Nachbetrachtungen zum „Tag der Einheit“
Nüchtern betrachtet
beging die geeinte Republik am 3. Oktober ihren 29. Jahrestag. Die nächste runde
Jubelzahl wird schon im kommenden Jahr erreicht. Wer bereits in diesem Jahr eine
runde 30 brauchte, bediente sich des Mauerfalls. Inzwischen weiß man, wie es
geht: Welch Glanz in meiner Hütte! Es
gibt aber auch die, die meinen, so abgehoben von der Realität dürfe man diese
Feiern nicht begehen. Spiegel Online titelt Die
bisherige Erzählung der Einheit ist fragwürdig und lässt den Historiker
Marcus Böick zu Wort kommen, der „einen neuen Blick auf die Wende – auch auf
ihre Makel“ fordert (Samstag 02.11.2019).
Als wenn es sich dabei um ‚Makel‘ handelte – aber immerhin. Der Soziologe Steffen
Mau * nennt Neues in Bezug auf die Aufarbeitung der DDR. Diese und andere
Autoren lesend, frage ich mich, ob nicht schon jetzt die Ausgrabungen begonnen
haben, von denen Volker Braun vermutet, dass die Archäologen in 50 Jahren damit
beginnen werden, „nach uns zu graben“.
Es ist eine Freude beobachten zu können, wie zum Zwecke der Wahrheitsfindung, einer komplexen Betrachtung des Wende- und Nachwende-Geschehens auf- und eingerüstet wird, Werkzeuge zur Neubewertung von Wende-Vorgängen zur Verfügung gestellt, Fundorte geortet, erste Probegrabungen, aber immer auch Scheingrabungen vorgenommen werden.
Eine E-Mail von einem Freund M. Th., die mich am 22. Oktober erreichte, weist ebenfalls auf eine solche Ausgrabung hin, wenn der Schreiber nicht umhinkann, nach denjenigen zu fragen, die „für das inhumane Handeln im Zuge der Wiedervereinigung“ verantwortlich sind:
„… der dir auch bekannte Nachwende-Rektor der Uni Leipzig, Prof. Cornelius Weiss, hat sich laut einem LVZ-Artikel vom 21.10.19 kritisch über den ‚schäbigen‘ Umgang mit ostdeutschen Wissenschaftlern nach der Revolution geäußert. Er kritisierte überstürzte Entlassungen und verteidigte die ‚international respektierte Forschung‘, u.a. auch in der Sprachwissenschaft. Das empöre ihn bis heute. Mit mehr Einfühlungsvermögen hätte die Einheit „humaner“ ablaufen können, d.h., dass es auch inhumanes Handeln im Zuge der Wiedervereinigung gab. Wer evaluiert eigentlich die dafür Verantwortlichen?“
Für den ehemaligen Rektor der Leipziger Universität ist das keine späte, Erkenntnis wie bei etlichen „Aufarbeitern“ der Wendezeit, die das gegenwärtige Glockengeläut zu hinterfragen beginnen, sondern er hat sich schon während seiner Amtszeit kritisch zum Umgang mit Angehörigen seiner Universität geäußert. In meinen „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ und auch in diesem Blog kommt er zu Wort als einer, der das Maß nicht verloren hatte und seine Universität dem Westen nicht ungefragt überlassen wollte. In seinem Interview geht er allerdings sehr viel weiter, indem er eine „bittere Bilanz“ zieht. „Und es empört mich bis heute, dass Deutschland nach der Sternstunde seiner friedlichen Wiedervereinigung so schäbig mit seinen neuen Bürgern umging.“ „Die Leipziger Universität musste sich von fast 7000 Mitarbeitern trennen.“ Das bedeutete vielfach Bruch im Berufs- und damit auch im persönlichen Leben von unbescholtenen Menschen, die sich nicht selten jahrzehntelang unter schwierigen Bedingungen um Lehre und Forschung verdient gemacht hatten.“
(Einer von diesen 7000 Entlassenen war der Schreiber dieses Beitrages, wovon man sich in diesem Blog leicht überzeugen kann.)
