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Mein Forschungsstudium am Herder- Institut

2011 25. Dezember
von Sylvia Eggert

Ende 1984 studierte ich, Sylvia Eggert, im letzten Studienjahr meiner Ausbildung zur Diplomlehrerin für Englisch und Deutsch an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Sektion TAS (Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaften) – „mit vielen Rosinen im Kopf“, wie meine DDR-planwirtschaftsgequälten Eltern immer meinten.[1] Glücklicherweise hatte mich die Natur nicht nur mit einer hohen Begeisterungsfähigkeit ausgestattet, sondern auch mit einer guten Auffassungsgabe, was sich sehr förderlich auf meine Studienergebnissen auswirkte. Kurz vor Weihnachten des Jahres 84 klopfte der Weihnachtsmann, an den ich eigentlich schon lange nicht mehr geglaubt hatte, gleich mit zwei Angeboten bei mir an. Mit zwei Angeboten, mit denen ich zuerst nichts so recht anzufangen wusste: Zwei verschiedene Einrichtungen schlugen mir kurz hintereinander vor, bei ihnen ein Forschungsstudium zu absolvieren. Ein Forschungsstudium? Ich hatte keine Ahnung was das sein sollte. Klang aber gut. Geforscht hatte ich schon als Kind gerne. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Bereits mit zwölf hatte ich in und mit ihren Küchenutensilien sowie Vatis Rasierklingen Präparate aus Schnecken, Regenwürmern und Käfern für meine Mikroskopier-Hexenküche vorbereitet und analysiert. Mit meiner damaligen, kindlich/neu-gierigen Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, konnte ein Forschungsstudium am Lehrstuhl für Anglistik/Wissenschaftsbereich Englische Grammatik wohl nur weniger zu tun zu haben. Dachte ich mir. Und in meinem Gespräch mit dem Grammatik-Professor erfuhr ich dann auch, dass es bei einem Forschungsstudium darum ginge, innerhalb von drei Jahren eine Promotion zu einem Thema im jeweiligen Fachgebiet – hier also in English Grammar – zu schreiben. Promovieren in Englischer Grammatik? Ich lehnte das Angebot ab, ohne weiter zu überlegen. Zugegeben, ich mochte das Studienfach gern,  für hirnakrobatische Übungen und die Schulung eines strukturierten, logischen Denkens, wie ich mir manchmal schmunzelnd gestand. Für die Praxis des Unterrichtens erschien es mir jedoch genauso sinnvoll wie eine Wurzelholzfurnierausstattung für einen Trabbi. Das drückte ich dem Professor gegenüber zwar nicht ganz so direkt aus, doch der schien mir meine Ablehnung dermaßen übel zu nehmen, dass er bei meiner Abschlussprüfung in diesem Fach sämtliche Register seines Könnens zog, um mir zu beweisen, dass ich das Angebot sowieso nicht verdient hatte. Die zweite Anfrage bezüglich eines Forschungsstudiums kam vom Herder-Institut, einem – wenn nicht dem  Zentrum für Deutsch als Fremdsprache (DaF) der damaligen DDR. Deutsch als Fremdsprache? Das muss etwas mit Ausländern zu tun habe, dachte ich mir sofort völlig euphorisch. In mir wuchs die Hoffnung, dort meine Fremdsprachenkenntnisse endlich öfter als bisher ernsthaft anwenden zu können. Russisch hatte ich ja ab und zu mal mit Muttersprachlern sprechen können, wenn auch meist nur mit Gesprächspartnern, deren (Soldaten-)Gedankenwelt sich doch sehr von der meinigen unterschied. Mit meinem heiß geliebten Englisch sah es da noch trauriger aus. Unsere einzige ‚Native-Speaker-Stunde‘ pro Woche, das war für uns zukünftige Englischlehrer jahrein jahraus das Highlight! Auslandspraktika oder gar Auslandssemester -“ sowas gab’s nicht. Auch urlaubstechnisch verfügte man als DDR-Bewohner bekanntlich nur über sehr bescheidene Möglichkeiten des Auslandskontakts. Da übte natürlich jeder Ausländer eine magische Anziehungskraft aus. Die Gespräche mit Menschen aus anderen Kulturen würden den Blick weiten, dachte ich mir, und sie würden Gelegenheit bieten, Englisch zu sprechen … Das klang wahrlich verlockend! Hinzu kam, dass das Promotionsangebot vom Wissenschaftsbereich Didaktik/Methodik des Herder-Instituts stammte. Fremdsprachendidaktik kannte ich aus meinem Lehrerstudium als sehr praxis-orientiert. Das Thema, das mir Prof. Lö¶schmann[2], der Leiter des Wissenschaftsbereichs, dann bei unserem ersten Gespräch vorschlug, schien auf den ersten Blick allerdings wenig praxisnah zu sein: „Systematisierung und Differenzierung von Wortschatz“. Hm, naja, schauen wir mal, dachte ich mir, trotzdem neugierig geworden. Außerdem mir wurde schnell klar, dass so ein Forschungsstudium für mich eine riesige