Es hätte ihn gefreut
Es gibt Wunden, die niemals heilen. Unseres Sohnes Tod im vergangenen Jahr ist ein leider trauriger Beleg dafür.
Mir schoss sofort die Überschrift durch den Kopf Es hätte ihn gewiss gefreut, als ich den Namen des diesjährigen Literaturpreisträgers las: Bob Dylan. Mit dieser Preisverleihung wurde nicht nur ich überrascht, obwohl es in der Geschichte der Literaturpreisverleihungen schon solche Überraschungen gegeben hatte: Theodor Mommsen – ein Historiker, Rudolf Eucken – ein Philosoph. Nun also ein Liedermacher, ein Song-Writer, ein Singer-Songwriter, ein Lyriker und Musiker. „Für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ erhält er den Preis. „Dylan ist eine Ikone“, „sein Einfluss auf die zeitgenössische Musik groß“.
Dass Dylan letztlich auch uns erreichte, verdanken wir unserem Sohn Jörg. Offensichtlich wurde Dylan in dem Moment interessant für ihn, als der sich Mitte der 1960er Jahre mehr und mehr der Rockmusik zuwandte. Jedenfalls griff unser Sohn zu dieser Zeit zur Gitarre und dann auch zur Mundharmonika, wozu eine spezielle Vorrichtung erforderlich war, wollte man beide Instrumente gleichzeitig bedienen. Die Halterungsvorrichtung plus Mundharmonika musste her. Beides gab es natürlich nur, ja wo denn nur? Eine seiner zwei Tanten im Westen erbarmte sich seiner. Und so konnte er sich erproben und sang mit bewusst krächzender Stimme Bob Dylans Lieder.
Jörg gab erst auf, als er einsehen musste, dass er seinem Idol nicht nahe genug kommen konnte. Doch blieb Bob Dylan neben Pink Floyd, Carlos Santana und anderen sein Favorit, und er wurde nicht müde, ihn uns nahezubringen oder sollte ich besser schreiben, uns auf ihn aufmerksam zu machen.
Wie hat er sich nicht lustig gemacht über uns, als er Dylans Musik über alles stellte und feststellen musste, dass wir uns, abgesehen von unserer Jazz-Begeisterung, zu dieser Zeit in den Niederungen der Schlager aufhielten. In den „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ habe ich diesen Kontrast angedeutet:
Während unseres Finnlandaufenthaltes von 1969 bis 1974 wurde „viel Musik gehört, die Schlager der 60er, die in der DDR weitgehend tabu waren: Ich will einen Cowboy als Mann, Liebeskummer lohnt sich nicht, Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht, Memories of Heidelberg, Wärst du doch in Düsseldorf geblieben fallen mir spontan ein. Geht es um Musik und Musikgeschmack, wollte und will uns Jörg immer auf den seichten Schlager aus dieser Zeit festlegen, gesungen von Wencke Myrhe:
Er steht im Tor, im Tor, im Tor/und ich dahinter/
mag es regnen, mag es schnei’n/er ist nie im Tor allein …
Vitamine, Traubenzucker, so was braucht er nicht/
anstatt dessen schaut sie ihm ins Gesicht …
Nicht der Hinweis auf Jimi Hendrix, die erste in Finnland erworbene Platte bei einem der beglückenden Shoppinggänge im Asematunneli, dem Bahnhofstunnel, nach dem Abendunterricht, nicht der auf Jean Sibelius‘ Vier Legenden aus dem Kalevala, dem Nationalepos der Finnen, können unseren Sohn von seinem Urteil abbringen. Zugegeben, diese Platten wurden nicht so häufig aufgelegt, die Besichtigung des beeindruckenden Sibelius-Denkmals in Helsinki war demgegenüber auch für die Kinder Pflicht. Zu seiner Musik fanden sie damals verständlicherweise keinen Zugang.
