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Das Thema Russland ist noch nicht abgehakt

2016 3. Januar
von Martin Löschmann

Auch wenn es mich sehr stört, muss ich eine große Hemmung überwinden, um ein Insekt zu töten.
Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist. Ich glaube nicht, nein.
Vielleicht einfach ein Sichgewöhnen an Zusammenhänge.
Und ein Versuch, sich einzufügen in Zusammenhänge, die existieren, Einverständnis.
(Heiner Müller)

Für die Lesung von Corinna Harfouch in Leipzig gab es vereinzelt Vorschläge, was gegebenenfalls gelesen werden könnte. Zu meiner eigenen Verwunderung gehörte das Russlandkapitel dazu: Wenn Russland für deutsche Kleingeister zu groß bleibt. Warum war und bin ich eigentlich verwundert, frage ich mich. Höchstwahrscheinlich doch wohl deshalb, weil ich resignativ im Unterbewusstsein von dem Eindringen eines einseitigen und vereinfachten Russlandbildes in die Köpfe vieler Menschen ausging bzw. ausgehe. Um nicht in den Verdacht zu geraten, ein verzerrtes Bild zu malen, will ich auch die eine Stimme nicht verschweigen, die sich vehement von dem im Kapitel Beschriebenen distanzierte, und zwar in dem Sinne, dass man mit Russland und seinen Menschen nichts gemein hätte und auch nichts haben könne. Ich erspare mir hier die mitgeteilten Argumente.
Günter Markstein (Parchim) verband seine Fürsprache für das Kapitel mit einer Kritik an meiner Feststellung, dass Putin mit der Eingliederung der über Jahrhunderte hinweg zu Russland gehörenden Krim in das russische Reich das Völkerrecht verletzt habe. Ich solle doch mal das neueste Buch von Gabriele Krone-Schmalz Russland verstehen lesen, da würde ich eines Besseren belehrt werden, darin fände ich eine überzeugende Beweisführung. Um mir die Sucharbeit zu erleichtern, schickte er mir gleich die entsprechenden Seiten mit von ihm unterstrichenen Wörtern, Wortgruppen und Sätzen. (C.H. Beck, Paperback,13. Auflage 2015, S. 26 – 33)
Neidlos muss ich selbstredend zugeben, dass ich nicht über die Kenntnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen verfügen, die sich Frau Krone-Schmalz in ihrer Russlandzeit als Korrespondentin der ARD, als Mitglied im Petersburger Dialog und nicht zuletzt als Professorin für TV und Journalistik an der Hochschule Iserlohn erarbeitet hat. Abgesehen davon, atmet mein Russland-Kapitel nicht desto weniger einen ähnlichen Geist. So wie ich das Buch von Krone-Schmalz verstehe, geht es ihr, ohne dass sie den Boden durchaus kritischer Einschätzung verließe, um eine Auseinandersetzung mit antirussischen Vorbehalten, Vorurteilen, eindimensionale Sichtweisen auf das aktuelle Geschehen in Russland, der Schwarz-Weiß-Malerei: hier die Guten, dort die Bösen, der Ungleichbehandlung ähnlich gelagerter Problematiken im Westen und in Russland (vgl. zum Beispiel unterschiedlichen Sichtweisen auf die Olympiaden in Sotschi und in Brasilien), dem Messen mit zweierlei Maß, wie es im Herderblog auch von Helmut König auf dem Gebiet des Dopings angeprangert wird, der Dämonisierung Putins.
Im Nachhinein kann man sich ärgern, dass man die ‚Mainstream‘-Auffassung von der Verletzung des Völkerrechts so unbesehen übernommen hat, ich maßte mir sogar an, meine Zustimmung mit „zweifelsohne“ zu verstärken, indem ich schrieb: „Mit der Gleichsetzung von Russland mit Putin einerseits und der Aufblähung der Opposition im Lande andererseits macht ein Teil der Journalisten das Riesenland für sich überschaubar, anklagbar, angreifbar. Verborgene Ressentiments werden sichtbar. Unerhört, wie Putin das Land vergrößert, indem er den Volkswillen der überwiegend russischen Bevölkerung auf der Krim (rund 60 Prozent) realisiert, unter Verletzung des Völkerrechts zweifelsohne, aber wie oft haben die USA und ihre Verbündeten dieses Recht in den letzten Jahrzehnten verletzt?“