Chance war: Ich könnte mich weitere drei Jahre mit Büchern beschäftigen, Bibliotheksluft schnuppern, könnte Wissen verknüpfen, könnte unterstützt durch ein Forschungsstipendium in Höhe von fünfhundert Mark noch mehr lernen und studieren. Und schließlich würde am Ende des Weges die Chance auf eine Arbeit an einem der Auslandsinstitute winken. Wenn das kein Ansporn war?![3] Also sagte ich zu unter einer Bedingung: Ich wollte vorab Praxiserfahrung im DaF-Unterricht sammeln. Wie sollte ich über einen Fachbereich schreiben können, in dem ich keine Praxiserfahrung hatte?! Meine Bitte löste zwar zuerst Erstaunen aus, doch man suchte und fand eine Möglichkeit, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich wurde für ein Jahr als Lehrer im Hochschuldienst eingestellt mit einem Gehalt, das mir nach 300 Mark Leistungs-Stipendium traumhaft erschien und als Einstiegsgehalt weit über dem lag, was meine Eltern mit ihren mehr als dreißig Berufsjahren bekamen. Ich durfte zum Unterrichten in die Abteilung Erziehung und Ausbildung gehen, an der ausländische Bewerber für ein Studium in der DDR sprachlich auf das Universitätsstudium vorbereitet wurden. Zuerst hospitierte ich einige Wochen, dann durfte ich anfangs unter Begleitung und später ganz allein eine kunterbunte, multikulturelle Gruppe unterrichten. Es war für mich faszinierend, wie wir in ganz kleinem Rahmen Völkerverständigung probten. Da saßen z.B. jeweils ein Student aus dem Irak und einer aus dem Iran zusammen in meinem Gruppenzimmer – zwei junge Männer, deren Völker im ersten Golfkrieg gerade aufeinander schossen. Mit den beiden kämpften Studenten aus Äthiopien, dem Jemen, aus Jordanien, Jugoslawien, der Mongolei, aus Senegal und Ungarn gemeinsam an einer Front gegen die Tücken der deutschen Sprache. Und ich erhielt erstmals ein Bewusstsein dafür, wie diese funktioniert. Ich bewundere noch heute die Leistung der Studenten, diese Sprache innerhalb von einem Jahr so zu lernen, dass sie danach damit ein Studium absolvieren konnten. Parallel zu diesem Praxisjahr stieg ich als Gasthörerin in die etwa alle sechs Wochen stattfindenden Doktorandenseminare des WB Didaktik/Methodik ein. In diesem Rahmen hielten Forschungsstudenten und Aspiranten aus diesem Wissenschaftsbereich Vorträge über den jeweiligen Erkenntnisstand ihrer Untersuchungen. Immer wieder wurden auch Gäste aus der Linguistik und der Fremdsprachen-psychologie eingeladen. Die Vertreter der verschiedenen Disziplinen diskutierten über die präsentierten Inhalte und die angewandten Untersuchungsmethoden. Ich persönlich fand diesen Austausch  als Zuhörerin  immer sehr spannend und förderlich, weil man angeregt wurde, über den Tellerrand des eigenen Forschungsgebietes zu schauen. Gleichzeitig ließen diese Präsentationen mein Lampenfieber steigen –  die Angst vor dem Moment, an dem ich das erste Mal selbst da vorn zu stehen und meine Zwischenergebnisse vorzustellen hatte, wuchs. Der Zeitpunkt, an dem es dann so weit sein sollte, zog sich noch eine Weile hinaus. Nachwuchs hatte sich nämlich in unserer jungen Ehe angekündigt. Ich muss gestehen, dass ich großen Bammel davor hatte, meinem Doktorvater meine Schwangerschaft zu beichten. Doch zu meiner großen Erleichterung nahmen er und seine Frau, die im Institut am selben Lehrstuhl wie mein Professor arbeitete, sie als das, was sie ja im Grunde war: ein freudiges Ereignis. Die beiden half mir, alle Formalitäten zu regeln, die nötig waren, um die erforderliche Verlängerung für mein Forschungsstudium zu organisieren. So konnte ich der Geburt meines Kindes und dem Mütterjahr ganz entspannt entgegensehen. Der Staat sorgte für eine gute finanzielle Absicherung, die sich an meinem LHD-Gehalt orientierte. So war diese gemeinsame Zeit mit meinem Kind ein weiteres wunderbares Geschenk. Was fü eins, das kann ich erst heute so richtig nachvollziehen, wo immer mehr Frauen ein Kind – leider oft nicht grundlos – als das Aus für eine wissenschaftliche Karriere betrachten müssen. Nach der Rückkehr ans Institut stand eigentlich wild entschlossenen Forschungsgetümmel auf dem Plan. Allerdings gab es damals für werdende Krippenkindern noch keine solch schonende Eingewöhnungsphase wie heute. Mutti musste ihr Kind an der Tür zum Gruppenraum abgeben, sich umdrehen und gehen. Mein kleiner Sohn protestierte auf seine Weise gegen diese unsanfte Abnabelung, die mir – ich muss es gestehen – auch jedes Mal fast das