Nun kommen sie wieder
die Flüchtlinge über und aus Libyen
Es war ein eigener Titel, „Libyer kommen“, der mich zur obigen Überschrift anregte. Er ist im herderblog nachzulesen und kündigt einen Text an, der einige Bedenken, nein eher Zweifel am ‚arabischen Frühling‘ in Libyen verlautete. Dass mich Libyen seinerzeit, also vor fünf Jahren, beschäftigte, war eine Reminiszenz an libysche Studierende, die in den letzten Jahren der DDR auf kommerzieller Basis ans Herder-Institut gekommen waren. Ein (erdöl-)reiches Land bezahlte die Ausbildung zukünftiger Elite im Ausland.
Im Eintrag „Libyer kommen“ wird u.a. kurz angeführt, was Gaddafi seinem Land bot. So erhielten Absolventen, die nicht gleich Arbeit auf ihrem Fachgebiet fanden, vom Vater Staat, meinetwegen auch vom Gaddafi-Clan, das durchschnittliche Gehalt der jeweiligen Berufssparte. Keine Frage, für die Bildung wurde in diesem Land viel getan. Die Alphabetisierungsrate stieg auf 88% von rund 20 %, nachdem Gaddafi sich an die Macht gebracht hatte. Weitere Stichworte: Höchstes Prokopfeinkommen in Afrika, eine relative hohe Lebenserwartung (mit rund 77 Jahren immerhin Position 57 in der Welt), geringe Arbeitslosigkeit, ein Wirtschaftswachstum zwischen 5-6%, keine Zinsen auf Kredite, kostenloser Strom, Garantie eines Daches über dem Kopf, finanzielle Unterstützung von Frischvermählten in Höhe von 50 000 Dollar, unentgeltliche medizinische Behandlung, kostenlose Bereitstellung von Ackerland plus Bauernhaus, Geräte, Saatgut und Vieh als Startbonus, Subvention eines Autokaufs zu 50 %. Kurzum es ging den meisten Menschen im Lande mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 12000 Dollar ziemlich gut. Keine triftigen Gründe also, aus Not nach Europa zu fliehen, sieht man hier mal von denjenigen ab, die unter Gaddafi unterdrückt und drangsaliert wurden. Niemand wird bestreiten können, dass Machthaber Gaddafi diktatorisch agierte.
Nur muss sich die Politik doch auch von Laien fragen lassen, warum man sich nicht die sog. Opposition genauer angesehen hat, bevor man sie militärisch unterstützte oder gar ihr Geschäft besorgte. Demokraten waren darin auf jeden Fall in der Unterzahl, um es vorsichtig auszudrücken und nicht von ‚Demokratie-Mumpitz‘ im Kontext Libyens zu sprechen. Im Nachhinein ist es für jedermann und jedefrau sichtbar, dass man Rivalen, Benachteiligte, weil unterdrückte Stämme, Milizen, ausländische Söldner unterstützte, mit deren Hilfe neue Kräfte an die Macht kommen wollten und kamen. Doch Gewalt erzeugt Gegengewalt, wie man gut weiß, Stammeskriege setzten ein, an deren vorläufigem Ende bekanntlich zwei Regierungen entstanden – eine international anerkannte mit Sitz in Tobruk und die nicht anerkannte in Tripolis. Sie streiten seither um die Macht. Durch das Machtvakuum konnte sich der IS obendrein im Land festsetzen. So versank das relativ reiche Land immer mehr in Not und Elend. Ich vermeide das handelsübliche Wort ‚Chaos‘, das von Journalisten gern gebraucht wird, weil es mir abgegriffen scheint und z.B. nicht konkret den Hunger signalisiert, worunter über eine Million Libyer leiden, nicht die Vertreibung aus Dörfern (mehr als 500.000 Libyer sollen aus ihren Dörfern verjagt worden sein), nicht die Halbierung der Ölförderung, nicht die Aufzehrung der beachtlichen Währungsreserven. Die Londoner Wochenzeitung The Economist sieht Libyen schon als das „Land mit der 2016 weltweit am schnellsten schrumpfenden Wirtschaft“. Libyen könnte „ein zweites Somalia“ werden, warnte vor einem Jahr ein libyscher Ölminister und der von SPD-Chef und Merkel-Stellvertreter Gabriel so geschätzte Präsident Ägyptens As-Sisi sieht auf Europa eine verdoppelte und verdreifachte Migrationswelle zukommen, wie dem Le Figaro zu entnehmen war. Es besteht schon die Befürchtung: Nun kommen sie wieder, die Flüchtlinge.Vorerst wird aber noch so getan, als ob die Flucht aus, vor allem die von Menschen aus südlich gelegenen afrikanischen Staaten über Libyen aufzuhalten sei wie einst durch Gaddafi, wenn auch nicht mit gleicher Konsequenz, doch immerhin. Jetzt soll es die mit Hilfe der UNO von außen geschmiedete Einheitsregierung, die ihren Sitz nunmehr in Tripolis eingenommen hat, richten. Man darf seine Zweifel hegen und pflegen, zu sehr scheint das Land zerrüttet.
