Was fang‘ ich an mit der Liste der 1000 reichsten Deutschen?
In Anlehnung an Theodor Storm:
Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen?
Seit Wochen liegt auf meinem Schreibtisch „Das deutsche Wirtschaftsmagazin Bilanz“ vom September 17. Eine sicherlich reich betuchte Dame, mit einem womöglich mit Diamanten bestückten schwarzen Halsband hoch dekoriert, lächelt mich an. Ihr mich süffisant anmutendes Lächeln interpretiere ich als Aufforderung, das Magazin aufzuschlagen und mir die Reichen und Schönen Deutschlands näher anzusehen. Ohne eine Schönheit auf dem Titelblatt geht es wohl mehr. Doch auf den betreffenden Seiten 10 bis 79 findet sich in der Auflistung der 1000 Reichsten kein vergleichbares „Objekt der Begierde“. Die wenigen Fotos Hausmannskost, vorwiegend langweilige Familienfotos, die natürlich aufgewertet werden durch das enorme Kapital, das hinter ihnen steckt. Doch das sieht man nicht, obwohl die Zahlen eine deutliche Sprache sprechen. (Wie heißt es bei Brecht so treffend: „Doch die Zähne sieht man nicht“!)
Klaus Boldt, der Autor der mühevollen Recherchen in Registern, in Archiven, Dokumentensammlungen, bei Vermögensverwaltern, Finanzexperten und Ökonomen hat das Werk vollbracht. Ich zweifele nicht daran, dass die vorgenommenen Schätzungen des jeweiligen Vermögens der Realität zumindest nahe kommen. In verschiedensten Zusammenhängen sind die Vermögensbestände einzelner Personen in den letzten Jahren immer wieder exponiert worden, so dass mein Bedarf an solcherart Informationen eigentlich gedeckt sein müsste. Aber ich habe das Magazin auch nicht sofort weggetan. Warum bloß nicht? Willst du im Papiermüll ersticken, fragt meine innere Stimme.
Nein, nein, das ist es nicht, jeden Tag trage ich genügend Papier, natürlich vor allem Werbung, zum Container. Was also hält dich ab, dich auch von diesem Magazin zu befreien. Die Frage stellt sich umso dringlicher, als ich partout nicht weiß, wie dieses Magazin ins Haus gekommen ist. Ich hab’s nicht bestellt, gekauft, aus dem Briefkasten genommen. Da fällt mir ein, vor Jahr und Tag, nicht doch: genau am 11. Juli 2017 hat mein Freund G. mich so nebenbei überraschen wollen mit der Nachricht: In Deutschland gibt es 123 Milliardäre, vielleicht will ich ihn übertrumpfen mit den 1000 Milliardären und Millionären. Doch er wüsste mit denen auch nichts anzufangen und will das Magazin nicht haben. Und wenn ich ihm gar mit dem Stern käme und ihm verriete: „Eine Analyse der Superreichen zeigt, dass ein Großteil dieser Gruppe sich den Reichtum nicht selbst erarbeitet hat und dass Deutschlands Geldadel nicht in Ostdeutschland leben will“, hätte er auch nur Lächeln für mich. Denn wer hätte schon gedacht, man käme durch eigene redliche Arbeit zu solchem Reichtum. Das passiert schon, aber wie oft? Wer so etwas schreibt und eine solche Erkenntnis auf seine Fahne schreibt, will doch nur verbrämen oder gar vertuschen, in was für einer Gesellschaft wir leben. Oder will jemand diese Liste zu einem Transparenz versprühenden Text deklarieren? Die Millionäre und Milliardäre gehören zur kapitalistischen Gesellschaft wie gebratener Speck zum Rührei, wie Donner zum Blitz, wie das Ei zum Huhn, wie Demut zur Vollkommenheit (Kant).