Herz zerriss: Er wurde andauernd krank. Doch auch hierauf reagierte mein Professor immer wieder mit Verständnis und Unterstützung, statt mit Ungeduld und Drängen, wofür ich eine große Dankbarkeit empfand. Nachdem sich Tim gut in der Krippe eingewöhnt hatte, wurde ich Stammgast in der Bibliothek des Instituts und in der Deutschen Bücherei, las auch abends zu Hause, wann immer es mir möglich war. Und es hatte mich gepackt – mein Forschungsfieber. Das Thema entpuppte sich als eines, in dem sich Didaktik/Methodik, Fremdsprachenpsychologie und Sprachwissenschaft überschnitten. Das war spannend! Und irgendwie verrückt, denn teilweise landete ich nun doch wieder bei Modellen, die ich aus English Grammar kannte. Ich bekam nicht nur von den Mitarbeitern unseres Fachgebietes viele interessante Impulse, sondern beispielsweise auch von Frau Prof. Wotjak oder Herrn Prof. Helbig, Linguistik, sowie von Herrn Prof. Esser oder Herrn Dr. Matz, Fremdsprachenpsychologie. Nach meinem ersten Vortrag im Doktorandenseminar revidierte Prof. Löschmann die skeptische Meinung, die er nach unserem Erstgespräch bezüglich meines Potenzials an Ernsthaftigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit mir gegenüber empfunden hatte. Und etwa nach einem Jahr intensiven wissenschaftlichen Studierens schickte er mich zur ersten Feuertaufe: Bei einer Konferenz für Nachwuchswissenschaftler in Warschau sollte ich meine Vortragspremiere im internationalen Rahmen haben. Ich war so nervös, dass ich keinen klaren Satz mehr denken konnte. Der Spruch von Prof. Löschmann: „Wenn du das hundertmal gemacht hast, dann hast du kein Lampenfieber mehr“, half mir in dem Moment nur wenig. Aber glücklicherweise funktionierte der natürliche Adrenalin-Schub im Augenblick des Auftritts so gut, dass der Vortrag gut gelang und ein sehr positives Echo fand. Im Ergebnis dessen erschien erstmals ein wissenschaftlicher Artikel von mir in einem Tagungsband. Proben hieß der, das weiß ich heute noch. In der Folgezeit erschienen dann Beiträge in der hauseigenen Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache“, die später vom Langenscheidt-Verlag fortgeführt wurde und in anderen Fachzeitschriften.   Nun vergrub ich mich natürlich nicht nur in der Lektüre von Büchern. Zwischendurch erhielt ich immer wieder Gelegenheit, in Sommerkursen für Deutschlehrer und Germanisten oder in Landeskunde-Kursen für ausländische Kursteilnehmer mitzuarbeiten. Diese Kontakte mit Menschen aus aller Welt liebte ich sehr. Spannend wurde es auch jedes Mal, wenn ich die Modelle, die ich mir im Rahmen meiner Doktorarbeit ausgesponnen hatte, im Sprachunterricht der Abteilung E/A erproben konnte. Dabei merkte ich, was funktionierte und was nicht. Kurz und gut,  die drei Jahre Forschungsstudium verging wie im Flug. Ich las und las fleißig weiter, immer bemüht, meine eigenen Gedanken zu untermauern durch wichtige Erkenntnis-Mosaiksteinchen verschiedener wissenschaftlicher Autoritäten. Wenn man andere Autoren mit ihren Ideen sachgerecht zitieren und alle Quellenangaben noch im Griff haben will, dann muss Ordnung herrschen, das wissen wir spätestens, seit sich ‚guttenbergen‘ neu in den deutschen Wortschatz eingeschlichen hat. In Ermangelung von Karteikästen in passender Größe, mussten bei mir daher Schuhkartons mit verschiedenen Registern herhalten, um meine Exzerpte aus Fachbüchern und -zeitschriften in eine sinnvolle Struktur zu bringen. Der Arbeitsgang des Exzerpierens war damals übrigens noch echte Handarbeit, manchmal schrieb ich mir dabei regelrecht die Finger wund, denn Kopierer (wie wir sie heute kennen) oder Scanner waren noch nicht erfunden. Als meine Schuhkarton-Sammlung immer größer wurde und Stapel von ausgeliehenen und selbst gekauften Fachbüchern unsere Wohnung zu überschwemmen drohten, da dachte ich mir: Irgendwann muss Redaktionsschluss sein! Also versuchte ich im politisch stürmischen Jahr 1989, meinem wissenschaftlichen Gedankensturm endlich Form und Guss zu geben. Das war jedoch bei all den gesellschaftlichen Problemen um mich herum nicht ganz einfach. Da redeten sich die Menschen im Lande die Köpfe heiß über Glasnost und Perestroika, über Freiheit und Menschenrechte, und ich sollte mir derweil den Kopf zerbrechen über Wortschatzsystematisierung und -differenzierung?!Ich erinnere mich an das beklemmend-panische Gefühl, das mich an den späten Montagnachmittagen im Herbst 1989 jedes Mal packte, wenn