Doch wir können es nicht wissen. Womöglich greift jetzt der ‚Plan B‘, den Obama nicht hatte. Warum eigentlich nicht? Am 11.4.16 erklärte er nämlich: „Wahrscheinlich, dass ich nicht für den Tag nach der Intervention in Libyen geplant habe, die mir damals als richtige Entscheidung erschien.“ Unterstützt eine Intervention und hat keinen Plan B, was immer darunter zu verstehen ist? Unfassbar oder? Und wie ist zu begreifen, dass Obama überhaupt einen Plan A für ein anderes Land hatte, fernab von den USA, der offensichtlich den Sturz der Regierung Gaddafi und den Einsatz einer USA-genehmen Regierung vorsah. Zudem ließ sich Obama die internationale Intervention auch noch von Russland bestätigen. Allerdings nicht von Putin, sondern vom damaligen Präsidenten Medwedew. Jedenfalls konnte und kann im gegebenen Fall Russland mal nicht verantwortlich gemacht werden für das Scheitern ‚der Revolution im Namen der Demokratie‘. Das Libyen-Debakel mag sogar Russland dazu bewogen haben, nicht mehr so schnell und letztlich artig A- und B-Plänen der USA zum Sturz von funktionierenden Herrschaftssystemen zuzustimmen. Es ist wohl schwerlich zu übersehen, dort, wo die USA in den letzten Jahren Demokratie mit den Mitteln des Krieges durchsetzen wollten, wurden Tore, meinetwegen auch nur Schlupflöcher für den IS geöffnet, der Unheil über die Länder brachte, in denen er Fuß fasste.
Ich kann mich noch gut an Gespräche mit russischen Hochschullehrerinnen und -lehrern in Sibirien erinnern, die damals wenig Verständnis für Medwedews Haltung aufbrachten. Später erfuhr ich, dass 78% der Befragten die 2011 verabschiedete UN-Resolution und die Bombardierung Libyens durch die NATO ablehnten.
Den Schluss möchte ich gern Fabrice Leggeri, dem Leiter der EU-Grenzkontrollagentur Frontex, überlassen. Er warnte bereits im März des vergangenen Jahres vor der Eskalation: „Wir müssen bereit sein für eine schwierigere Situation als 2014. Unsere Quellen sagen uns, dass zwischen 500.000 und einer Million Menschen bereit sind, Libyen zu verlassen.“ (Spiegel Online, Mittwoch, 22.04.2015 – 09:39, der aus einem Interview der italienischen Nachrichtenagentur „Ansa“ zitiert ).
Warum das u.a. so ist, weiß natürlich Spiegel Online auch: „Diktator Muammar al-Gaddafi hat einen kaum funktionsfähigen Staat hinterlassen.“ Hauptmedienkonformer geht es nicht: Gaddafis Machapparat, sein ‚Staatsgefüge‘ wurde zerschlagen und wird für das Flüchtlingsdesaster nach seinem Tode mitverantwortlich gemacht. Zynischer geht’s nimmer.
Wie es auch sei: Je weitgehender ich mich in die Materie einlasse, so klarer wird mir: Weitere Flüchtlingen aus, aber vor allem über Libyen kommen – bestimmt.
Ein schmerzlicher Nachtrag: Kaum geschrieben schnellt die Zahl der Flüchtlinge nach oben, die von Libyen aus über das Mittelmeer Europa, vor allem zuerst Italien erreichen wollen. Die Zahlen sind erschreckend, erst recht die der vielen Toten. Kaum vorstellbar, doch leider wahr. Man kann sich darüber in den verschiedensten Medien informieren, nur befriedigende humane Lösungen scheinen nicht in Sicht.
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