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Frau Dr. Angela Merkel, die FDJ und ich

2013 29. Mai
von Martin Löschmann

Auf dem Flug nach Antalya, dem Ausgangspunkt für die Weiterfahrt nach Adrasan mit der reizvollen Meeresbucht –  der achtzigste Geburtstag von Sara Wilsky soll gefeiert werden,  lese ich im Fokus vom 13. Mai 2013 (Nr. 20/13), dass es ein neues Buch über die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel gibt: Das erste Leben der Angela M, verfasst von dem Historiker Ralf Georg Reuth und dem Journalisten Günther Lachmann. Beim Lesen des Artikels Das Leben der anderen Angela (S. 22 ff.) drängt sich mir fast panikartig die Frage auf, muss die kurze Merkel-Passage in meinen Erinnerungen umgeschrieben oder gar neu verfasst werden, denn es wird das Buch mit neuen Entdeckungen im Leben der Merkel beworben. Die Reaktion auf die Buchbesprechung versteht sich aus meiner augenblicklichen Lebenssituation: Irgendwann und irgendwie will ich endlich fertig werden, und das Buch über die Bundeskanzlerin könnte sich als erneutes retardierendes Moment erweisen. Doch als ich die Episode in meinem Werk überfliege, stellt sich aufbauende Gelassenheit ein. Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich selbst ein Bild von meiner unbegründeten Sorge machen können, müssen Sie mit dem entsprechenden Auszug aus dem Kapitel Abgelehnt und doch studiert bekannt gemacht werden. Es wurde vor vier, fünf Jahren geschrieben, und die Merkel-Passsage wird hier unverändert zum ersten Male der werten Öffentlichkeit preisgegeben:

… Zwei Seminargruppen wurden gebildet, mehr als dreißig waren wir wohl nicht insgesamt. Zu meiner Überraschung werde ich zum FDJ-Sekretär meiner Seminargruppe vorgeschlagen und gewählt, obwohl man mich doch erst einmal gar nicht bei der Germanistik haben wollte und ich an der Oberschule in Zeitz nicht gerade durch aktive FDJ-Arbeit aufgefallen war. Um bei diesem Erinnerungsstrang sicher zu gehen, rufe ich im August 2009 bei Ingeborg Voigtsberger an, geb. Forner, Tochter eines Bäckermeisters und Mitschülerin schon während der Grundschule, die sich an die Schulzeit viel besser erinnert als ich. Leider kann auch sie sich nicht genau erinnern, geht die besten Schülerinnen und Schüler durch und hält es für möglich, dass ich FDJ-Sekretär der Klasse gewesen sein könnte. Mein Schul- und immer noch bester Freund Rainer, reagiert unmissverständlich: „Martin, du kannst ganz sicher sein, an der Penne warst du eine politische Null.“ Danke, mein lieber Freund, soll mir ein Stein vom Herzen fallen? Nein, da war überhaupt kein Stein.