ich durch ein Spalier von Polizei, Kampfgruppe und NVA vom Institut aus nach Hause ging – mit meinem kleinen Sohn an der Hand, dessen Kindergarten auf der Strecke lag. Da brodelte in mir die Angst vorm Bürgerkrieg und irgendwie war das ganzes Weltbild aus den Fugen … Trotz all der Turbulenzen oder vielleicht gerade wegen der Turbulenzen? – schaffte ich es, mich nochmal so richtig in die Dissertation reinzuknien. Mein Betreuer, Prof. Löschmann, half mir mit Strenge: Er setzte mir immer wieder Etappenziele, die ich bis zu bestimmten Zeitpunkten zu erreichen hatte. Manchmal kam ich beimRadeln ganz schön ins Schnaufen, aber auf diese Weise schaffte ich Wegstrecke für Wegstrecke. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich die Arbeit im Entwurf fertig hatte, erinnere mich aber in großer Dankbarkeit daran, wie mein Mann, der zu dieser Zeit gerade sehr lange krankgeschrieben war, die über hundert A4-Seiten abschrieb. Der Fachjargon der Arbeit muss für ihn ähnlich fremd gewesen sein wie für mich seine Computer-Chinesisch-Texte. Trotzdem tippte er unermüdlich mit einer Engelsgeduld. Auf der Schreibmaschine. Immer mit drei Durchschlägen, zwischen jeder Seite ein Blatt Kohlepapier[4]. Für das Maschineschreiben war höchste Konzentration erforderlich, denn jeder Tipp-Fehler war eine Katastrophe, gab es an unserer ‚Erika‘ doch keine Delete-Taste, wie heute beim Computer. Jeder Tipp-Fehler hatte zur Konsequenz, dass die komplette Seite nochmal neu abgeschrieben werden musste. Im nächsten Arbeitsschritt verfasste ich die Thesen zur Arbeit. Das war relativ flott erledigt, denn nun stand ich wirklich voll im Stoff. Siegesgewiss übergab ich sie Prof. Löschmann zur Durchsicht. Doch da kam sein Veto: „Mädel, du hast das alles wunderbar verständlich ausgedrückt, aber in der Fakultät erweckt das einen unwissenschaftlichen Eindruck. Aus meiner Erfahrung kann ich dir nur raten, möglichst viele Fachwörter zu benutzen und deutsche Wörter durch Fremdwörter zu ersetzen.“ Was ich dann mit einer Mischung aus Kopfschütteln und Schmunzel tat. Anschließend gingen die fertig gebundenen Exemplare der Arbeit an die Gutachter und in die Fakultät. Und nun hieß es warten. Warten im doppelten Sinne – auf die Reaktionen der wissenschaftlichen Welt und auf Kindlein Nr. 2, das sich inzwischen angekündigt hatte und im Juli 1990 geboren werden sollte. Ich hoffte, dass ich die Arbeit noch vor der Geburt des Babys verteidigen konnte. Und es klappte! Ende Mai des Jahres 1990 war es so weit: Mit einem ziemlich runden Bauch stand ich an meinem Rednerpult sehr gelassen und ruhig, denn der Körper von Schwangeren ist sehr klug,“ er schüttet in potenziellen Stresssituationen ein natürliches Beruhigungshormon aus. Ich bin überzeugt, dass ich es als Nicht-Schwangere nie so entspannt und selbstbewusst geschafft hätte, vor so eine großen Auditorium zu bestehen. Am 25. Juni 1990, drei Wochen vor der Geburt meiner ältesten Tochter, erhielt ich die Promotionsurkunde der Fakultät für Kultur-, Sprach- und Erziehungswissenschaften der Karl-Marx-Universität, auf der mir der Titel Dr. phil. mit dem Prädikat ‚magna cum laude‘ verliehen wurde. Mir ist bewusst, dass in der Gegenwart kaum noch jemand unter derart behüteten und idealen Bedingungen seine Doktorarbeit schreiben kann. Aus heutiger Sicht kann ich sagen: Es waren wahrhaft paradiesische Zustände, unter denen ich meine Arbeit schreiben konnte – voll konzentriert auf das, was wachsen sollte. Bewusst wurde mir das erst kürzlich wieder, als ich in der LVZ einen Zeitungsartikel über die katastrophalen Spagat-Bedingungen las, unter denen wissenschaftlicher Nachwuchs heute versuchen muss, nebenher zu zwei bis drei Teilzeitjobs seine Qualifikationsschriften zu verfassen.Von daher kann ich nur noch einmal den Satz vom Anfang des Textes wiederholen: Kurz vor Weihnachten des Jahres 84 klopfte der Weihnachtsmann, an den ich eigentlich schon lange nicht mehr geglaubt hatte, gleich mit zwei Angeboten bei mir an. Eines davon hatte ich angenommen. Und ich habe es nie bereut. Auch wenn ich heute nicht mehr wissenschaftlich tätig bin, weiß ich, dass mir diese Zeit als Forschungsstudentin ganz viel gegeben hat für meinen weiteren Weg. Und ist es mir ein wichtiges Anliegen, an dieser Stelle nochmals allen ganz herzlich zu danken, die mich dabei unterstützt haben, dass ich diese Herausforderung bewältigen konnte. Leisnig, (kurz vor) Weihnachten 2011


