Ja, Ostdeutschland findet mal wieder statt
Vorbemerkung von Martin Löschmann:
Der diesem Blog bekannte Beiträger Helmut König hat vor Kurzem einen Kommentar zu Löschmanns Beitrag „Nachtigall, ich hör dir trapsen“ geschrieben. Da Königs Kommentar grundlegende Ausführungen zu der von ihm aufgeworfenen Problematik enthält, wird er in den Rang eines selbständigen Beitrags gehoben.
… Ich beziehe mich auf die von dir erwähnte Studien „Wer beherrscht den Osten“, vom MDR an die Leipziger Uni in Auftrag gegeben. Sie liegt mir vor. Ich habe sie auch durchgelesen. Große Neuigkeiten waren nicht zu erwarten, da wir ja mit diesem Blog eigentlich immer wieder auf die Problematik verwiesen haben. Jetzt so zu tun, als wäre die ostdeutsche „Elite“ nicht verfügbar, wie es auch andere Veröffentlichungen immer wieder zum Thema gemacht haben, ist schon bemerkenswert scheinheilig. Wenn dieser Umstand aber auch noch Verwunderung hervorruft, fehlen einem die Worte.
Du hast den Elitenwechsel und die Verdrängungsstrategie der ostdeutschen “ Elite“ durch westdeutsche „Helfer“ erwähnt, und wir haben dies alles hautnah erleben dürfen. Es ergibt sich die Frage, warum dieses Dilemma immer noch besteht, und wenn man der Studie glauben schenken darf, hat sich dieses ‚Manko’in einigen Bereichen sogar weiter vertieft. Auch das bezeugt die Studie, wenn sie die Jahre 2004 und 2015 vergleicht. Es ist kaum ein wesentlicher Erfolg hinsichtlich einer umfangreicheren Beteiligung ostdt. Eliten an der Gestaltung und Führung wesentlicher gesellschaftlicher Prozesse erreicht worden.
Meiner Meinung nach gibt es dafür mehrere Gründe:
Einer liegt darin, dass man vor allem Anfang der neunziger Jahre ostdeutschen Intellektuellen bzw. ostdeutschen “ Eliten“ politisch eliminieren wollte, weil sie eben zu lange loyal zur DDR stand.
Die in den Universitäten und Hochschulen z.d.Z. stattgefundenen Evaluierungsvorgänge waren ein Mittel, Führungspersonal auszutauschen.
Das war in erster Linie von der Politik genauso gewollt, wobei sogenannte „rote Listen“ bereits vorher „evaluierten“, wer auf keinen Fall weiter zu beschäftigen ist. Da spielten fachliche Eignungen eine zumindest untergeordnete Rolle. Auch das war gewollt, dass bestehende westdt. System des Hochschulwesens der ehemaligen DDR überzustülpen, ohne zu überlegen, wie man vielleicht auch neue Wege hätte gehen können.
Die Studie bescheinigt, dass es darüber „keinen gesellschaftlichen Diskurs“ gab.
Wie dieser Elitentausch stattfand, hat ein Beteiligter ziemlich selbstkritisch in der „Zeit“ vom 7. April 95 unter dem Titel „Verschleudert und verschludert. Ein Mittäter zieht selbstkritisch Bilanz“ dargelegt, wenn er von den „Minderbemittelten, Fußkranken und Bedächtigen, die am Wegesrand lagern, den müden Wiederkäuern und Uninspirierten“ spricht.. „Sie alle haben mit der Wende die große Chance erhalten. Häufig war sie zu groß für die geringe Fassungskraft der Begünstigten. …Unhabilitierte Sitzenbleiber eigneten sich von heute auf morgen den Habitus des Großordinarius von vorgestern an. …Ausgebrannte Heimwerker kostümierten sich als Fackelträger der Freiheit und berechneten den Ossis die Kosten“. Dieses Zitat von Prof. Dieter Simon, von 89 bis 92 Vorsitzender des Wissenschaftsrates, der maßgeblich an der Evaluierung ostdt. Hochschulen beteiligt war, trifft ziemlich genau das Problem, wenn auch etwas drastisch, aber er muss es ja wissen.
