nur einmal gehört. Was der Brexit aber wieder deutlich gezeigt hat, ist die Bestätigung eines alten Sprichwortes: ‚Man soll die Rechnung nicht ohne den Wirt machen‘. Vielleicht denken jene deutschen Politiker gelegentlich daran, die sicher zu wissen meinen, wie eine ähnliche Volksabstimmung in Deutschland ausgehen würde. Im Brexit äußerten sich auch Zweifel am vermeintlichen Siegermodell Kapitalismus, Gründe dafür gäbe es hier genauso.

  2. Martin Löschmann permalink*
    Juli 4, 2016

    Meldung:

    Deutschland:
    Der Export von Kriegswaffen verdoppelte sich im vergangenen Jahr, also im Vergleich der Jahre 2014 und 2015.

    Zum Gedenken an Elie Wiesel,

    geboren am 30. September 1928 in Sighetu Marmației, Rumänien; gestorben am 2. Juli 2016 in New York City, rumänisch-US-amerikanischer Schriftsteller, Hochschullehrer und Publizist. Als Überlebender des Holocausts verfasste er zahlreiche Romane und sonstige Publikationen zu diesem Thema und erhielt 1986 den Friedensnobelpreis für seine Vorbildfunktion im Kampf gegen Gewalt, Unterdrückung und Rassismus“ (Wikipedia):
    .
    Ein Zitat aus seiner Rede am 5. Juni 2009 in der Gedenkstätte Buchenwald, in der er am 11. April 1945 von der amerikanischen Armee befreit wurde.

    „Viele von uns waren damals davon überzeugt, dass wenigstens eine Lektion gelernt worden wäre, nämlich dass es nie wieder Krieg geben würde, dass der Hass nichts mehr sei, was sich die Menschen zu eigen machen, dass Rassismus etwas Dummes sei, dass man nicht mehr versuchen würde, in die Gehirne anderer Menschen oder in die Hoheitsgebiete anderer Menschen einzudringen, dass all dies völlig bedeutungslos werden würde. Ich hatte solche Hoffnungen. Paradoxerweise hatte ich große Hoffnungen. Viele von uns hatten sie, obwohl wir im Grunde genommen jedes Recht hatten, unsere Hoffnung in die Menschheit, die Kultur und die Zivilisation aufzugeben, die Hoffnung, dass man sein Leben in Würde in einer Welt beschließen würde, in der es keine Würde gab. Aber diese Möglichkeit haben wir von uns gewiesen. Wir haben gesagt: „Nein, wir müssen doch versuchen, weiterhin an eine Zukunft zu glauben, weil die Welt ihre Lektion gelernt hat.“ Aber das hat die Welt eben leider nicht. Hätte die Welt ihre Lektion gelernt, hätte es kein Kambodscha, kein Ruanda, kein Darfur und kein Bosnien gegeben. Wird die Welt je lernen?“
    (Quelle: http://www.bundeskanzlerin.de)
    Die Aufzählung wäre leider leicht fortzusetzen: Irak, Syrien …

  3. A.R. (London) permalink
    Juli 19, 2016

    … Nun habe ich grosse Sorge, was aus dem Land wird.

    Was ich so in den Medien hoere und lese, so gibt es hier Leute, die sich nichts von Bruessel vorschreiben lassen wollen (auch nicht, wie viele Migranten sie nehmen muessen), die glauben, das die Eurozone am auseinanderbrechen ist (dass Griechenland, Spanien, Portugal alle mit runterziehen). Fuer die sieht es so aus, als ob es nur Deutschland noch gut geht.

Kommentar schreiben

Info: Benutzung von einfachem XHTML (strong,i) erlaubt. Die E-Mail-Anschrift wird niemals veröffentlicht.

Kommentar-Feed abonnieren