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Tierisch, tierisch, aber nicht tierisch ernst

2012 2. Oktober
von Bernd Landmann

Den folgenden Text hat Dr. Bernd Landmann, ein ehemaliger Mitarbeiter des Herder-Instituts, freundlicherweise dem herderblog zur Verfügung gestellt. Er ist im „Papyrus-Magazin“, H.1 – September/Oktober 2012. 33. Jg., S. 34-37 veröffentlicht und auch unter der Internetadresse www.papyrus-magazin.de zu finden. 

 

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“. Das ist ein Zitat. Quellenangaben sind in letzter Zeit zwar ziemlich obsolet geworden. In diesem Falle wäre ich aber töricht, darauf zu verzichten, erspart mir der Hinweis auf Thomas Manns Josephs-Romane doch eine wortaufwändige Introduktion. Der geneigte Leser weiß sofort: eine Zeitreise nach Ägypten ist angesagt. Allerdings habe ich als raunender Beschwörer des Imperfekts nicht im Sinn, mit ihm Tausende von Jahren hinab zu tauchen, sondern will es bei reichlich vierzig belassen. Auch ist keineswegs eine Tetralogie zu fürchten. Auf mehr als zweikleine Geschichten muss man sich nicht einstellen. Und schließlich a priori auch noch dies: Es soll keine Legende beschworen, schon gar nicht eine biblische, sondern nichts als die reine Wahrheit erzählt werden. Jedenfalls so verlässlich nach vier Dezennien etwas noch aus dem Gedächtnis abgerufen werden kann. Es ist ja bekannt, dass man sich selbst nach einer solch relativ kurzen Zeitspanne seiner Erinnerung schon nicht mehr ganz sicher sein darf. Deshalb ist beschwören hier vielleicht auch gar nicht das rechte Wort. Es könnte wegen seiner Doppeldeutigkeit Missverständnisse evozieren. Beschwören ann und will ich gar nichts. So wahr mir Gott helfe? Um Himmels willen nein! Nur in der ersten Geschichte geht es nicht ganz ohne Beschwören ab. Nachdem man sie gelesen hat, versteht man warum.

 

Kobra als Kammerjäger

Also diese Geschichte hätte in keinem anderen Haus so große Wirkung entfalten können wie in dem, in dem sie passiert ist. Es war ein prachtvolles Gebäude mit einem zauberhaften Portikus aus schlanken, fast grazilen Säulen, zu dem eine Freitreppe hinaufführte. Es gemahnte mich immer irgendwie an einen verwunschenen orientalischen Palast, freilich an einen im Westentaschenformat. Das Haus stand in der Sh. Wissa Wassef und trug die Hausnummer 5. Wissa Wassef hieß auch der Eigentümer dieses Hauses. Er wohnte aber nicht darin. Vielmehr war das damals die Adresse des Kultur- und Informationszentrums der DDR. Gelegentlich ließ sich Herr Wissa Wassef in seinem Hause blicken. Meine Frau hat ihn wiederholt gesehen und als einen europäisch gekleideten, äußerst distinguierten, schmächtigen Mann mit hoher Stirn und wachen Augen hinter dicken Brillengläsern in Erinnerung. Man zollte ihm bei seinen Besuchen stets die allergrößte Hochachtung und sprach ihn mit Herr Professor an. Heute vermute ich, dass ihm das Haus nicht nur gehörte, sondern dass er es auch gebaut hat. Denn er war Architekt, wie ich viel später einmal herausgefunden habe. Im Internet findet man, dass er u. a. eine Reihe von stilvollen Privathäusern unweit der Pyramiden von Giza gebaut haben soll. Seine Architektur sei inspiriert von alten orientalischen Bauten. Das würde passen.