[1] Aus heutiger Sicht muss ich ihnen recht geben: Ich war, vor allem was die politische Situation in unserem Lande betraf, sehr naiv und gutgläubig. Trotzdem: Manche meiner Rosinen habe ich mir bewahrt. Sie machen das Leben für mich erst lebenswert. So bin ich z.B. auch heute noch ziemlich sicher, dass die (meisten) Menschen im Grunde ihres Wesens gut sind und alle, die an sich glauben mit schöpferischer Kraft ausgestattet sind.
[2] Prof. Löschmann erzählte mir später mal, dass er sich während dieses ersten Gesprächs ernsthaft gefragt hatte, ob/wie aus mir ewig kicherndem jungen Frauenzimmer jemals eine ernsthafte Wissenschaftlerin werden solle.
[3] Übrigens, welche Ironie des Schicksals: Die Bestätigung als ‚Reise-Kader‘, die mich berechtigte, ins NSW(nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet) zu fahren und dort zu arbeiten, erhielt ich erstaunlicherweise trotz mehrerer Verwandter im Westen – wenige Tage nach dem 9. November 1989 .Und übrigens: Einsatzmöglichkeiten im Ausland über das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen gab es bald darauf keine mehr.
[4] Für weitere notwendige Vervielfältigungsarbeiten gab es im Institut ein ziemlich archaisches Gerät, das dauernd kaputt ging. Deshalb war für das Kopieren eine lange Wartefrist einzuplanen, genau wie für das Binden der Arbeit. Da konnte man nicht Nachts fertig werden mit Schreiben und dann am Morgen mit dem Stick zum Copy-Shop gehen, um drei Stunden später alles fertig ausgedruckt und hübsch gebunden wieder abzuholen. Damals waren Geduld gefragt und Beziehungen.