Großbauernsohn wird FDJ-Sekretär, eigentlich hätte ich hier noch die besten Voraussetzungen dafür gehabt, es unserer Bundeskanzlerin Frau Merkel gleichzutun, denn wenn eine Naturwissenschaftlerin das hohe Amt bekleiden darf und kann, warum nicht ein Germanist und Fremdsprachendidaktiker. Gut, ich bin wesentlich älter als sie und ein FDJ-Sekretär in den 50er Jahren ist nicht gleichzusetzen mit einem aus den 70er bzw. 80er Jahren. Außerdem war ich nur Sekretär einer Seminargruppe, Frau Angela Merkel Kreisleitungsmitglied und verantwortlich für Agitation und Propaganda (sic!) an der Akademie der Wissenschaften der DDR bis 1984 (aus ihrer heutigen Sicht war sie eher Kulturbeauftragte, doch das ist wahrlich keine Wortprägung für Funktionsträger in der DDR).
Streich einfach diesen Passus, wird mir von verschiedenen Seiten zugeraunt. Du greifst an dieser Stelle zu hoch, deine FDJ-Tätigkeit hat dich nicht auf die Königsebene gehoben. Mag sein, gleichwohl hat sie an der Karl-Marx-Universität als Pfarrerstochter sogar  studiert und war offensichtlich auch während des Studiums in der FDJ aktiv, so steht es jedenfalls in Wikipedia. Es sei, wie es sei, in einem Punkt treffen wir uns auf jeden Fall: Die FDJ-Tätigkeit, bekennt sie in einem Interview mit Günter Gaus 1992, habe ihr Spaß gemacht. Mir offensichtlich auch.
Ich dächte, es stand in unserer Seminargruppe weniger die politisch-ideologische, sondern mehr die kulturelle Arbeit und Studienfragen im Vordergrund, schließlich waren wir Germanistikstudenten, von denen gediegene Kulturarbeit erwartet wurde. Wolfgang Brunner, der als parteiloser Erwachsenenbildner vor mir am Herder-Institut angestellt wurde und dort in die Zunft der Landeskundler eintrat, war unser Frontmann bei den Agit-Prop-Programmen und ließ uns immer gut dastehen, wenngleich wir nie das Niveau des Studententheaters erreichten. An einzelne Texte kann ich mich nicht mehr erinnern, Brecht war oft dabei, das Studentenleben wurde kritisch besungen, Aufbauleistungen gefeiert (Kuba: Sagen wird man über unsere Tage: Altes Eisen hatten sie und wenig Mut¦), auch Mängel vorsichtig aufgespießt und die restaurative Entwicklung in Westdeutschland kritisiert. Obwohl es in unseren beiden Seminargruppen einige wenige Genossinnen und Genossen (5) gab, die uns gewissermaßen den Weg wiesen – in der zweiten Hälfte der 50er Jahre war die FDJ noch nicht in dem Maße die Kampfreserve der Partei – fühlten wir uns als Studenten wohl eingebunden, aber nicht in jedem Fall gebunden an die Vorgaben der Partei, besonders die religiös Gebundenen nicht, drei oder vier an der Zahl, Gerda K. mit ihrem strengen Knoten gehörte auf jeden Fall dazu. Sie war nicht mein Fall, aber nicht wegen ihrer Gläubigkeit

Aus der Türkei zurückgekehrt, lese ich – ehrlicherweise überfliege ich noch einmal den Fokus-Beitrag vom 1. Mai, schließlich habe ich ja zu den Leseformen in meiner Dissertation gearbeitet und kenne überdies die DDR aus eigenem Erleben zur Genüge,, brauche keine Aufklärung über die Rolle der FDJ in der DDR. Schon vor Jahren also, als ich den entsprechenden Abschnitt formulierte, war für mich klar, als Sekretärin für Agitation und Propaganda der FDJ-Kreisleitung, die im Falle der Akademie der Wissenschaften dem Zentralrat der FDJ direkt unterstellt war (so jedenfalls nach Reuth und Lachmann), stand Angela Merkel dem DDR-System bedenklich nahe, um den ideologisch aufgeladenen Begriff ’systemnah‘ zu variieren. Die FDJ war ein fester Bestandteil des Kernsystems der DDR, die Kaderschmiede der SED, eine damals gängige Parole. Die FDJ war im Grunde genommen, organisiert wie die SED und befasste sich weitgehend mit den gleichen Themen. Was für die Merkel-Biographen offensichtlich neu war, wusste jeder gelernte DDR-Bürger: „Die Propagandisten wurden regelmäßig von der Kreisleitung geschult. Von dort bekamen sie auch die Themen für die Veranstaltungen vorgegeben, die sie an ihrem Institut in aller Regel ein bis zweimal abzuhalten hatte. Dabei ging es um Fragen des Marxismus-Leninismus, um die Auswertung von SED-Parteitagen sowie um die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind“ (zit. nach Fokus, S. 28)