Wenn auch viele Osdt. geglaubt haben, dass eine Durchmischung von Personal stattfindet, wobei Ideen und Konzepte entwickelt werden, die die Gesellschaft voranbringen und in allen Teilbereichen „blühende Landschaften“ gemeinsam schaffen, so machte sich Mitte der neunziger Jahre immer mehr Resignation in der Bevölkerung breit, weil jetzt deutlich wurde, dass es eine Durchmischung unter dem Vorzeichen der Gemeinsamkeit nicht gab. Das führte u.a. dazu, dass die Ostdt. die Deutungshoheit über die weitere eigene Entwicklung verloren und sie sich fremdbestimmt fühlen. Was nicht zu weit hergeholt ist, wenn man in den neunziger Jahren durchaus von einer „Ostkolonisierung“ in Westdtl. sprach. Jürgen Agelow geht in seinem Büchlein „Entsorgt und ausgeblendet“ davon aus, dass „ca. 60% des Personals der ostdt. Hochschulen und ebensoviel der außeruniversitären Akademieforschung …sowie durch das Wirken der Treuhandanstalt- etwa 85% der Industrieforschung abgebaut“ wurden. (S.105)
Wenn die o.g.Studie feststellt: „Eine adäquate Repräsentanz der ostdt. Wohnbevölkerung in den ostdt. Eliten findet sich nirgends. Nur etwa 23% beträgt der Anteil Ostdt. innerhalb der ostdt. Elite – bei 87% Bevölkerungsanteil.“
Die Feststellung, dass man bundesweit nur 1,7% ostdt. Führungspersonal bei 17% Bevölkerungsanteil bundesweit findet, ist dann natürlich wenig überraschend.
Wenn man die gesamte mediale Veränderung im osdt. Einflussgebiet näher betrachtet, erkennt man klar, dass ein eigenständiger neuer medialer Aufbruch gar nicht zur Debatte stand. Was die betroffenen Ostdt. dachten und fühlten, wurde nur über die „westliche Brille“ vermittelt. So konnte beim besten Willen kein Miteinander – übrigens bis heute nicht – entstehen. Dazu Angelow: „Zwar hatte es im Herbst 89 Versuche gegeben, aus der Konkursmasse der DDR…eine eigenständige ostdt. Medienkultur mit eigenen Deutungsangeboten zu etablieren, doch diese Ansätze wurden von den westdt. Medienkonzernen postwendend unterbunden.“(S.119) Damit verloren die Ostdt. die Chance, einen adäquaten „professionellen Gegendiskurs“ (Angelow S.119) zu entwickeln.
Ohne auf die massive Deindustrialisierung durch die Treuhand im Osten näher einzugehen, ist zu fragen, was noch übrigblieb? Angelow präzisiert dies mit dem Hinweis, dass „parallel zur fast vollständigen Umverteilung der materiellen Güter, Liegenschaften und Vermögen sich ein ebenso massiver sozialer Enteignungsprozess der Ostdt. vollzog.“ Es nimmt also nicht Wunder, dass so viele Biografien ehemaliger Entscheidungsträger und ostdt. Intellekueller jäh
unterbrochen und sie so in vielen Fällen um ihre Lebensleistung betrogen wurden. Auch deshalb, weil sie keinen Einstieg mehr in den „ersten Arbeitsmarkt“ fanden. Die durch die wesdt. „Helfer“ besetzten Stellen waren für Ostdt. auf lange Zeit verloren und sollten es bis heute bleiben. Die „Helfer“ bildeten natürlich im Laufe der Jahre selbst Netzwerke, die für Ossis nur selten zu durchdringen waren und sind. Das trifft auch auf den ostdt. Nachwuchs zu, der im Zweifelsfall der westdt. Konkurrenz hintenangestellt wird. Auch in der besagten Studie geht man davon aus, dass dieser Prozess noch viele Jahre Bestand haben wird. Das heißt nichts anderes, als dass die Meinungsführerschaft in allen gesellschaftlich relevanten Fragen von Westdt. beansprucht wird. Die Ostdt. werden so marginalisiert und die Westdt. bleiben unter sich, eine Integration findet kaum statt. Da darf man sich nicht wundern, dass die Zustimmung der Ostdt. zu den Fragen, die die „Meinungsführer“ in den Medien und den politischen Institutionen anregen und beschließen, nicht euphorisch ausfällt. Der Graben wird so nur noch vertieft! Das ist das Ergebnis nach 30 Jahren des gesellschaftlichen Umbruchs auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.
