Die heitere Seite der Linguistik
Band 10 der von Martin Löschmann herausgegebenen Reihe „Deutsch als Fremsprache in der Diskussion“ beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle des Humors im Fremdsprachenunterricht. Er trage zur Schaffung einer heiteren Lernatmosphäre bei, die eine wesentliche Voraussetzung für ein effizientes Lernen sei. Ähnliches dachte sich wohl auch der Verfasser eines Buches zur Geschichte der Sprachwissenschaft, in dem ebenfalls der „Sprache als Quelle von Humor“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Alwin Frank Fill: Linguistische Promenade – eine vergnügliche Wanderung durch die Sprachwissenschaft von Platon zu Chomsky. Wien 2013
Es gehört vermutlich nicht zum Allgemeinwissen, dass der Marathonlauf als olympische Disziplin einem Sprachwissenschaftler zu verdanken ist. Diese Idee hatte Michel Bréal, der als Mitglied des französischen olympischen Komitees von 1896 nicht nur den Silberpokal dafür stiftete, sondern als Begründer der Semantik auch ein bedeutender Linguist war. Ebenso wenig liegt auf der Hand, warum in einer Gesprächsrunde die Frage: „Wie geht’s deiner Frau?“ freundliches Interesse, für andere aber auch eine Warnung bedeuten kann. Näheres darüber bietet das vorliegende Buch und man nimmt es dem Autor von Beginn an ab, dass er für seinen Gegenstand brennt und versucht, den Kreis der Interessenten über die Fachwelt hinaus zu erweitern, indem er die unterhaltsame Seite seines Faches aufblättert und dem Leser einen lockeren Zugang zur Themenvielfalt der Sprachwissenschaft eröffnet. Wie notwendig das sei, zeige sich darin, dass beim Wort ‚Sprachwissenschaft‘ meist nur an zwei Themen gedacht werde: „Fremdsprachenunterricht und korrekter Sprachgebrauch“. Das will Alwin Frank Fill ändern und bietet mit seiner Darstellung einen kurzweiligen Einblick in die Geschichte der Sprachwissenschaft, stellt ihre wichtigsten Theorien und Vertreter vor, diskutiert die Wirkung von Sprache in der menschlichen Kommunikation und schließt mit einem Kapitel über die Tierkommunikation.
Wenn er mit Platon beginnt, dann u.a. wohl auch deshalb, weil dessen Gedanken über die manipulatorische Kraft der Sprache hochaktuell sind und in der Sprachkritik eines Ernst Cassirer und Fritz Mauthner (nicht Konrad sic!) fortwirkten. Grundlegend dafür waren auch die Erkenntnisse der englischen Empiristen (F.Bacon, J.Locke u.a.), die vor einem unkritischen Sprachgebrauch und der Illusion warnten, immer verstanden zu werden, weil die Wörter durch ihre Mehrdeutigkeit täuschen können.
Die von F.Bacon entwickelte induktive Methode als Basis jeder wissenschaftlichen Erkenntnis wurde auch von der Sprachwissenschaft aufgegriffen und ebnete bahnbrechenden Entdeckungen den Weg, z.B. der Entdeckung von Sprachfamilien mit einer gemeinsamen Ursprache durch William Johns, deren wissenschaftliche Bedeutung neben die Entdeckungen von Galilei oder Darwin gestellt wird. Johns Entdeckung von 1786 markierte nach Fill eine „neue Ära der Sprachwissenschaft“ (F.Schlegel, F.Bopp, A.Schleicher), in der durch den Vergleich der europäischen Sprachen nach gemeinsamen Vorfahren gesucht wurde. Leider fehlt an dieser Stelle ein Hinweis darauf, wie problematisch das war, denn – so schreibt Victor Klemperer – „die Konstruktion des arischen Menschen wurzelt in der Philologie und nicht in der Naturwissenschaft.“
Wie Sprache die jeweilige Kultur und die Weltsicht der sie Sprechenden prägt, geht auf Überlegungen W.v.Humboldts zurück und beeinflusste im 19. Jh. die Entstehung der Völkerpsychologie durch H.Steinthal wie auch der amerikanischen Ethnolinguistik. Es ist spannend zu verfolgen, wie differenziert ihre Vertreter (F.Boas, E.Sapir, B.Whorf) die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit beantworten, also was primär und was sekundär ist. Am Ende stand die extreme Position des Whorf’schen Sprachdeterminismus, der davon ausgeht, dass sich jede Sprache mit ihren Kategorien ihre eigene Wirklichkeit schafft. Das heißt, unser Denken ist eine Folge der Grammatik und Lexik unserer Muttersprache, teils mit verheerenden Folgen. Auch wenn Whorfs Theorie heute höchstens noch als ‚light-Version‘ vertreten werde, so deutet sich hier an, wie der Sprache später, etwa im Dekonstruktivismus oder Postmodernismus, wieder eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird, die Steven Pinker als „extrem übersteigert“ bewertet.