Martin, wenn du alles schon weißt, wieso lächelt dich die Frau auf der Titelseite rechts neben dir immer noch an? Warum bloß? Es könnte sich ja eine Situation ergeben, wo man sich aus unerfindlichen Gründen fragt, wieviel hat denn der oder die zusammengescharrt, -gerafft, -getragen, natürlich auch einfach nur geerbt oder ehrlich angehäuft. Was werd‘ ich die alle in einen Topf werfen und womöglich für ihre Abschaffung plädieren. Die Liste im Sinne einer Handlungsaufforderung interpretieren, sie zu enteignen oder nur ansatzweise auszutrocknen durch entsprechende Besteuerung, sie in ihrer kapitalen Macht zu begrenzen durch die sich entfaltenden Commens zum Beispiel? Ist das die Intention solcher Veröffentlichungen? Wohl kaum, man müsste sie da erst einmal sortieren, denn es sind ja nicht nur solide Unternehmer, Fabrikanten, Händler, Aktionäre, Manager, Verleger, Rüstungsgewinnler, anderweitig Beteiligte, Spekulanten u.a.m. dabei, sondern auch Künstler wie der Maler und Bildhauer Anselm Kiefer (0,10 Mrd.) oder wie Neo Rauch, der Maler aus Leipzig (0,15 Mrd.).
Als Nachschlagewerk kann die Auflistung erst einmal nicht benutzt werden, denn sie ist nicht alphabetisch geordnet, sondern nach dem Prinzip: reich, reicher, am reichsten. Also mir reicht’s. Es frustet immer wieder lesen und hören zu müssen: die Besten, die zehn Besten, das Beste, wo gibt, der Beste, die Beste, die Allerbesten. Und nun endlich die 1000 Reichsten, nach der Devise: immer größer, höher, stärker. Die Reichsten waren lange Zeit Theodor und Karl Albrecht, Besitzer der Aldimärkte, jetzt ist es Dieter Schwarz, Besitzer von Lidl und Kaufland. Wer wird es morgen, übermorgen sein? Allein muss ich das wissen, wenn ich einkaufen gehe. Verdirbt es einem die Laune, wenn man bei Aldi oder Lidl wieder einmal seine Schnäppchen gemacht hat. Reich geworden trotz der vielen Angebote. Sind die Angebote, die Schnäppchen Teilhabe an deren Reichtum? So naiv kann niemand sein, und doch werden Reiche in unserem Leben oft als Wohltäter, Unentbehrliche, Helfer, als Ermöglicher für alles Mögliche wirksam. Brauch ich, um mir solche Gedanken zu machen, die Auflistung? Und genügen diese 1000 überhaupt? In der Einführung zur Auflistung lese ich: „Den Superreichen geht es nicht nur gut – dies liegt in der Natur der Sache –, es geht ihnen besser und besser“ – nicht am besten oder doch? – „Das vergangene Jahr gestaltete sich erfreulich, dies zeigt ein Blick auf die Vermögensentwicklung der führenden 750 Vertreter in der Bilanz“ (S. 10) Wer wollte das bezweifeln. Richtig, hier sind es nur 750 Vermögende. 1000 klingt besser.
Also fort mit der Liste, wenn da nicht das Berufsgedächtnis anklopfte. Man könnte doch einzelne Millionäre und Milliardäre in den Integrationskursen vorstellen. Müsste man nicht einige der reichsten Bürger dieses Landes kennen und will man sich immer nur auf Vertreter der Mittelschicht in den Deutschlehrbüchern beschränken? Eine adaptierte Liste für unsere Lernenden. Von den Namen her gäbe es keine Schwierigkeiten. Man fände unter den 1000 Namen schon einfache authentische deutsche: Kohl, Meyer, Otto, Wagner, Wolf u.a. Was sollen die Flüchtlinge, die in den Sprachkursen sitzen, nicht alles lernen, um sich integrieren zu können. Ist man genügend vorbereitet für den Einstieg in die neue Gesellschaft, wenn man nicht wenigsten zehn der Reichsten von den Reichen kennt, wenigstens vom Papier her? Sie spielen doch in unserer Gesellschaft als Bestimmer, Lobbyisten, Experten, Berater, als Vorbilder, als Stifter, als Hersteller und Verkäufer von Rüstungsgütern eine wichtige Rolle. Kann man sich diese Republik ohne diese 1000 Reichsten vorstellen?