Nicht zuletzt wurde dieser Prozess durch die politische und moralische Überheblichkeit der westdt. Politik bzw. der Medien nach der Vereinigung begleitet, indem man den Ostdeutschen bescheinigte, nicht die anstehenden Veränderungen mit gestalten zu können, ihnen fachliche Kompetenz absprach und unterstellt, es mangele ihnen an Entscheidungskraft. Ich erinnere hier an unseren gemeinsamen, kürzlich verstorbenen „Freund“ Arnulf Baring, der sich über die „Verzwergung“ und „Verhunzung“ der Ostdeutschen in seinem Buch „Deutschland was nun“ breit ausließ. Mit seinem Zitat: „Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar“(S.59) hat er sich ein zweifelhaftes Denkmal gesetzt. Einen Aufschrei gegen dieses Elaborat jedoch, habe ich nirgendwo vernommen. A.a.O. lässt Baring Jobst Siedler folgende Aussage machen: „Mein Vergleich (gemeint war die DDR) läuft darauf hinaus, dass man nach 1945 im Westen nur Hitler und seine Herrschaftsinstrumente, die Spitzen der Partei und der SS beiseite räumen musste, und hinter all den Zerstörungen des Krieges kam eine wesentlich intakte Gesellschaft zum Vorschein.“ (S. 57) Im Umkehrschluss heißt das, dass es im Osten dagegen gar keine intakte Gesellschaft gab. Die musste man erst durch westdt. Helfer aufbauen, so der Tenor. Das geschah dann mit dem Beitritt der DDR nach Artikel 23 GG. Einen Gestaltungsspielraum für diesen Umbruch gab es für die Ostdt. damit nicht mehr, da die Rahmenbedingungen des Einigungsvertrages dies auch gar nicht vorsahen. Wie sagte Schäuble so treffend: „Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an.“
Auch Angelow geht in seinen Buch auf den Umgang mit den NS-Eliten in beiden dt. Staaten ein, in dem er schreibt: „In der Bundesrepublik war der Grad der Verquickung der alten NS-Eliten mit dem neuen System viel größer. …Viele der ehemaligen Nazis haben die Gesellschaft der BRD mit ihrer antikommunistischen Grundstimmung verseucht, …dass sie bis heute in der Gesellschaft nachwirkt, sodass man auf dem „rechten Auge“ oft etwas blinder ist als auf dem linken“ (S.63). Dies hat zweifellos das Misstrauen gegenüber den Ostdt. und ihrer Eliten verstärkt.
Inwieweit sich solche Ressentiments durch die wesdt. „Helfer“ in den östlichen Bereich auswirken, ist nicht quantifizierbar, aber wahrnehmbar schon. Dass eine DDR-Sozialisation per se jedoch dazu führt, rechtem Gedankengut zu verfallen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ohne Pegida oder AfD zu unterschätzen, meine ich, dass viele ihrer Anhänger enttäuscht von der 30jährigen „Erfolgsgeschichte“ des Einigungsprozesses sind. Und vergessen wir nicht, dass die Spitzenleute der AfD im Bundestag ebenfalls Westimporte sind.
Im vorletzten Beitrag über die ‚trapsende Nachtigall‘ wurde schon gesagt, dass das Interesse an Ostdeutschland ohne die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl und die drohende Wiederholung dieser Ergebnisse bei den bevorstehenden Landtagswahlen ungleich geringer wäre.
Deshalb versuchen sich einige Bücher in einer Erklärung dafür, was die Ostdeutschen umtreibt, z.B. Petra Köpping: „Integriert doch erstmal uns!“ und Wolfgang Engler/Jana Hensel: „Wer wir sind: Die Erfahrung ostdeutsch zu sein“. Engler/Hensel richten dabei den Focus entschieden auf den Umbruch in den 90er Jahren und schreiben: „Der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den ’neuen Ländern‘ findet seine so gut wie vollständige Erklärung in den Erfahrungen, die sie (die Ostdeutschen, M.T) nach 1990 sammelten, und eben nicht im Rekurs auf ihren vermeintlich obrigkeitsstaatlichen, führerorientierten DDR-Habitus. Diese Dummheit grassiert noch immer und gerade jüngst wieder besonders heftig, und sie hat Methode. Indem man die Herkunftsgesellschaft der Ostdeutschen für jegliches kritikwürdige Verhalten verantwortlich macht, legitimiert man die strukturellen Gebrechen und Ungerechtigkeiten der Ankunfts-gesellschaft.“ (Engler, S. 51)
Darüber wäre zu diskutieren, auch unter Einbeziehung des neuesten Buches von Herbert Renz-Polster: „Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können“, in dem er den Aufstieg der AfD nicht nur als Reaktion auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Krisen versteht, sondern primär als Folge einer autoritären Erziehung. Für mich greift jede monokausale Erklärung zu kurz und deshalb ist der Ansatz von Engler/Hensel mehr als berechtigt – und er ist unbequem. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass die Umbrüche in den 90er Jahren literarisch kaum verarbeitet wurden, was Christoph Hein damit erklärt, dass es „vier Fünftel der deutschen Bevölkerung nicht interessiert“ und meint damit vor allem Westdeutsche, weil für sie die Wende und Wiedervereinigung ganz anders verlaufen seien.