Am Herder-Institut spielte die FDJ eine untergeordnete Rolle und wurde wohl in den 70er Jahren mangels Masse aufgegeben, einfach weil es dann kaum noch Mitarbeiter in so jugendlichem Alter gab. Anders in der Akademie der Wissenschaften. Für wie wichtig die FDJ-Kreisleitung der Akademie vom Zentralrat der FDJ-Führung angesehen wurde, zeigt eben ihre direkte Unterstellung. Die Funktion, die die Jugendfreundin Merkel bekleidete, war zudem im Verbund der Funktionen eine herausragende. Man wurde nicht zur Sekretärin für Agitation und Propaganda vorgeschlagen und gewählt, wenn man sich nicht als Agitatorin des Systems empfohlen hatte. Ich bleibe dabei, mit meiner Funktion als FDJ-Sekretär einer Seminargruppe war mir die Jugendfreundin Angela weit voraus, eigentlich überhaupt nicht vergleichbar, obwohl ich ein Einser-Abiturient wie sie eine Einser-Abiturientin war und von der sozialen Herkunft her wie auch ich nicht zu den mit Recht geförderten Arbeiter- und Bauernkindern gehörte.
Es kommt aber noch krasser und das wusste ich bis dato nicht so genau. Die heute anerkannte und geschätzte Jugendfreundin Merkel hatte sich bereits für ihre Funktion in der Akademie als Sekretärin für Agitation und Propaganda an einer FDJ-Grundorganisation der Karl-Marx-Universität zu Leipzig empfohlen. Ein Schelm, wer den politischen Aufstieg von Angela nicht sieht oder nicht sehen will. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, wenn sich die Kommilitonnin in Leipzig politisch etwas abseits bewegt hätte, wäre sie auf keinen Fall in die Funktion an der Akademie gekommen. Um eine solche Funktion anvertraut zu bekommen, musste man schon Flagge gezeigt haben. Das Herder-Institut ist keinesfalls mit der Akademie der Wissenschaften zu vergleichen, aber eines steht fest, ans Institut kam niemand, der sich nicht wenigstens in der FDJ bewährt hatte, was immer das im Einzelnen heißen mochte.

Ach ja, da haben die eifrigen Autoren auch noch Angelas aktive Mitarbeit in der Gewerkschaft, dem FDGB, entdeckt, für den gelernten DDR-Bürger ist dies auch keine Überraschung. parteilose, aber aktive FDJler waren gefragte Kandidaten für BGL-Leitungen. Ich selbst allerdings habe in der Gewerkschaft nie eine Funktion inne gehabt. Wie oft habe ich nicht den berühmten Satz aus dem Stück von Helmut Baierls Theaterstück Frau Flinz zitiert: Der Unternehmer Neumann beschließt, gewitzt wie er war, in seinem Betrieb aktives politisches Leben zu entfalten. Er macht zwei Flinz-Söhne zu Vorarbeitern und bezahlt ihnen den Beitrag für die Mitgliedschaft in der SED, den dritten delegiert er in die Gewerkschaft mit der Begründung: „Du bist der langsamste“. Natürlich trifft diese Charakterisierung nicht für Frau Merkel zu, ihre ’schläuige Klugheit‘ wird ihr niemand abstreiten, ich schon gar nicht, weil ich nach wie vor zu den Bewunderer ihres phänomenalen Aufstiegs zähle, quasi nahtlos, zunächst in dem einen, dann in einem anderen politischen System. Möglicherweise kommt das in meinem Erinnerungstext nicht so klar zum Ausdruck. Allerdings scheint darin doch auf, als derart exponierte FDJ-Funktionärin war sie Wunschkandidat für allerlei gesellschaftliche Aktivitäten. Als Lessing-Preisträgerin und als eine, der ein Studienaufenthalt in der Sowjetunion ermöglicht wurde, war sie geradezu prädestiniert für eine „bedeutungsvolle Funktion“.

Wie auch immer Sie, liebe Leserin und lieber Leser, Merkels politische Engagement in der DDR beurteilen, mein Fazit ist gezogen: Die Stelle mit der Merkel muss im gegebenen Erinnerungskontext nicht überarbeitet werden. Entscheidend ist für mich, dass ihre Karriere die Bremse der Systemnähe ad absurdum führte und aller Welt zeigte und zeigt, welch eine politische Führungskraft in der DDR reifen konnte.

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