Oder könnte einen das Wort Stifter uns nicht auf den Gedanken bringen, für unseren gemeinnützigen Verein IIK Berlin Spenden einzutreiben, damit dies und das noch besser gemacht vor allem die soziale Betreuung der Flüchtlinge verbessert werden kann. Mal abgesehen davon, dass andere auf diesen Gedanken längst gekommen wären und es sich herumgesprochen hätte, enthält die Liste keine Anhaltspunkte für solche Bittstellerei. Stiftungen dieser Reichen gibt es noch und nöcher, aber unspektakuläre Spenden an kleine Vereine, da wäre ich eher skeptisch. So mir nichts dir nichts an eine reiche Familie herantreten und sie gewissermaßen um einen finanziellen Beitrag zu bitten, nein, das geht so nicht. Da könnte ja jeder kommen. Ich werde nicht vergessen, wie der bekannte Fachsprachenforscher aus Leipzig Prof. Dr. habil. Lothar Hoffmann, dessen Standardwerk Kommunikationsmittel Fachsprache mein Bücherregal noch heute ziert, nach der Wende mit Entsetzen das Ansinnen von sich wies, Drittmittel bei den Reichen einzubetteln, womöglich gar noch bei Rüstungsgewinnlern. Mit ihm sei das nicht zu machen, zudem sei er auch zu alt dafür.
Dabei kann und will ich durchaus nicht verhehlen, dass mir genügend Beispiele bekannt sind, die gar nicht mal so wenige Reiche im Glanze segensreicher Stiftungen und humanitärer Hilfeleistungen erstrahlen lassen.
Allerdings lässt sich nicht zugleich der Verdacht unterdrücken, dass in vielen Fällen die humanen Taten den angereicherten Besitz, das Vermögen irgendwie rechtfertigen sollen.
Sei es wie es sei, wie soll man sich erklären, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer wird? Vielleicht ist der überzeugendste Beitrag zu dieser ‚allgemein interessierenden‘ Frage in letzter Zeit im Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty Das Kapital im 21. Jahrhundert zu finden. „Gerade in jüngster Zeit konnten die Reichen ihre Vorzugsstellung noch einmal kräftig ausbauen: Der Oberschicht, den reichsten 10 Prozent in Deutschland, gehören laut dem Global Wealth Databook der Schweizer Großbank Credit Suisse inzwischen fast zwei Drittel des gesamten Privatvermögens. Vor sechs Jahren waren es noch keine 50 Prozent. Die untere Hälfte der Bevölkerung hingegen geht nahezu leer aus, die ärmsten 10 Prozent haben nur Schulden“ (Herz: In der Wohlstandsfalle/in: Cicero, April 2017, S. 33) Diese Entwicklung scheint unaufhaltsam. Sie würde nur gebremst, wenn die Reichen sich bequemten, z.B. mehr in die Bildung zu investieren. Die 10, 100, 10000, 10000 Reichsten sorgen fraglos dafür, dass Ihresgleichen und ihre Nachkommen höchste Bildung erwerben können, und die Kinder von Eltern mit geringem Bildungsabschluss und niedrigem Verdienst eben gerade in Deutschland eher nicht. Glück oder Pech gehabt bei der Wahl seiner Eltern.
Je länger ich so über die Liste nachdenke, umso mehr wird mir klar, ich kann auf derartige Listen verzichten und befördere das Magazin nun endlich in den Müllcontainer, wohl wissend, andere werden es anders sehen und die Transparenz, die Beschreibung eines gegebenen gesellschaftlichen Zustands rühmen, die Befriedigung von Neugier exponieren, das Lostreten von vielleicht neuen Diskursen loben. Wie viel Reiche verträgt dieses Land? Gibt es vielleicht eine Obergrenze für den Reichtum einzelner? Ab welchem Reichtum wird der ungleich verteilte Wohlstand zum gesamtgesellschaftlichen Ärgernis, um nicht zu schreiben zur sozialen Sprengkraft? Wer muss wie besteuert werden?
Oh Gott, die Wahrheit ist konkret lesen wir bei Brecht, und wir wissen, der Teufel steckt im Detail. Ich hole das Magazin aus dem Container zurück. Man kann ja nie wissen.