Als Emissär des Herder-Instituts am Nil Oder Tief ist der Brunnen der Vergangenheit
Mein Ägyptenfieber brach genau am 24. Dezember 1950 aus. An diesem Tag schenkte mir mein älterer Bruder ein Buch, das ich noch am Heiligen Abend von der ersten bis zur letzten Seite verschlang. Sein Titel: „Das Grab des Tut ench Amun.“ Sein Autor: Howard Carter. Und dieses Fieber hält mich bis heute fest in seinem Bann. Mag man es nun einen schönen Zufall oder Schicksal nennen – einerlei: Seit 1993 bin ich Mitarbeiter der Rahn Dittrich Group (RDG), einer Unternehmensgruppe, die seit vielen Jahren auch in Ägypten tätig ist. Als gemeinnützige Schulgesellschaft hat sie sich dort große Verdienste um den Aufbau der Deutschen Hotelschule in El Gouna und der Privaten Deutschen Schule Kairo erworben. Derzeit ist die RDG in Kairo mit ihrer ägyptischen Niederlassung der „German-Arab Consulting of Education“ vertreten und bereitet in Maadi ein interessantes deutsch-ägyptisches Bildungsprojekt vor. In all diese Projekte war bzw. bin ich eingebunden, sodass ich bis jetzt immer wieder einmal im Land meiner Sehnsucht weilen konnte.
Den Nil sehen und sterben! Dieser Gedanke beherrschte mich seit der Lektüre des Carter-Buches. Als das scheinbar unerreichbare Ziel unerwartet in greifbare Nähe rückte, wollte ich es nicht glauben. Und dann ereignete sich doch das Unfassbare. Es war am 26. November 1968. Ich landete mit meiner Frau und meinen zwei sechsjährigen Töchtern in Kairo. Die erste Nachricht, die mich dort ansprang, lautetet sinngemäß: Vollbesetzter Bus in den Nil gestürzt. Etliche Tote zu beklagen. So wörtlich hatte ich das nun nicht gemeint mit dem Sterben. Doch der Schreck konnte die Freude nicht wirklich trüben und die Zeitung, die mir den Horror vermeldet hatte, sollte für drei Jahre mein Leib- und Magenblatt werden: The Egyptian Gazette.
Natürlich war ich nun a priori darauf eingestimmt, dass man in Kairo gefährlich lebt. Wie sich schnell zeigte, drohte mir Gefahr sogar von mehreren Seiten. Am 1. April 1969 beispielsweise erschütterte ein Erdbeben Kairo. Kein Aprilscherz. The Egyptian Gazette titelte: MEDIUM EARTHQUAKE ROCKS CAIRO —NO DEAD. Meine Frau war gerade im Taxi unterwegs und hatte es deshalb nicht mitbekommen. Ich dafür umso mehr. Doch die wirklich großen Gefahren lauerten ganz woanders.
Der Sechstagekrieg lag gerade mal ein Jahr zurück und die Lage war noch überaus angespannt. Einmal standen wir frühmorgens plötzlich im Bett. Der Schreck hatte uns in die Höhe schnellen lassen. Ein israelisches Geschwader jagte im Tiefflug über Kairo hinweg und riss durch den enormen Luftdruck eine Schneise zerbrochenen Fensterglases quer durch die ganze Stadt.
Die weitaus größere Gefahr drohte uns freilich aus der fernen Heimat. Dessen wurden wir allerdings erst allmählich gewahr. Man muss wissen: Wir waren DDR-Bürger und sahen uns bei unserer Ankunft am Nil sozusagen unvermittelt ins Paradies gebeamt. Es gab Palmen, es gab Bananen, es gab Nescafé, es gab Nylonstrümpfe. Und wie es sich für ein richtiges Paradies gehört auch einen Baum der Erkenntnis mit verbotenen Früchten. Der Baum stand in der altehrwürdigen Buchhandlung Lehnert & Landrock. Statt Äpfeln hingen an ihm freilich bunte bundesrepublikanische Zeitungen und Zeitschriften. Sie übten eine geradezu magische Anziehungskraft auf uns aus. Wie sollten wir der dauerhaft widerstehen?! Es erging uns am Ende natürlich nicht anders als Adam. Wir fielen in Sünde. Und es handelte sich nicht um eine lässliche Sünde, sondern um eine Todsünde. Nun mussten wir der Vertreibung aus dem Paradies gewärtig sein. Es sei denn, der tiefe Sündenfall ließe sich verborgen halten.
Auf unseren Nachttischen glaubten wir die Spiegel und Sterne zunächst relativ sicher aufgehoben. Doch von Woche zu Woche türmte sich mehr davon auf und uns dämmerte, dass wir uns der subversiven Druckerzeugnissse irgendwann einmal entledigen müssten, und zwar unbemerkt von Mielke & Co. Darin bestand das Problem, denn die Fa. Horch & Guck konnte überall Mitarbeiter heimlich in Stellung gebracht haben. In der Nachbarwohnung oder überhaupt in unserem Haus in der Sharia Ahmed Orabi. In den Läden, in denen wir kauften. In der Madressa Al Alsoun in Zeitoun. wo ich als Deutschlektor arbeitete. Wirklich überall. Etwa ein halbes Tausend DDR-Bürger wohnte damals für kürzer oder länger in Kairo.