Eigentlich habe ich nicht daran gezweifelt, dass sich eine eher angemessene Betrachtung des Wendegeschehens, das zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik führte, einstellen wird. Wer diesen Blog durchblättert, wird sich darüber schnell informieren können, dass hier von Anfang an versucht wurde, die Nebelwand zu lichten.
Die DDR war bankrott, überschuldet, ein einziger Schrotthaufen, marode*², geschichtslos, die DDR-Bürger und -bürgerinnen, fehlgeleitet und fehlentwickelt, nicht in der Lage, an der Umgestaltung teilzunehmen – schon gar nicht führend. Wie ‚trefflich‘ formulierte es einst Prof. Arnulf Baring? „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, die Ausbildung verhunzt … Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar.“
Soweit die Auslassung des bekannten, inzwischen verstorbenen Politikwissenschaftlers, Juristen und Publizisten aus dem Jahr 1991. Er war ein gern gesehener Gast in Talkshows.
Steffen Mau spricht in seinem Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft von einer „relativen sozialen Deklassierung“*², die es ja in der Tat auch war. Die Ostdeutschen „wanderten in eine wohlhabendere und statusmäßig höher gestellte Gesellschaft ein.“ Um sie untertan, mundtot, unsicher machen zu können, wurden in vielen Fällen ihre Biographien in Frage gestellt, ihre Arbeitsbiographien zerstört, grundlos sogar in Eunzelfällen kriminalisiert, ihnen mit dem Zaunpfahl gedroht und erklärt, alles, was bisher von ihnen gelebt und geschaffen wurde, sei null und nichtig. Eine schnelle Lernfähigkeit wurde einem großen Teil von ihnen abgesprochen, schlimmer noch: unbescholtene Menschen aus fadenscheinigen Gründen aussortiert und kaltgestellt.
Allmählich jedoch lichtete sich die Nebelwand und ‚die Ossis‘ begannen zu begreifen, was sie sich hatten gefallen lassen (müssen). Dass die AfD, so schändlich reaktionär ihr Vorgehen ist, bei der Niederreißung eine Rolle spielt, steht außer Frage. Man wird nicht umhinkommen, die gefährliche Verlockung eines Teils des Ostwahlvolkes durch die AfD genau und ohne Scheuklappen zu analysieren, um diesen AfD-Rattenfängern das Handwerk legen zu können. Der bereits zitierte Historiker Marcus Böick, der sich mit der Treuhand beschäftigt, bringt es in seinem Interview (Spiegel Online Samstag, 02.11.2019 22:37 Uhr) auf den Punkt:
„Ich bin vor einigen Jahren gefragt worden: Trägt die Treuhand Mitschuld am Aufstieg der AfD? Ich habe das intuitiv erstmal verneint, aber inzwischen sehe ich das differenzierter. Wir reden hier über die langfristigen Erfahrungen der Nachwendegeneration – natürlich in Kombination mit der DDR-Erfahrung – und ich glaube: Gerade in dieser Kombination liegt vielleicht eine Erklärung. Die Treuhand ist schließlich ein zentraler Baustein dieser schockartigen Nachwendeerfahrungen. Die Menschen im Osten haben das Wirken der Treuhand oft als Herabsetzung empfunden. Es kamen Menschen aus Westdeutschland und nahmen im Osten das Heft in die Hand. Da reiste plötzlich einer aus Düsseldorf an und sagte: ‚Euer Betrieb ist nichts mehr wert.‘ Das bleibt hängen.“
Man kann es drehen und wenden, wie man will, die AfD stellt Fragen, die im Osten gären, weil sie vom Establishment jahrelang unter den Teppich gekehrt worden sind. Es genügt wahrscheinlich nicht nur eine Fehleranalyse der etablierten Parteien mit der CDU an der Spitze und die SPD unbedingt eingeschlossen. Wären nur hie und da Fehler gemacht worden, hätte man sie im Laufe der 30 Jahre längst korrigieren können. Wie aber die durchaus aktuellen kritischen Analysen des Zusammenwachsens von Ost und West zeigen, ist zwar einiges im Osten geworden, wer wollte es in Abrede stellen, aber die Ungleichbehandlung nach 30 Jahren liegt auf der Hand: Immer noch wird im Osten weniger verdient, die Machtstrukturen vom Westen dominiert, die Kulturinstitutionen, die Leitungsgremien der Universitäten von Westdeutschen besetzt – drei Viertel der Elite im Osten sind Westdeutsche (Mau, S. 3), sind die Großkonzerne weitgehend im Westen geblieben.