Unseres Sohnes gelegentlich bissige Kritik blieb nicht folgenlos, er nahm immer wieder Bezug auf neueste Produktionen von Dylan. Uns für ihn aufzuschließen, erfolgte oft über die Texte, die Jörg kongenial mit dessen Musik verbunden sah. „Vater, die weltbekannten Songs wie Blowin‘ In The Wind und Like A Rolling Stone gehören nun wirklich in eure Sammlung, ob ihr es wollt oder nicht. Ihr müsst doch als Lehrer wissen, welche Musik die Jugend von heute gern hört.“ Im Laufe der Zeit sind es mehr geworden. Manchmal denke ich, er hat heimlich dafür gesorgt, dass recht viele Titel seines Idols zu uns gelangten.
Er fand immer Anlässe uns auf Bobby aufmerksam zu machen. Something is happening and you don’t know what it is / Do you, Mr. Jones? zitierte er gern, wenn er meinte, er habe in der Kinder- und Jugendzeit dies und jenes verpasst. Als wir nach der Wende für fast 7 Wochen in die USA aufbrachen, empfahl er uns: Highway 61 revisited, ein Album, dessen surrealistisch anmutende Songs immer auf dem Highway 61 landen. „Weißt du eigentlich, nein natürlich weißt du das nicht, dass z.B. Blowin‘ In The Wind oder Masters Of War oder A Hard Rain’s A-Gonna Begleiter, Mitspieler in den Protestbewegungen der 68er und in den Anti-Vietnam Demonstrationen waren. Masters of War. Setzt euch erst mal hin und hört es euch einfach an.“
Heute ist uns klarer als damals, was er bezweckte, als er uns seinen Bob Dylan vorführte. Er wollte bei all seinen Absetzbewegungen, seinem eigenen Protest gegen sein Eingebundensein in die Familie und in die DDR-Gesellschaft uns Teilhabe an seinem seelischen Zustand ermöglichen. Nehmt zur Kenntnis, das bin ich. Er war für ihn Symbol für künstlerische Kreativität, Authentizität, des Zeitgeistes einerseits und für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden jenseits der sozialistischen Realität andererseits. Ein Suchender, der mit Bob Dylan einen Gefährten gefunden hatte, den er zeitlebens bewunderte. Zwar gab es Zeiten, wo jahrelang nichts von Bob Dylan an unser Ohr drang. Aber als gewissermaßen Dylans Alterswerke erschienen – „Out of Mind“, „Modern Times“ und „Tempest“ – ließ er ihn wieder an unsere Tür in Berlin klopfen und hatte diebische Freude daran, uns auf die weitverzweigten literarischen, geschichtlichen und biblischen Anspielungen hinzuweisen.
Ich weiß nicht, wie viele Konzerte von und mit Dylan sich Jörg angehört hat, aber das von 1987 am 17. September auf der Treptower Festwiese auf jeden Fall. Großereignis in der Hauptstadt der DDR, in Berlin, wir in Leipzig waren meilenweit davon entfernt, wurden auch nicht eingeladen, obwohl wir Dylan da schon längst in unser Hör-Programm aufgenommen hatten, waren jedoch aus dem Alter, hätten unter den mehr als 70 000 Jugendlichen, die zusammenkamen, keinen Platz gehabt, aber der Bericht kam prompt. Da waren sie wieder die von ihm geschätzten Stücke: Maggie’s Farm, Shelter From The Storm, Like A Rolling Stone, Ballad Of A Thin Man und als einzige Zugabe: Blowing In The Wind.
Als die Wende nahte und ihren Lauf nahm, befand Jörg mit genüsslicher Stimme: „The Times They Are a-Changin“. Traun fürwahr. Nichts da: Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen.
Wählen wir heute aus Jörgs umfänglicher Bob-Dylan-Sammlung, die als Kopie auf uns gekommen ist, ein Stück aus, steht unser Sohn vor, hinter, neben, über uns. Wir sind ihm dankbar, dass es uns den Nobelpreisträger 2016 aufgeschlossen hat.
Hallo lieber Opa,
Die Musik umspielte Joerg’s leben. Gerechtigkeit. Seligkeit. Gelassenheit. Er suchte in der Musik wonach er auch im Leben strebte. Er war ein Freebird, ‚The Chimes of Freedom‘ spielte nie weit von ihm entfernt.
Wir freuen uns schon euch in Berlin zu sehen!
Janis und Julika