Was also tun mit dem schwarzbunten Gift aus dem bösen Westen? Verbrennen? Aber wie?! Öfen gab es nicht. Morgens in den Mülleimer vor die Tür stellen? Um Gottes Willen. Bevor die Müllmänner kamen, konnten sie dort von anderen gesehen werden.
Die Zeit des Heimaturlaubs rückte bedrohlich näher und die Angst nahm uns immer fester in den Würgegriff. Vor dem Heimflug hatten wir die Wohnungsschlüssel in einer Verwaltungsstelle abzugeben. Dann gab es freie Bahn für die, deren Profession es war zu schnüffeln. Endlich eine erlösende Idee: Ich schnüre die Zeitschrift zu einem Paket und lasse das auf dem Weg zur Arbeit im Taxi liegen. Wir atmeten auf. Überaus heiter setzte ich mich am nächsten Morgen zu meinem vertrauten Chauffeur in sein etwas klappriges Gefährt. Mich beschwingte zudem die Überlegung, dass ich damit dem Fahrer etwas Gutes täte, denn diese Journale ließen sich ganz bestimmt noch gut verhökern.
Es kam anders. Man sollte nicht darauf vertrauen, dass der Geschäftssinn der Ägypter stärker ausgeprägt ist als ihre Ehrlichkeit. Zum Teufel mit diesen Vorurteilen und Klischeebildern! Mein Taxifahrer jedenfalls war grundehrlich. Sein Geschäftssinn zeigte sich nur darin, dass er behauptete, das Paket erst in der Nähe des Mena House Hotels bemerkt zu haben, sodass ich nun die Strecke von dort bis nach Zeitoun und zurück in die City zu zahlen hätte. Ich tat das ohne zu feilschen, um nicht noch mehr Aufsehen zu verursachen, denn das laute Palaver, das sich auf dem Hof entwickelt hatte, als der Taxifahrer nach seinem Eintreffen den Bowab nach mir fragte, hatte schon genügend Neugierige auf die Galerien gelockt.
Nach langem deprimierenden Grübeln am Abend des missglückten Befreiungsversuchs sagte meine Frau plötzlich in die Stille hinein: “Der Nil!“ Ich begriff sofort. Seit Jahrtausenden gilt der Nil in Ägypten als der große Hoffnungsträger. Warum sollte er sich nicht auch für uns als solcher erweisen? Wir sahen uns im Geiste gleich auf einer seiner Brücken stehen, umfächelt von der lauen lindernden Luft eines späten Abends. Unter uns der majestätisch dahinströmende Fluss, dunkel und unergründlich, nur geheimnisvoll gesprenkelt von den irisierenden Spiegelungen der vielen Lichter am Ufer. Und ganz unauffällig in Höhe unserer Oberschenkel baumelnd kleine, gut verschnürte Pakete, an Bindfäden sicher gehalten von unseren nur leicht zitternden Händen. Nur eines kleinen entschlossenen Schwungs würde es bedürfen. Das leise Aufklatschen wäre in der geräuschvollen Umgebung kaum zu hören. Und wir würden frei sein, frei, frei. So frei, wie man in der freien Welt nur sein könnte. All unsere Hoffnung fokussierte sich in dem Gedanken, dass der Fluss gnädig aufnehmen möchte, was uns so unendlich bedrückte. Schon am nächsten Abend machten wir uns auf den Weg. Froh gelaunt stiefelten wir stracks quer durch Zamalek. Schon tauchte rechts die Silhouette des Omar Khayyam Palastes auf. Nun waren es nur noch wenige Schritte. Die letzten blieben ungetan. Zwei Milizionäre hatten uns ins Visier genommen. Wie konnten wir nur vergessen, dass sich Ägypten noch im Kriegszustand befand! Nichts wird da sicherer bewacht als Brücken! Uns rettete nur, dass mir einfiel, meine Frau stürmisch zu umschlingen, als seien wir ganz frisch Verliebte. Wie von ungefähr wechselten wir danach die Richtung. Nun war also nicht ins Wasser gefallen, was wir uns erhofft hatten. Unsere Hoffnung dafür war es allerdings. Gottlob nicht die letzte.
Dum spiro, spero. Hoffe, solange du atmest! Was blieb uns weiter übrig, als uns daran zu halten. Hinter unserem Hause befand sich eine große Baugrube. Täglich wurde sie tiefer gegraben. Wie unermüdliche Ameisen trugen Arbeiter in Schilfkörben Erdreich aus dem gähnenden Schlund. Vom Balkon aus konnten wir ihn sehen. Nachts erschien er als tiefschwarzes Loch. Von der Brüstung über den kleinen Hof hinweg bis zur Grube dürften es vielleicht nur reichlich vier Meter sein. Oder fünf. Keine Distanz für einen Kugelstoßer. Doch ich arbeitete überwiegend mit dem Kopf und hatte in Turnen nie glanzvolle Noten erreicht. „Übung macht den Meister“, ermutigte mich meine Frau. Ich übte im Klub. Und dann nahm ich eines Nachts allen meinen Mut zusammen. Und all meine Kraft. Es war wirklich Matthäi am Letzten. Zwei Tage blieben gerade noch bis zum Abflug. Ein unmerkliches Schwirren. Ein fast unhörbarer Aufschlag. Die Nacht deckte ihren Mantel darüber. Allahu akbar.
Eintrag 18.Mai 2012: Jetzt auch im Magazin Papyrus H. 5, Mai/Juni 2012, 32. Jg., S. 40f. zu lesen:
www.papyrus-magazin.de