Hein hingegen verarbeitete seine Erfahrungen der Nachwendezeit in seinem neuen Buch „Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“.
Ein Glanzlicht unter den 28 Anekdoten ist u.a. die bitter-böse Abrechnung mit der ‚Abwicklung‘ ostdeutscher Kultureinrichtungen – verstanden als „Die allerletzte Schlacht des Krieges“ – an deren Ende zwischen „Konquistadoren“ und Einheimischen über einen Waffenstillstand, Reparationen und Strafen verhandelt wurde. Das war schon immer so, wie ein Exkurs in die Geschichte von Siegern und Besiegten lehrt. Eine „pekuniäre Bestrafung“ aber war gänzlich neu. Während früher Köpfe rollten oder langjährige Gefängnisstrafen die Regel waren, begnügte man sich diesmal damit, den besiegten Staatsoberhäuptern „die Ehre, ihr privates Vermögen und die bisher gewährten Privilegien abzusprechen und sie mit einer Strafrente zu belegen.“ Dieses Urteil zielte darauf ab, aus einst mächtigen Gegnern „kümmerliche und bedauernswerte Greise“ zu machen, um Unbelehrbare abzuschrecken. Wenn Hein einen derartigen Umgang mit den Besiegten ironisch als „eine staatsmännisch kluge, eine geradezu machiavellistische Entscheidung“ wertet, stellt er sie bewusst in die Tradition skrupelloser Machtpolitik. Schaut man allerdings genauer hin, dann hat Machiavelli das private Eigentum immer respektiert, weil er Verachtung und Hass der Besiegten vermeiden wollte. Das ginge nur, heißt es in „Der Fürst“, wenn man ihnen „Ehre“ und „Vermögen“ lasse. Weil Sachverstand jedenfalls nicht zu den unabdingbaren Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Abwicklungskommission gehörte, gelang es den beiden ostdeutschen Unterhändlern schließlich, einen drohenden Kahlschlag abzuwenden. Man musste den westdeutschen Honoratioren nur bewusstmachen, dass das ‚Gorki-Theater‘ keine vermeintlich russischsprachige Sprech-Bühne für die Rote Armee ist, sondern ein Filetstück der Berliner „Prachtmeile“. Zwar siegt hier am Ende die List, aber man spürt die Wut des Chronisten, der genau weiß, dass die Abwicklung in Ostdeutschland für viele eine einzige Demütigung war. Und dieser Ohnmachtsschock wirkt bis heute nach.
Wenn es stimmt, dass die Anekdote dem Rauch gleicht, der Feuer anzeigt, dann hat Hein sich für diese Form entschieden, um gesellschaftliche Brandherde zu markieren, die zum Teil heute noch schwelen. Dazu gehören Abwicklung und Eliteaustausch auf jeden Fall. Dazu befragt, antwortet Hein an anderer Stelle:
„Ja, es gab einen Eliteaustausch: Tausende Hochschullehrer wurden entlassen, und ein Nachwuchs, der eben noch chancenlos war, kam auf hohe und höchste Positionen. Einen solchen Elitewechsel gab es in der Bundesrepublik 1945 nicht, das hatte man vermieden. Der letzte Elitewechsel, der Tausende und Zehntausende Hochschullehrer betraf, erfolgte im Januar 1935, als das „Gesetz zum Neuaufbau des deutschen Hochschulwesens“ wirksam wurde und Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten aus den Universitäten entfernt wurden. Diesen Elitewechsel von 1935 kann man überhaupt nicht mit dem von 1990 gleichsetzen, das wäre Geschichtsklitterung. Vergleichbar ist freilich der völlige Mangel an Empathie für die Ausgewechselten in diesen Jahren: Man ließ die Hinausgeworfenen gehen, verhöhnte sie und erfreute sich der sich plötzlich auftuenden Aufstiegschancen.“