Ein Schlangenbeschwörer

Und nun stelle man sich vor dem Portal des Hauses folgendes Tableau vor. In der Mitte ein Schlangenbeschwörer, wie er im Buch steht. Im Schneidersitz auf dem Boden hockend, gewandet in eine schmutzigweiße Galabiya. Sonnengegerbtes, zerfurchtes, bärtiges Gesicht, von einem lässig gewundenen Turban gekrönt. Vor ihm der obligate dunkle Korb mit geöffnetem Deckel. Und im Gleichklang mit dem wiegenden Oberkörper des Beschwörers windet sich zu den Tönen, die er seiner Flöte entlockt, eine Uräusschlange empor, die heilige Stirnschlange der Pharaonen. Von der Szenerie gebannt, umsteht Schlangenkorb und Beschwörer eine Menge Menschen. Wer gerade im Hause war, ist hinaus geeilt. Und wer gerade kommt und hinein will, bleibt fasziniert stehen. Wie mein Freund Hans-Peter. Er hat mir die Szene so lebendig, so fesselnd, so farbig beschrieben, dass ich sie kaum plastischer erinnern könnte, wenn ich dabei gewesen wäre. Was er sah, war aber nur die Zugabe zu einer Leistung, für die der Alte mit dem Turban bestellt und bezahlt worden ist. Was davor geschehen ist, wissen Hans-Peter und ich gleichermaßen nur aus Erzählungen.Alles soll mit einem Schreckensschrei begonnen haben. Im Keller war ein Untier gesichtet worden. Was für ein Tier genau? Ich muss die Antwort schuldig bleiben. Schon damals gingen die Aussagen weit auseinander. Eine Maus möchte ich aber ausschließen. Schon eher lässt sich an eine Ratte denken. Darunter kann es ja prächtige Exemplare geben. Jedenfalls muss es ein Tier gewesen sein, das den ägyptischen Hausmeister auf die Idee gebracht hat, eine Schlange könnte es, wenn nicht aufspüren und fressen, so doch durch ihre bloße kurzzeitige Anwesenheit dauerhaft vertreiben. Die Frau des Direktors war, wie es sich für Auslandskader der DDR gehörte, natürlich ordentlich Marxismus geschult, dessen ungeachtet aber offen für den Gedanken, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geben könne, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Vor allem aber sah sie sich, da ihr an diesem Horrorvormittag die Leitungsverantwortung im Hause oblag, in der Pflicht, schnellstmöglich Sicherheit, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Deshalb war sie bedenkenlos bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen, also auch nach der Nummer, die ihr der Hausmeister diktierte. Resolut griff sie zum Hörer und rief einen Beschwörer. Wie seine Schlange es angestellt hat, dass die Bestie nie wieder gesichtet wurde, ist offenbar sein Geheimnis geblieben. Aufschluss darüber habe ich nie erhalten können. Tut auch wenig zur Sache. Wichtig allein: Das Kulturzentrum der DDR war gerettet. Fürs erste. Zwanzig Jahre danach ist die DDR untergegangen, irgendwann später auch noch die märchenhaft schöne Wissa-Wassef-Villa. Jetzt steht dort eines dieser modernen Hochhäuser, wie man sie in Kairo und aller Welt zuhauf findet. Unvorstellbar, dass sich darin eine so zauberhafte Geschichte wiederholen könnte.

