Der große Rollator oder wie das Herder-Institut das Laufenlernen fördert
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1989
Nach dem Abitur steht erst einmal ein großes Fragezeichen, welches die Ungarn aber schnell in ein Ausrufezeichen verwandeln. Freiheit!
Ich komme nach München, wage zunächst nicht, sofort unter gänzlich neuen Vorzeichen, ein Studium zu beginnen. Es fühlt sich an wie Laufenlernen und als ich plötzlich studieren darf, was ich möchte, habe ich Angst vor dem Fallen.
‚Überwältigend‘ ist ein zu schwaches Wort; ‚overwhelming‘ wäre besser und es trifft auch auf das enorme Angebot an Studiengängen an der LMU München zu. Das Ostabitur mit dem Durchschnitt von 1,5 verwandelt die Zeugnisanerkennungsstelle in einen Durchschnitt von 1,4. Der NC würde mir das Studium der Anglistik, Kunstgeschichte und DaF erlauben, ich erwäge als Studienbeginn das Wintersemester 1991, spüre aber, dass nach Weimar, Eisenach und München die weite Welt ziemlich laut nach mir ruft … Freiheit, wie eingangs erwähnt, ein Traum von einer grünen Insel … und zum Laufenlernen sollte noch das Sprachenlernen hinzukommen. Im August 1990 treffe ich mit meinem gesamten Hab und Gut, das noch in einen Rucksack passt, in Dublin ein. Wer irisches Englisch versteht, kann wahrscheinlich wirklich Anglistik studieren. Auf meinen englischen Beinen stehe ich nach einem Jahr Irland etwas sicherer, in den Englischen Garten in München zieht es mich nicht mehr, wohl auch, weil die Stadt für mein begrenztes Studentenbudget etwas zu teuer ist.
1991
Es reift der Entschluss, nach Leipzig zu gehen, denn zwei Studienträume lassen sich dort realisieren. Vor ganz ganz langer (DDR-)Zeit hatte ich die Idee, Englisch und Portugiesisch zu studieren, nie jedoch die Chance. Jetzt sollte das etwas pompöser Anglistik und Lusitanistik heißen, die ich im Hauptfach und im zweiten Nebenfach belegen werde. Deutsch als Fremdsprache ist dabei eigentlich ein neuer (schon ‚westlicher‘) Studienwunsch, der erst in München geboren wurde, in Dublin nicht verlosch und der sich in Leipzig nun ebenfalls verwirklichen lässt.
Ich reise in diese Stadt der Wende, bin irgendwie wieder daheim, weiterer sozio-politischer Laufübungen bedarf es nicht. Ich fahre in eine sogenannte Lumumbastraße, der Name soll sich noch einprägen … Das Herder-Institut: “Studienberatung / Studieninformationstag“ in einem altehrwürdigen Gebäude, eine Schwerkraftheizung verbreitet eine mächtige Hitze: Durch die Flure hallen Namen wie Professor Helbig, Professor Buscha, Frau Prof. Wotjak und Dr. Grimm. Selbst der erste Name begegnet mir schon kurz nach meinem Studium als Nachruf, Professor Helbig ist gestorben. Ich spreche mit einigen Dozenten und habe das Gefühl, dass dieses Nebenfach interessant werden kann. Herr Grimm sieht mich zwar kaum, aber es geht eine Herzlichkeit, verbunden mit einer gewissen professoralen Zerstreutheit einher, auf alle Fälle eine Ehrlichkeit. Dass auch er heute nicht mehr lebt, ist ein Verlust. Eine Frau Dr. Eggert merkt, dass ich neugierig genug bin und versteht es, mich in meinem Vorhaben zu bestärken.
