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Das muss auch gesagt werden können

2012 17. April
von Martin Löschmann

Bin mit 77 mal wieder in die Überarbeitung meiner Erinnerungsbruchstücke eingetaucht, bei den Wendefährten angekommen und will diese nun endlich dem herderblog.net anvertrauen. Da kommt mir die Grass-Debatte um ein politisches Gelegenheitsgedicht „ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“ (Goethe, Faust/Auerbachs Keller) in die Quere und hält mich vom Weiterschreiben ab. Ärgerlich. Doch wen soll ich für meinen Ärger verantwortlich machen? Nobelpreisträger Günter Grass, der ein Gedicht der besonderen Art geschrieben, die Süddeutsche Zeitung, die es abgedruckt hat,  die Heerscharen der sich auf Grass einschießenden Diskutanten? Oder ist es gar ein willkommener Anlass, mein Nicht-Weiterkommen in eigener Sache zu begründen. Nein, Günter Grass will und kann ich keinen Vorwurf machen. Sein Gedicht in der Tradition der politischen Dichtung eines Herwegh, von Fallersleben, Tucholsky, Fried, Brecht und wie sie alle heißen, will offensichtlich mit seinem Gedicht in die politische Debatte eingreifen, etwas bewirken, mit dichterischen Mitteln auf die akut drohende kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten aufmerksam machen. Das kann doch erst einmal nicht verkehrt sein, selbst wenn die Mittel schlecht eingesetzt wären. Wozu aber eine Wortmeldung, wenn sie nur das beschreiben soll, was ist und nicht auch das, was sein könnte. Dichtung hat es doch auch mit Denkmöglichkeiten, mit emotionaler Intelligenz, emotional begründeten Vorwegnahmen, mit Vorausschau zu tun. Dass die Gefährdung, die vom gegenwärtigen iranischen Machtsystem ausgeht, womöglich bagatellisiert, der iranische Holocaust-Leugner und Israel permanent Bedrohende nur als „Maulheld“ bezeichnet wird, ist des Dichters Freiheit, die man hinnehmen muss. Das impliziert nicht die Akzeptanz der Argumente. Die Gleichsetzung der gegenwärtigen Regierung Israels mit dem Volke hat der Autor selbst als Mangel erkannt. Aber rechtfertigen diese und womöglich andere Schwächen des Gedichts, ihm das Maul stopfen zu wollen, ihm zu sagen, es hätte das Gedicht nicht schreiben dürfen, die Hoffnung auszudrücken, es möge wirklich seine „letzte Tinte“ sein? Auch der Süddeutschen vermag ich nicht zu unterstellen, sie habe durch den Abdruck des Gedichts die zu erwartende Debatte heraufbeschworen, denn ich gehe nicht davon aus, dass es ein Auftragsgedicht der mächtigen Zeitung aus dem Süden war, eher, dass Grass es der Zeitung angeboten hat. Sie hätte die Drucklegung ablehnen können, ja müssen, wenn es ein „antisemitisches Machwerk“ ist. Ich schätze die Süddeutsche viel zu sehr, als dass ich auch nur einen Moment denken würde, sie hätte die politische Brisanz des Gedichts nicht erkannt. Wäre es indes von den Beschimpfern und Verunglimpfern des Nobelpreisträgers nicht konsequent, wenn sie nicht nur Grass, sondern auch die Zeitungen angriffen, die das vermeintliche antisemitische Werk veröffentlicht haben. Viel lieber dreschen sie auf den „armen alten Mann“ ein. Bleibt noch das etablierte Feuilleton, das sich zum Fürsprecher der political correctness macht und eine Hetzjagd gegen Grass inszeniert. Dessen Vertreter sind es, die mich von meinem eigenen bescheidenen Schreiben abhalten, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir eine ähnliche, wenn auch inhaltlich ganz anders geartete Treibjagd nach der Wende in Bezug auf Christa Wolf erlebt haben, dann auch bei Peter Handke, der sich für eine differenzierende Betrachtung der kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbiens eingesetzt hatte und einsetzt, und auch bei Christian Krachts Roman Imperium in jüngster Zeit. Alle hier erinnerten Vorgänge betreffen völlig unterschiedliche Autoren, Werke, Inhalte, künstlerische Handschriften. Das Schreiben und Sprechen gegen sie ist zwar nicht gleichgeschaltet, wohl aber gleichgerichtet: Es wird immer die jeweilige Person diffamiert, weniger die Sache verhandelt. Um mich hier nicht in Details zu verlieren, will ich mein Ungemach gegenüber dem etablierten Feuilleton kurz begründen. Erstens vermisse ich den erforderlichen Respekt einem verdienten Schriftsteller gegenüber, der weltbekannt und obendrein noch Nobelpreisträger ist. Ganz gleich, was man gegen ihn vorzubringen weiß, sein Gedicht rechtfertigt nicht solche herabwürdigenden Attribuierungen wie „eine literarische Todsünde“ (Biermann), „das Gedicht ist schwachsinnig“ (Degen), „närrisch“ (Karasek), „ekelhaftes Gedicht“ (Reich-Ranicki), „žnicht geistreich, sondern absurd“ (Westerwelle) usw., usw. Doch noch zwei weitere Beispiele schnell nachgereicht: „Du bist geblieben, was Du freiwillig geworden bist: Der SS-Mann.“ (Hochhuth), „krasse historische Dummheit, dass mir die Worte fehlen“ (Grünbein). Zweitens, beklage ich die Altersdiskriminierung: Die feine Art zelebriert Maybrit Illner, die ihrer Sendung den Titel gab: Der alte Mann und sein Gedicht. Die Kolumme der Frankfurter Rundschau wird schon etwas gröber: Der alte Mann und die Obsessionen, dann kommt der Komparativ, (von dem man weiß, ein älterer Mensch muss nicht unbedingt ein alter sein), „älterer Schriftsteller, der offenbar an einer gewissen Selbstüberschätzung leidet Hillenbrand), dann geht es krass zur Sache: Nicht ganz dicht, aber ein Dichter (Broder), Trottel (Brüssler) usw. Drittens, auch ein „grottenschlechtes“ Gedicht ist ein Gedicht. Um es als ein schlechtes Gedicht zu charakterisieren, muss man es jedoch zuerst als Gedicht rezipiert, bestenfalls sogar erst einmal analysiert haben, ehe man sich lauthals in die Öffentlichkeit wagt. Es ist schlicht und einfach unfair, dem Gedicht mit Kriterien beizukommen zu wollen, die möglicherweise für einen Leitartikel, einen Essay oder das Sachbuch gelten. Kaum einer der Kritiker/Kritikerinnen macht sich die Mühe, das Grass’sche Gedicht in die Vielfalt lyrischer Schöpfungen einzuordnen. Mir scheint, die meisten Diskutanten haben gar nicht mitbekommen, dass sich schon bei Goethe Gedichte ohne Reimschema und mit freien Rhythmen finden. Die Ausdifferenzierung ist auch im Poetischen weitergegangen. Es gibt Dichtungen, in denen sich der freie Vers der Prosa annähert und umgekehrt. Was nun, wenn es sich bei Grass um ein Prosagedicht handelte, dem nicht das überkommene traditionelle Gedichtmuster übergestüplt werden darf. Selbstverständlich steht es jedem frei, eine solche Gedichtform abzulehnen, sie schlecht zu finden, meinetwegen auch „grottenschlecht“. Will man sich aber ernsthaft mit dem Gedicht von Grass auseinandersetzen, wird man um eine literarische Interpretation nicht herumkommen. In den weitgehend gleichgerichteten Talkrunden zum Grass-Gedicht habe ich kaum einen Literatur-Experten ausmachen können, geschweige denn einen Grass Belesenen entdeckt, sieht man von Volker Schlöndorff ab, der die Blechtrommel  kongenial verfilmte und die „Hysterie um Grass nicht nachvollziehen kann. Peter Scholl-Latour steht für mich als Vertreter der großen Gruppe von Grass-Ignoranten: Er habe ein Werk von Grass bis zur Hälfte gelesen und fand es ganz interessant, doch dann sei er enttäuscht gewesen und habe es aus der Hand gelegt (dem Sinne nach wiedergegeben). Keiner in der Illner-Runde hat darauf reagiert