11. Band der Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion
Janek Scholz / Marvin Wassermann / Johanna Zahn (Hrsg.): DaZ-Unterricht an Schulen. Didaktische Grundlagen und methodische Zugriffe. Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin 2020. 394 Seiten (= Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion. Hrsg. von Martin Löschmann, Bd.11)
Der Sammelband bündelt theoretische Ergebnisse und praktische Erfahrungen im Bereich DaZ-Unterricht an Schulen, die an der RWTH Aachen University und an anderen Universitäten und schulischen DaZ-Klassen gesammelt wurden. Nach einer Einführung, die die spezifischen Bedingungen des DaZ-Unterrichts skizziert und einen Überblick über die Beiträge des Bandes gibt, informiert ein weiterer Beitrag von Nina Breuer, Janek Scholz und Marvin Wassermann (RWTH Aachen University) über die widersprüchliche Entwicklung der DaZ-Klassen im deutschen Bildungssystem vor dem Hintergrund einer halbherzigen Zuwandererpolitik. Die anschließenden 15 Fachbeiträge sind in 5 inhaltliche Sektionen – einen theoretischen Teil (Sektion 1-3) und einen praktischen (Sektion 4-5) – gegliedert und bedienen folgende Themengebiete: 1. Heterogenität und Binnendifferenzierung, 2. Alphabetisierung und Aussprache, 3. Literatur als Ressource, 4. Methodische Impulse und 5. Übergänge in den Regelunterricht. Ein Vorzug des Bandes ist, dass er nicht in zwei Teile zerfällt, weil auch der ‚Theorie-Block‘ einen deutlichen Praxisbezug (Anwendungsbeispiele, didaktisch-methodische Kommentare oder Unterrichtsentwürfe u.a.) aufweist und somit alle Beiträge von der interessierten DaZ/DaF-Lehrkraft mit Gewinn für die tägliche Unterrichtsarbeit gelesen werden können. Welche Impulse für die praktische Unterrichtsarbeit bieten nun die einzelnen Sektionen? Das kann im Folgenden aus Platzgründen nur exemplarisch vorgestellt werden.
In der ersten Sektion beschreiben Klaudia Hilgers und Hans-Joachim Jürgens (RWTH Aachen University) in ihrem Beitrag über Binnendifferenzierung und kooperative Lehr- und Lernformen fünf verschiedene Beschulungsmodelle für DaZ-Lernende und begründen vor dem Hintergrund des Heterogenitätsparadigmas die Notwendigkeit von „schülerzentrierten Lehr- und Lernformen“, um der inneren Differenzierung der DaZ-Klassen gerecht zu werden. Am Beispiel von Internationalen Förderklassen stellen die Autoren dar, wie kooperative Lehr- und Lernformen einen binnendifferenzierten Unterricht ermöglichen. Nach der begrifflichen Unterscheidung von individualisiertem Unterricht und Binnendifferenzierung werden verschiedene Konzepte für einen binnendifferenzierten Unterricht ausführlich diskutiert und anschließend an zwei konkreten Beispielen detailliert vorgeführt. Die anhand der gängigen Themen „Einkaufen“ und „Freizeitgestaltung“ vorgestellten Unterrichtsentwürfe zeigen, wie eine tief gestaffelte Binnendifferenzierung im Zusammenspiel mit kooperativen Lernformen (Think-Pair-Share, Placemat, Lerntempo-Duett, World-Café, Gallery Walk, Schreibgespräch u.a.) aussieht und individuelles Lernen unterstützen kann. Für eine praktische Umsetzung dieser Ideen sind allerdings vielfach (vor allem in privaten Sprachschulen) zu kleine Räume und die Bestuhlung für 25 TN eine Herausforderung, weil nur frei im Raum aufgestellte Tische einen problemlosen „Tischwechsel“ ermöglichen. Das sollte zumindest bedacht werden.
In der zweiten Sektion widmet sich Anja Böttinger (IIK Berlin) dem Thema Alphabetisierung und Zweitschrifterwerb und legt ihrem Beitrag im Interesse einer angemessenen Diagnostik des Förderbedarfs ein ausdifferenziertes Verständnis der Begriffe „Analphabetismus“ und „Zweitschriftlernende“ zugrunde. Diese begriffliche Differenzierung und die sich daran anschließende Schrifttypologie begründen zum einen die besondere Bedeutung der Phonem-Graphem-Korrespondenz in der lateinischen Schrift für beide Lerngruppen und zum anderen den parallel verlaufenden Zweitsprach- und Schriftspracherwerb als doppeltes Lernziel. Besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf die Ausbildung einer phonologischen Bewusstheit als unabdingbare Voraussetzung für die mündliche Kommunikation und als genetischer Vorausbereich des Schriftspracherwerbs. Da das Lautinventar der Erstsprache häufig für Interferenzfehler in der Zielsprache verantwortlich sei, wird eine Beschäftigung mit den Herkunftssprachen der Lernenden angeregt, außerdem werden gezielte Übungen vorgestellt. Böttinger versteht auch den Lese- und Schreiberwerb als ganzheitlichen Prozess und veranschaulicht die wechselseitige Beeinflussung von Lesen und Schreiben in einem Phasenmodell, woraus sie auch hier eine systematische Übungsabfolge in ihren praktischen Methodentipps ableitet. Der abschließende Überblick über klassische und neuere Methoden der Alphabetisierung stützt ihr Plädoyer für einen Methoden-Mix, der die Erstsprache der Lernenden ebenso berücksichtigt wie ihre Schulerfahrung, und dient als Anregung für einen abwechslungsreichen Unterricht.