Auch in der Anglistik treffe ich auf zwei Urgesteine, Professor Graustein und Professor Thiele. Der erste ruft mich irgendwann sogar in Weimar an, um mir die letzten Zweifel zu nehmen. „Leipzig kommt“ heißt es später, jetzt komme ich erst einmal und sollte es nicht bereuen. Im Herder-Institut lerne ich, was das Wort VorLESUNG bedeutet, denn Professor Helbig nimmt dieses Wort etwas zu ernst. Dennoch lerne ich meine Muttersprache neu, begreife erst jetzt, warum dieses Fach so heißt. Deutsch als FREMDsprache diese Fremde zu vertreiben will wirklich gelernt sein. So wie Chomsky die Sprache in kleine Bäumchen zerlegt, zerblättert unter der Stimme Helbigs auch die Angst vor ihr. Doch vorher wollte die Wortbildung untersucht werden. Plötzlich liebe ich Chomsky und frage mich, wie Prof. Grimm über 400 Seiten seiner Habilitationsschrift mit Präfixen, Suffixen und anderen Ungeheuern füllen konnte. Etwas erfrischender geht es dann zu, als die praktische Seite des Faches zum Unterrichtsinhalt wird. Wieder treffe ich auf Frau Dr. Eggert, die sehr viel Schwung und Jugendlichkeit in die heiligen Hallen des Herder-Instituts bringt. Sie ist begeistert und begeistert auch uns. Als ich noch nicht weiß, was eine Filmkamera ist, besuche ich ein Seminar zum Einsatz moderner Medien (besonders der Kamera) im Fremdsprachenunterricht DaF. Die Dozentin ist Frau Dr. Löschmann und sie fixiert uns mit sehr energischen Augen, fordert stetes Vorbereitetsein und schafft es allmählich, uns zu überzeugen, dass wir die Technik und auch sie nicht zu fürchten brauchten- beides eine gute Erfahrung.
Professor Buscha referiert zum Spracherwerb, stellt die Didaktik wieder auf einen sehr theoretischen Sockel. Wir Studenten haben ein wenig das Gefühl, als rede er an uns vorbei. Er verschwindet nach ein paar Jahren aus der Lumumbastraße, zieht weit weit hinauf in die luftigen Höhen des Weisheitszahnes und der Germanistik, Organisatorisches muss plötzlich dort geklärt werden, wir sitzen auf einem Mal mit den Vollzeitgermanisten in einigen Seminaren und das Familiäre weicht. Wenig später weicht auch er. Das Herder-Institut zieht wieder an den Nordplatz zu Lumumba. Dort lerne ich 1993 Frau Prof. Wotjak kennen. Ihre Vorlesungen zur Komparativen Linguistik und zur Lexikologie sind spannend, ihre Prüfungen sind hart, aber auch sie nimmt sich Zeit für ihre Studentinnen und Studenten und lädt mich 1994 ein, als studentische Hilfskraft an einem Projekt zu Fernstudienbriefen für tschechische und polnische Lerner mitzuwirken. Es wird ein aufschlussreicher Blick hinter die Kulissen. Die Autorinnen G. Baudisch und Dr. I. Zoch werden von wissenschaftlichen Beiräten aller möglichen Universitäten permanent angezweifelt. Mich bringt der Nebenjob sogar nach Prag zu den Partnern des Projekts an der Karlsuniversität. Allerdings erlebe ich dann nicht mehr, wie das ganze Projekt sich weiter entwickelt, denn ich sitze ab dem WS 1995/96 bereits an der Themse in Kingston. DaF führt mich das erste Mal in die Welt. Das Herder-Institut ist überall, denn unter der Obhut und Fürsorge Professor Löschmanns unterrichte ich Deutsch als Fremdsprache an der Kingston University, und so sollte mich ein Herderianer noch viele Jahre in Freundschaft begleiten.
Dem Herder-Institut, gelang es, mich so weit zu stärken, dass ich zumindest selber keine Angst vor der „awful German language“ (Mark Twain) mehr haben brauchte. Zunächst arbeite ich einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am angegliederten Institut interDaf am Herder-Institutâ der Universität Leipzig, einer Einrichtung, die Teile der früheren Tätigkeiten des alten Herder-Instituts übernommen hat. Später erlaubt mir das Studium am Herder-Institut einen Aufenthalt als DAAD-Lektor in Portugal und heute ist das vermittelte Wissen immer noch die Basis, um unter anderem die Verantwortung für den Bereich DaF an einer Fachhochschule in Thüringen übernehmen zu können.
Es zeigt sich, dass das Herder-Institut meine Laufversuche stark unterstützt hat und alles das vermittelt hat, was das Laufen heute, 20 Jahre später, sicher gemacht hat.
2011
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