Zur Autorin

  1. Martin Löschmann permalink*
    November 30, 2016

    Das folgende Zitat brachte mich heute, am 30.11. 2016, dazu, in deinem Beitrag zu stöbern, liebe Sylvia. Habe bei dieser und jener Stelle geschmunzelt und das nach fast sechs Jahren.

    “ …. Eine Änderung mit langfristiger Wirkung betraf allerdings auch den Westen: Als Folge seiner Rolle im Einigungsprozess konnte der Wissenschaftsrat seinen Einfluss auf die Gestaltung des Wissenschafts- und Hochschulwesens in ganz Deutschland erweitern. Schon bald wurde klar: Das vereinigte Deutschland braucht im Wissenschafts- und Hochschulbereich eine grundlegende Reform – um deren Gestalt seitdem gerungen wird. Dabei zeigt sich, dass auch manches von dem, was es in der DDR bereits gab, ›wiedererfunden‹ wird. Ich erinnere etwa an die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur (G 8) oder an das Forschungsstudium in Gestalt der Strukturierten Doktorandenausbildung.“
    (Wolfgang Schluchter, Der Umgang der Gesellschaft mit Intellektuellen. Wissenschaftler nach der Wende. In: Denkströme 4/2010, S. 175)

    Du merkst, die heutige „Strukturierte Doktorandenausbildung“ korrespondiert mit dem Forschungsstudium in der DDR, das du genossen hast. Es wird dich kaum noch interessieren. Falls doch, gib einfach den Begriff bei Google ein und schon findest du die verschiedensten Programme. Sie haben alle eine feste Laufzeit, die Doktoranden solcher Programme werden individuell betreut und die Finanzierung der Promotion ist gesichert. Na bitte, geht doch!
    Martin

  2. August 16, 2018

    Was nützt das alles, wenn lt. Bundessozialgericht die drei Jahre Forschungsstudium nicht für die Rente zählen?

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