Katze als Opernstar

Auch unsere zweite Geschichte hat zum Schauplatz ein bemerkenswertes Haus, nämlich das 1869 im Auftrag des Khedive Ismail Pascha errichtete Opernhaus, das am 1. November 1869 mit Verdis „Rigoletto“ glanzvoll eröffnet worden ist und am 24. Dezember 1871 die spektakuläre Uraufführung seiner „Aida“ erlebt hat. Wenige Monate nach Beendigung meiner dreijährigen Tätigkeit als Deutschlektor in Kairo im Sommer 1971 ist Dar Elopera Al Misria einem verheerenden Brand zum Opfer gefallen. Ich schätze mich glücklich, mehrmals darin beeindruckende Opernaufführungen erlebt zu haben. Ein prunkvolles Haus mit viel Rot, viel Gold, viel Samt, 850 Sitzen und umlaufenden Logenreihen auf mehreren Etagen. Die Logen waren feudal ausgestattete Separees mit plüschbezogenen Fauteuils, einem Kanapee und einem riesigen Spiegel. Die Wände bespannte roter Damast. Speziell Hausinszenierungen waren damals gesellschaftliche Ereignisse ersten Ranges. Jedes Jahr gab es davon nur eine. Ins Theater drängte alles, was ein Faible für Opern hatte oder darauf bedacht sein musste, gesehen zu werden. Natürlich fast ausschließlich Europäer und europäisierte Ägypter. Schwere Parfüme, Schweiß und Mottenpulvergeruch schwängerten die Luft. Wer einen edlen Pelz sein Eigen nannte, holte ihn für den Opernbesuch aus dem Schrank. Anlässe ihn in Kairo zu tragen, gab es ja nicht so viele. Da durften selbst sommerliche Abendtemperaturen kein Hinderungsgrund sein. Stimmengeschwirr im Parkett und auf den Rängen, bis der Vorhang sich hob. Kaironeulinge wurden von alten Hasen über Who is who aufgeklärt. “ Schau, dort in der Mitte seine Exzellenz der sowjetische Botschafter Vinogradov. Und etwas weiter rechts der Kulturminister von Dahomey. Wer die Dame in Beige mit dem Brillantcollier ist? Muss ich passen. Sehe sie zum ersten Mal hier.“ Wer wie ich einen heißen Draht zur Frau von Youssef El Sisi, dem Dirigenten des Kairoer Sinfonieorchesters hatte, konnte sich meist Hoffnung auf Freikarten machen. Frau Sisi arbeitete im Kultur- und Informationszentrum der DDR als Empfangsdame. Von ihr konnte man auch erfahren, welche dramatischen Ereignisse hinter den Kulissen dem dramatischen Geschehen vor den Kulissen gewöhnlich vorauszugehen pflegten. Wenn man weiß, dass meist drei bis vier heimische Primadonnen Anspruch auf die Titelpartie erhoben, kann man sich vorstellen, was sich da mit schöner Regelmäßigkeit abgespielt hat. Zuweilen musste der Kulturminister höchstpersönlich eingreifen. So hat er beispielsweise im Mai 1969 geregelt, dass jede der Bewerberinnen einmal die Butterfly singen durfte, und so verhindert, dass der Tod noch vor dem letzten Akt das Sagen bekam. Es gab vier Aufführungen. Wir hatten das Glück, die beste Sängerin zu hören.
Hier soll in Sonderheit aber die Rede sein von der „La Boheme“-Premiere am 18. Februar 1970. Am Pult wie immer Youssef El Sisi. Wer die einzelnen Partien sang, habe ich vergessen, ist in diesem Kontext aber auch nicht wichtig. Denn die Hauptrolle an diesem Abend spielte eine Katze, eine dicke graugetigerte Katze. Kenner der ägyptischen Mythologie wissen, dass die Katze zumindest seit spätpharaonischer Zeit in ganz Ägypten verehrt wurde und als heilig galt. Reste dieses Katzenkultes müssen sich bis in die damalige Gegenwart erhalten haben. Wir haben jedenfalls kein Theater in Kairo ohne Katzen erlebt. Vielleicht wurden sie aber auch nur geduldet, um die Mäuse besser unter Kontrolle halten zu können. Egal. Eine Hauptrolle auf der Bühne zu spielen, hätte man Katzen auf keinen Fall zugestehen wollen, heilig hin oder her. Da bin ich ganz sicher. An diesem Abend kam es jedoch dazu. Die Katze hatte ihren Auftritt von rechts. Sie erschien plötzlich auf der Balustrade des Orchestergrabens und setzte geschmeidig Pfote vor Pfote. Sie hielt immer mal kurz inne, spitzte die Ohren und schaute interessiert zu den Musikern hinunter. Der Schmelz der Puccinischen Melodien schien ihr zu behagen. Vielleicht hat sie auch im vorgegebenen Rhythmus geschnurrt. Doch das hätten im besten Falle die Musiker hören können. Alle Aufmerksamkeit des Publikums galt bald nur noch ihr. Rodolfo mochte sich mit seinem Schöngesang abmühen, wie er wollte. Die Katze hatte alle Protagonisten im Handumdrehen erbarmungslos an die Wand gespielt. Von irgendwoher hörte man plötzlich ein unterdrücktes Kichern. Das löste eine Kettenreaktion aus. Das Theater bebte. Youssef El Sisi ließ resigniert den Taktstock sinken und auch Rodolfo gab seinen heroischen tenoralen Kampf gegen die Katze auf. Wenige Augenblicke später setzte unser opernbesessener Tigerverschnitt zum Sprung an und verschwand effektvoll im Graben. Ein grandioser Abgang. Es dauerte eine Weile, bis sich die Heiterkeit gelegt hatte und der Dirigent wieder den Einsatz geben konnte. Mit unseren Freunden Gerd und Renate, mit denen wir unsere Loge im zweiten Rang teilten, haben wir in der Pause den Vorfall wieder und wieder durchgekaut und dabei ausgiebig gelacht. Das war aber noch nicht das Ende, wie denn ja auch die Oper noch nicht zu Ende war. Der Vorhang hob sich zum vierten Bild. Man kennt die Handlung. Irgendwann stürzt Musetta atemlos in die Boheme-Mansarde und bringt die todkranke Freundin mit. Mimi friert hier noch mehr als im ersten Bild, wo ihre Verfrorenheit Rodolfo bereits zutiefst bekümmert: Che gelida manina („Wie eiskalt ist dies Händchen“). Alle sammeln für Medikamente und einen wärmenden Muff, den sich Mimi sehnlich gewünscht hat. Und dann wird der Muff gebracht. Es ist ein riesiger grauer Muff mit dunklen Streifen, als hätte unsere musikalische Katze dafür ihr Fell lassen müssen. Gerd raunte mir zu: „Die Rache Rodolfos.“ Das müssen sehr viele in diesem Augenblick gedacht haben. Wieder brandete ein Gelächter auf und die Tragödie war vollends im Eimer. Dass wir den Abend dennoch nicht auf unserer Verlustseite verbucht haben, wird man verstehen.