Jetzt frage ich mich dank der Leseempfehlung von Markstein, wie konnte ich als „Sonstiger“ ein derart komplexes Geschehen überhaupt beurteilen. Doch mir kam und kommt es darauf an, der so offensichtlichen Ungleichbehandlung entgegenzutreten. Nicht desto weniger wäre es einfach kühn, geradezu genial gewesen, wenn ich die weithin bis dato unwidersprochene Setzung ‚Verletzung des Völkerrechts‘ angezweifelt oder überhaupt vermieden hätte. Frau Krone-Schmalz dagegen hat sich bei Völkerrechtlern kundig gemacht und kommt zu dem Ergebnis: „Hat Russland völkerrechtliche Ansprüche der Ukraine verletzt? Ja. Zu diesem Schluss ist der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel gekommen (FAZ vom 7.4.14). Doch die Sachlage ist, wie er in beeindruckender Weise darlegt, kompliziert: ‚Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechts-widrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt zur Krim nicht ablehnen müssen. Nein‘. Denn was hat Russland mit der ukrainischen Verfassung zu tun?“
Interessant für die Blog-Leserinnen und –Leser könnte überdies noch sein, dass Frau Krone-Schmalz einige ihrer bedenkenswerten Ausführungen zum Völkerrecht in Bezug auf die Krim im Rahmen eines Interviews für eine „große deutsche Zeitung“ gemacht hatte, das aber „nach Intervention des Chefredakteurs“ (S.29) nicht veröffentlicht wurde. (Sic!)
Nachdem ich das Buch von Krone-Schmalz von Anfang bis Ende gelesen habe, kann ich nur Marksteins Empfehlung weiterreichen. Die Lektüre wird sich lohnen. So wird meine Behauptung belegt, die USA und ihre Verbündeten hätte das Völkerrecht, so wie ich es bisher verstanden habe, nicht minder verletzt: „Für das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen kann die Bedeutung des Kosovokrieges gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Russland musste die Erfahrung machen, dass der UN-Sicherheitsrat komplett übergangen wurde und sich in der westlichen Staatengemeinschaft kaum jemand darüber aufregte. Die völkerrechtliche Legitimation stand auf mehr als wackligen Füßen. Für Moskau hieß das: Der Westen hält sich selbst nicht an die Regeln, an denen er uns misst.“
Für mich war zudem besonders das Kapitel interessant, in dem der Krieg Russland – Georgien beleuchtet wird. Kaum jemand wird sich noch an den Krieg im Kaukasus 2008 erinnern. Ich schon, weil ich im September des Jahres zur Weiterbildung russischer Deutschkräfte an sibirischen Universitäten in Tomsk weilte und ich bereits im ersten Seminar, was ungewöhnlich war, nach meiner Meinung zu dem Krieg gefragt wurde. Vor allem wollte man wissen, wie ich zu der Verurteilung Russlands als Aggressor im Westen stünde. Was das Interesse in Deutschland an diesem Kriegsgeschehen im Kaukasus anlangt, so kam ich den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern erst einmal mit Goethe: „Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn-und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen.“ Da ich mich auf meinen Einsatz in Tomsk vorbereitet hatte und mit Fragen zum aktuellen Geschehen auch rechnete, war ich einigermaßen in der Lage, mich von der in deutschen Medien fast unisono Verurteilung Russlands als Aggressor zu distanzieren, ohne die Komplexität der Krise zu ignorieren. Ich maßte mir damals nicht an, die Komplexität des Kriegsgeschehens zu durchschauen, aber eines wusste ich dank englischer Quellen, Georgien hat gezielt die südossetische Hauptstadt Zchinwali angegriffen. „Die georgische Behauptung, man habe lediglich auf russische Angriffe reagieren müssen, wies die OSZE nach entsprechenden Untersuchungen zurück.“ (Krone-Schmalz) Dies wissend, fragt man sich schon, warum lange Zeit Russland als Aggressor diffamiert wurde. Bei Krone-Schmalz habe ich mir nun nachträglich Klarheit verschafft und dabei erfahren, dass Stalin gewissermaßen Vorbild für Chrustchows Schenkung der Krim an die Ukraine war, denn nach der Buchautorin ist Stalin verantwortlich für die Teilung Ossetiens in Nord- und Südossetien. Kurzerhand schenkte er Südossetien seinem Heimatland Georgien. Sollte man nicht zumindest Verständnis dafür aufbringen, dass sich dieses Land von Georgien befreien und selbstständig werden will?