etwa in dem Sinne: Ganz so einfach könne man es sich nicht machen, von der Hälfte eines Buches könne man nicht auf das Gesamtwerk schließen, auch nicht von einem einzelnen Gedicht, und sei es auch noch so brisant oder schlecht. Viertens, es ist nicht nur die Zeilenbrechung, die Strophenform, die das Gras’che Produkt äußerlich zum Gedicht macht, ich erkenne einen bestimmten Gestus, der rhythmisch unterlegt ist, doch viel wichtiger scheint mir die erkennbare intentionale Gesamtstruktur zu sein, die man nicht unterschlagen darf. Für mich strebt das Gedicht zur Botschaft der letzten Strophe hin: „Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen. Die Frage, inwieweit diese Botschaft in den einzelnen Strophen dichterisch zwingend gestaltet ist, ist damit jedoch nicht beantwortet. Wer wollte bestimmte Unzulänglichkeiten übersehen. Sie können aber nicht unabhängig von den Inhalten bestimmt werden und rechtfertigen schon gar nicht, einzelne Bilder, Metaphern, Passagen, Strophen aus dem Gesamtkontext herauszulösen und isoliert einzig und allein mit der political correctness-Brille zu betrachten. Fünftens ist es völlig abwegig von diesem Gedicht etwas ‚Neues‘ im Sinne der Informationsvermittlung über die Konfliktsituation in Nahost zu erwarten. Grass ist kein Enthüllungsjournalist. Er kann uns, den Rezipienten, auf seine Weise die Augen öffnen, indem er Mainstream-Tabus bricht, uns bestenfalls zum Handeln stimulieren, sich für eine alternative Lösung zum Präventivschlag einzusetzen, den er als das bezeichnet, was er ist, einen Erstschlag. Der Begriff Erstschlag bei Grass hinterfragt absichtsvoll dem im offiziellen Sprachgebrauch gesetzten Präventivschlag. Wer das Gedicht einigermaßen verstanden hat, kann deshalb dem Dichter nicht vorwerfen, den falschen Ausdruck gewählt zu haben. Präventivschlag verharmlost die Gefahren für den brüchigen Frieden, die er heraufbeschwören kann. Damit hoffe ich mich mit meinen Anmerkungen des ‚Pudels Kern‘ genähert zu haben, den Ruth Schneeberger in ihrer TV-Kritik zu Jauchs Talk (Süddeutsche.de vom 16.04) bei Jakob Augstein entdeckt hat, nämlich „die werkimmanente Forderung von Günter Grass an die Deutschen, nicht länger die Augen zu verschließen vor einem militärischen Konflikt im Nahen Osten, einer drohenden kriegerischen Auseinandersetzung, an der auch Deutschland, womöglich auch aus einer historischen Schuld, sich zu Unrecht beteiligen könnte. Sei es mit Waffenlieferungen, U-Booten oder anderweitiger Unterstützung der einen Seite, nämlich Israels.“ Nachdem ich so die fünf Punkte abgearbeitet habe, die meinen Ärger verursachten, stelle ich fest, mein Ärger schwindet. Ich weiß jetzt, ich werde aus der Auseinandersetzung mit dem unwürdigen Umgang mit Was gesagt werden muss von Günter Grass Kapital für meine Erinnerungs-Bruchstücke schlagen und dort das Potential des Gedichts als Sprech- bzw. Schreibanlass beschreiben, dass es in unserer Jetztzeit hat.

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  1. Kati Löschmann permalink
    April 28, 2012

    In Deinem Artikel fand ich einige neue Gedanken, die mich zum Verweilen auf Nebenschauplätze eingeladen haben.
    Ja, auch mir fehlt der Respekt vor dem Nobelpreisträger.
    Und mir fehlt der Respekt vor mir selbst. Stimme ich doch seit vielen Jahren stumm zu, dass Waffen aus den Fabriken vom Bodensee und aus Thüringen nach Nah-Ost verschifft werden.
    Ich lehne Günter Grass Äußerungen krass ab, weil sie mir das eigene deutsche Versagen vor Augen halten.
    Danke dir und dem Nobelpreisträger für die Denkanstöße.

    Kati

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