In einem ambitionierten Beitrag zum Thema Literarizität und literarisches Lernen in Vorbereitungsklassen spricht sich Janek Scholz (RWTH Aachen University) in der dritten Sektion für eine frühzeitige Einbeziehung von Literatur in den DaZ-Unterricht aus und diskutiert die besonderen Potenzen des literarischen Lernens für den Zweitsprachenerwerb, da literarisches Lernen stets auch sprachliches Lernen sei, wodurch „Sprachreflexion, kreatives Spielen mit der Sprache und eine machtkritische Haltung“ gefördert würden. Als Hilfestellung für die Lehrkraft werden Kriterien für die Textauswahl und Unterrichtsanregungen für die Arbeit mit Gedichten von Ernst Jandl vorgestellt. Dass heutzutage bei der Arbeit mit Literatur „traditionell-hermeneutische Lektürekonzepte“ keine Rolle mehr spielen und von einer prinzipiellen „Unabschließbarkeit des Sinnfindungsprozesses“ ausgegangen wird, sollte für ausgebildete DaZ/DaF-Lehrkräfte selbstverständlich sein. Bereits bei Dietrich Krusche / Rüdiger Krechel: Anspiel. Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache wird der Akzent auf einen „spielerischen Umgang“ mit solchen Texten gelegt, wobei es „nicht um ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern um ein Mehr-oder-Weniger an Spielerfolg“ gehe (S.74).
Im praktischen Teil der vierten Sektion, die sich auch den Neuen Medien und der Sexuellen Bildung widmet, liefert Ute Hermanns (Leopold-Ullstein-Schule OSZ für Wirtschaft, Berlin) konkrete Fallbeispiele für eine Nutzung von visuellen und audiovisuellen Medien an außerschulischen Lernorten. Für eine inklusive Schule sieht sie besondere Chancen im Projektunterricht, der heterogenen Lerngruppen vielfältige Möglichkeiten der Mitwirkung bietet und die Sprach- und Schreibkompetenz fördert, vor allem wenn an die Erfahrungswelt der Lernenden angeknüpft wird. An ausgewählten Projekten wird vorgeführt, wie eine Begegnung mit Kunst, Fotografie und Film organisiert und für eine kreative Beschäftigung genutzt werden kann. Besonders das ausführlich vorgestellte Projekt eines gemeinsamen Besuchs des Films „Fortuna“ im Rahmen des ‚Berlinale Schulprojekts‘ bietet didaktisch-methodische Vorüberlegungen und eine konkrete Verlaufsplanung über mehrere UE mit anschließenden Hinweisen zur Nachbereitung, die von Wortschatzarbeit und Filmanalyse über Tagebuch- und Briefproduktion bis hin zur Herstellung eines Mobiles aus Origami-Tieren und der Textredaktion im Computerraum reichen – ein Projekt also, das wertvolle Impulse für die eigene Unterrichtsarbeit gibt.
Weitere Einblicke in die Praxis finden sich in der fünften Sektion. Angelika Zeevaert (Berufskolleg Alsdorf) zeigt in ihrem Beitrag, wie Binnendifferenzierter Sprachförderunterricht in heterogenen Lerngruppen am Berufskolleg hilft, Lernende beim Übergang in den Regelunterricht individuell zu begleiten. Für einen erfolgreichen Übergang empfiehlt sie, zunächst einige hemmende Faktoren zu beseitigen, d.h. Probleme beim Verstehen des Arbeitsauftrages, beim Umgang mit Leistungs- und Lernaufgaben und einem selbstgesteuerten Lernprozess. Am Beispiel des Themas ‚Beschreibung‘ werden dann Aufgaben mit steigender Komplexität zu verschiedenen Beschreibungstypen vorgestellt und der gezielte Einsatz binnendifferenzierter Arbeitsblätter erläutert. Ein detaillierter Unterrichtsentwurf und der Abdruck sämtlicher Arbeitsblätter machen den abgestuften Lernprozess in dieser Unterrichtsreihe leicht nachvollziehbar und können den eigenen Unterricht stimulieren.
Insgesamt eröffnet der vorliegende Band einen komplexen Zugang zur Theorie und Praxis des DaZ-Unterrichts. Vorausgesetzt wird dabei die Vertrautheit mit kooperativen Lernmethoden des offenen Unterrichts, der individualisiertes, lernerzentriertes und binnendifferenziertes Lernen fördert, zugleich aber „zeitintensiv“ und teils „schwierig zu realisieren“ ist und einen „hohen organisatorischen Aufwand“ erfordert (S.50). Somit lässt der Band keinen Zweifel daran, dass die Umsetzung der angebotenen Unterrichtskonzepte auf der Basis der Heterogenitätsorientierung mit hohen Anforderungen an eine ausgefeilte didaktische und soziale Kompetenz der (sprach-, kultur-, differenz- und fachsensiblen) Lehrkraft verbunden ist. Dass jedoch viele DaZ/DaF-Lehrkräfte selbst Seiteneinsteiger sind, sollte dabei ebenso im Blick bleiben wie die Tatsache, dass die konkreten Unterrichtsbedingungen mindestens so heterogen sind wie die Lerngruppen selbst. Ungeachtet dessen sei dieser Band jeder interessierten DaZ/DaF-Lehrkraft ans Herz gelegt.
Michael Thormann