  1. M.T. permalink
    März 29, 2016

    Natürlich kann man Frau Krone-Schmalz folgen, die sich ihrerseits Rat bei Völkerrechtlern geholt hat, man muss aber nicht, denn die Crux ist auch hier, dass es Völkerrechtler wie Sand am Meer gibt und sie keineswegs einer Meinung sind. So kommt der Völkerrechtler Hans-Joachim Heintze in seiner Fallstudie unter dem Titel „Völkerrecht und Sezession“ (www.ifhv.de) zu einer anderen Bewertung als der von Krone-Schmalz angerufene Reinhard Merkel und bestätigt am Ende seiner umfangreichen Argumentation, dass im Falle der Krim „die Annexion mit einer völkerrechtswidrigen Gewaltanwendung verbunden (war), die grundlegende Rechtsprinzipien verletzt und folglich von der Staatengemeinschaft nicht akzeptiert werden kann.“ Gleichwohl – so Heintze später in einem Interview mit der FR – handle es sich beim Referendum um eine Willensbekundung der russischstämmigen Bevölkerung, sodass der Dialog mit Russland gesucht werden müsse. Jeder politisch Interessierte steht also auch hier vor der Aufgabe, verschiedene Argumentationsketten zu dieser komplexen Materie zur Kenntnis zu nehmen und sich seine eigene Meinung zu bilden.

  2. Martin Löschmann permalink*
    Juni 2, 2016

    ZUM SCHMUNZELN FÜR ‚RUSSLANDVERSTEHER‘ oder wie Russland eine Statistik verdirbt

    Beim Lesen des durchaus lesenswerten Buches von Karl-Heinz Meier-Braun: „Einwanderung und Asyl. Die 101 wichtigsten Fragen“, erschienen bei Beck: 2015 (E-BOOK), wird die 6. Frage
    „Deutschland das Hauptzielland von Flüchtlingen und Migranten – wie viele sind weltweit unterwegs?“ folgendermaßen beantwortet:

    „Deutschland ist zwar ein Magnet für Migranten und Flüchtlinge, aber andere Länder, vor allem arme Entwicklungsländer, haben wesentlich höhere Zuwanderungszahlen, vor allem was die Flüchtlinge angeht. Die Mehrzahl der Flüchtlinge – rund 90 Prozent – bleibt im eigenen Land oder flieht in Nachbarländer, nicht in die reichen Industrieländer Europas, auch wenn die Industriestaaten 2014 die höchste Zahl von Asylanträgen seit 22 Jahren verzeichnen. In Deutschland wurden 2014 zunächst die meisten Asylbewerber weltweit registriert, bis sich Russland plötzlich mit 274.700 Anträgen, 99 Prozent davon von Ukrainern, an die Spitze der Statistik stellte…“

  3. M. T. permalink
    Oktober 6, 2016

    Für am Thema Interessierte: Putins geheimes Netzwerk – Wie Russland den Westen spaltet (ZDF, 4.10.16) in der Mediathek vorhanden.

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