Wie schwerwiegend, lebenszerstörerisch die Wende für viele Ostdeutsche war, macht der Rückgang der Geburtenzahlen im Wendegefolge deutlich. „Nicht einmal zu Kriegszeiten oder nach 1945 sind die Geburtenzahlen so eingestürzt wie ab 90. Die Geburtenrate sank auf statistisch 0,77 Kinder pro Frau, ein extrem niedriger Wert.“ (Mau, S. 3) Die Verunsicherung eines beachtlichen Teils der Ostdeutschen hängt zweifelsohne mit der unbegründeten Infragestellung ihrer Bildung zusammen. Gewiss gab es diese unselige Ideologisierung, aber sie verhinderte keineswegs solide Bildung und natürlich auch Forschung. Viele der Arbeiter- und Bauernkinder, denen die DDR ihren Bildungsweg geebnet hatte, konnten und wollten sich nicht damit abfinden, dass ihr Bildungsbemühen vergebens gewesen sein sollte. Mau spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aufsteigergesellschaft“, „Menschen aus einfachsten Schichten machten Abitur und kamen an die Hochschule“. Wenn man nicht mit dem Begriff Arbeiter- und Bauernkindern operieren will, kann man die Herkunft meinetwegen mit der mehr als schwammigen Kategorie „einfachste Schichten“ umschreiben, d.h. hier: diskriminieren. Dass die Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder in den 80er Jahren zunehmend unterlaufen wurde, indem die sogenannte sozialistische Intelligenz bestrebt war, sich selbst zu reproduzieren, ist unbestreitbar, hier aber nicht das Thema.
Traun fürwahr: hätte nicht gedacht, dass sich derart viel bewegt im Rahmen der durchaus berechtigten Gedenk- und Feiertage. Diese gemütsaufhellende Feststellung treffend, erreicht mich die folgende Nachricht:
„Das aus 70 000 bunten Glasfliesen zusammengesetzte DDR-Wandmosaik «Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik» ist zurück an seinem früheren Standort. Mit einem Kran und vor einem Publikum aus Anwohnern wurde die letzte Platte von Josep Renaus Kunstwerk am Moskauer Platz in Erfurt angebracht. «Ein Stück Zeitgeschichte kehrt an den Moskauer Platz zurück. Viele Kunst aus der DDR sei inzwischen verschwunden, sagte Knoblich. «Zum Teil übereilt, zum Teil aber auch berechtigt.» Für die Stadt sei es ein tolles kulturpolitisches Zeichen, dass sie sich qualifiziert und differenziert mit DDR-Kunst auseinandersetze», sagte der Kulturbeigeordnete der Stadt Erfurt, Tobias Knoblich, am Dienstag.“ (dem 29. Okt. 2019) (https://www.msn.com/de-de/nachrichten/other/«stück-zeitgeschichte»-ddr-wandbild-in-erfurt-hängt-wieder/ar-AAJwqZs?ocid=spartandhp)
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* Interview mit Steffen Mau, Es hat sich im Osten eine Schiefstellung entwickelt. In: Berliner Zeitung v. 7./8. September 2019, S. 2.
*² Wer sich für die ökonomische Seite der aufgebauten Nebelwand näher interessiert, lese z.B. K. Blessing/W. Siegert: Wie sich Richard Schröder arm rechnet. Eine Erwiderung auf einen Artikel von R. Schröder, der in der Zeitung „Die Welt“ erschien, nachdem „Die Welt“ ihn abgelehnt hatte. In: Berliner Zeitung v. 10. September 2019, S. 6.