Als ich nach Abschluss meiner Lektorentätigkeit am Nil mit meiner Familie in einer IL 62 auf dem Kairoer Airport letztmalig in den Himmel abhob, war ich der ebenso festen wie traurigen Überzeugung, Ägypten nie wieder zu sehen. Es kam anders. Das Jahr 1989 brachte allen Ostdeutschen die unbegrenzte Reisefreiheit. Als Tourist und als Mitarbeiter der Rahn-Dittrich-Group (RDG) habe ich danach das Land meiner Sehnsucht wiederholt besucht. Es kam seitdem auch häufig wieder zu ierbegegnungen, vor allem auf Empfängen, die ich an der Seite meines Chefs und Freundes Gotthard Dietrich bis heute gelegentlich zu besuchen habe. Sie beschränkten sich aber auf tote oder hohe Tiere. Die toten lagen auf Büffets herum und die hohen standen davor. Doch keines davon hat sich noch einmal so unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt wie damals die Kobra in der Villa von Wissa Wassef oder die musikalische Katze in der Alten Oper. Stopp! Da hätte ich eigentlich noch von einem Kamel namens Bismarck zu erzählen, dem ich an der Cheops-Pyramide begegnet bin. Was es an gängigen Leckerbissen wie Bismarckeiche und Bismarckhering vorgezogen hat, soll an dieser Stelle aber noch mein Geheimnis bleiben.

Vielleicht erzähle ich die Geschichte den Papyrus-Lesern ein anderes  Mal.

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