Zunächst wurde das Denken über Sprache im 20. Jh. jedoch durch F. de Saussure und L.Wittgenstein geprägt. Fill übernimmt von Saussure die Erklärung des Begriffs Strukturalismus anhand eines Vergleichs mit dem Schachspiel und zieht dann die Linien der folgenreichen Wirkung von Saussures Ansatz, die vom Prager Strukturalismus, der Textlinguistik, dem dänischen und amerikanischen Strukturalismus bis hin zur französischen Denkschule eines Barthes, Foucault, Lacan und Derrida reichen. Dabei widmet Fill dem amerikanischen Strukturalismus (Bloomfield) ein eigenes Kapitel und betont, wie wichtig der sich daraus ableitende Behaviorismus (Skinner) für die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts war. Während für beide Theoretiker die Bedeutung der Wörter höchstens eine untergeordnete Rolle spielte, wurde in anderen Theorien ein Aufschwung der Semantik sichtbar, etwa in der Wortfeldtheorie von J.Trier, der Prototypensemantik von E.Rosch und im Konstruktivismus (P.Watzlawick u.a.). Wie der Behaviorismus hatten diese Ansätze eine enorme Bedeutung für die Fremdsprachendidaktik und finden teils heute noch ihren Niederschlag in modernen Lehrwerken. Das gilt ebenso für die Pragmatik, u.a. die Sprechakttheorie (J.Austin, J.Searle), deren Einfluss auf das mündliche Prüfungsformat von Fremdsprachenprüfungen mit den Händen zu greifen ist.
Fill widmet sich zudem auch der feministischen Sprachkritik und lässt dabei einem ihrer Vorläufer, Otto Jespersen, Gerechtigkeit widerfahren. So amüsant aus heutiger Sicht die von Fill angeführten Zitate auch sind, so modern war sowohl Jespersens Beschäftigung mit Geschlechterstereotypen zu seiner Zeit als auch die grundlegende Frage: angeboren oder nicht? Weiterführende Studien (D.Cameron, L.F.Pusch u.a.) bauten darauf auf. Inzwischen gilt die Annahme, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in der Kommunikation von Frauen und Männern, wie sie auch von Deborah Tannen beschrieben wurden, mit einer unterschiedlichen Vernetzung beider Gehirnhälften zusammenhängt, als wissenschaftlich überholt. Den Untersuchungsergebnissen des Neurobiologen Lutz Jäncke zufolge gibt es kein typisches Männer- und Frauengehirn.
Nach einem weiteren Kapitel über den Sprachgebrauch im Kontext von Liebe und Sexualität stellt Fill den Beitrag von Noam Chomsky für die Sprachwissenschaft vor. Seine Universalgrammatik richtete sich nicht nur gegen den Behaviorismus, sondern auch gegen den Konstruktivismus eines J. Piaget und gehört immer noch zu den wichtigsten Paradigmen der Gegenwart. Chomskys revolutionäre These war, dass relevante grammatische Strukturen angeboren sind, was Kindern einen schnellen Spracherwerb ermöglicht, während Piaget davon ausging, dass die Grammatik in der Auseinandersetzung mit der Umwelt ‚konstruiert‘ werde. Inzwischen ist auch hier die Wissenschaft weiter. Die neuere Hirnforschung (Angela Friederici, Language in Our Brain, Cambridge, Mass., 2017) scheint nun erstmals Chomskys Theorie, dass Sprache keine soziale Fertigkeit, sondern eine angeborene kognitive Fähigkeit ist, empirisch zu bestätigen. Friederici fand heraus, dass ein Bündel Nervenfasern die Kooperation zwischen dem Broca-Areal (zuständig für die Grammatik) und dem Wernicke-Areal (zuständig für die Lexik) in unserem Gehirn steuert, wodurch erst eine Entschlüsselung komplexer syntaktischer Strukturen möglich wird. Bei Affen sei dieses Faserbündel nur sehr schwach vorhanden und auch bei neugeborenen Kindern noch nicht voll funktionsfähig. Es reife in dem Maße, wie Kinder ihre Fähigkeit ausbilden, grammatisch komplexe Sätze zu verarbeiten. Damit sei mit diesem Faserbündel ein Schaltkreis gefunden, der biologisch festgelegt sei und mit dessen Hilfe lange, komplexe Sätze gebildet werden können. Chomskys Theorie wird damit bestätigt. Die Diskussion um die Universalgrammatik bleibt also spannend.
Was macht Fills Buch nun vergnüglich? Kurz: Stil, Themen und Layout. In einer unakademischen Sprache führt er in die verschiedenen Kapitel ein und verzichtet auf einen Anmerkungsapparat. Dabei präsentiert er die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer situativen oder anekdotischen Umrahmung anhand von anschaulichen Beispielen, Abbildungen und Textsorten (Zitate, Dialoge, Gedichte). Je nach Leser sorgen sicher auch bestimmte Themen, wie ‚Sprache als Quelle von Humor‘ und ‚Sprache als Aphrodisiakum‘ für besondere Erheiterung. Schließlich unterstützt ein attraktives Layout mit eigens angefertigten Porträtzeichnungen vieler Wissenschaftler und durch Fettdruck hervorgehobenen Schlüsselwörtern die leichte Lesbarkeit des Buches.
Bücher zur Geschichte der Linguistik sind nicht gerade dicht gesät, und solche, die das auf eine möglichst unterhaltsame Weise versuchen, gibt es kaum. Wen das Thema interessiert, der findet hier eine Fülle von Informationen (nebst Glossar) und Zugängen (nebst Bibliographie), die zur individuellen Vertiefung einladen.