Erinnerungsarbeit am Beispiel von „Der Marsch“
Nach der Lesung in Leipzig werde ich gefragt, ob ich Tagebuch geführt oder mir irgendwelche Notizen zu meinen Lebensabschnitten gemacht hätte. Meine Antwort ist ganz klar: Nein. Gebe aber gern zu, dass ich versucht habe, wo es überhaupt noch möglich war, mit Verwandten, Bekannten und Freunden über meine Erinnerungen ins Gespräch zu kommen. War das so, wie ich mich erinnerte, könnte es so gewesen sein. Besonders meine noch lebende ältere Schwester Irla half meinen Erinnerungen über die Kindheit auf die Sprünge. Aber im Wesentlichen musste ich die Erinnerungsarbeit schon selbst leisten. An einem aktuellen Beispiel veranschauliche ich es.
Mit den Flüchtlingsströmen, die gen Europa ziehen und die EU bedrängen, tauchte vor Wochen ein Film in meinem Gedächtnis auf, den ich Anfang der 90 Jahre gesehen hatte: Afrikaner und Afrikanerinnen machen sich – durch Hunger getrieben – auf, um in Europa ein menschenwürdiges Leben zu finden. Je näher sie Europa kommen, desto breiter wird der Strom. Am Ende des Films erreicht die beeindruckende Masse endlich den Rettung verheißenden Kontinent. Auch die letzte Hürde wird genommen. Irgendwo und irgendwie finden sich Boote. Ein Junge, mit der ersten Gruppe das europäische Festland betretend, feuert mit seiner/einer Pistole vor Freude in die Luft und wird von Sicherheitskräften erbarmungslos erschossen. Dieses Detail erinnere ich ganz genau und auch, dass der Flüchtlingsstrom irgendwie dann schließlich gebremst wird.
Das sind meine ersten Erinnerungen und nun beginnt die geistige Schwerstarbeit: Wie heißt der Film bloß? Welche Kräfte lenken den Strom? Langer Marsch, könnte aber auch der Titel eines ganz anderen Films sein. Nein, nein, der Begriff wurde für uns in China aufgefrischt: der lange Marsch, der zum Sieg der Anhänger von Mao-Tsetung über die Kuomintang führte. Und weiter. Es wird noch nicht gegoogelt. Kannst du dich an einen Film erinnern, der Afrikaner auf die Flucht nach Europa zeigt? Die Antworten schwanken zwischen nein, jein, nur dunkel. Und dann, ist das nicht der Film Marsch, Der Marsch, den habe ich vor einigen Jahren gesehen. Die ersten Flüchtlinge, die sich auf den weiten Weg begeben, kommen aus sudanesischen Flüchtlingslagern.
Wenn dieser Film in meinen Erinnerungen eine Rolle gespielt hätte, wäre natürlich ein Abgleich der Erinnerungsstücke und der filmischen Fakten unabdingbar gewesen, und sicherlich hätte ich unter Angabe der Quelle die Worte am Schluss des Filmes zitiert: „Wir glauben, wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben, und möge Gott uns allen gnädig sein.“
Angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme nicht nur aus Afrika wäre es natürlich kleinkariert, egozentrisch, ach was weiß ich, was noch, wenn ich mich nicht von der beklemmenden Visionskraft dieses Filmes beeindruckt zeigte. Wie oft ist nicht schon gesagt und geschrieben worden: Das hätte die Politik, die Wissenschaft doch voraussehen müssen. William Nicholson, der Buchautor zu dem Film, hat seine beklemmende Vision vor 25 Jahren geschrieben!
Wer sich für den Film interessiert, findet genügend Material, Kritiken eingeschlossen. Mit besonderem Interesse habe ich den Bericht von Hanni Hüsch (ARD) gehört und gesehen „Der Marsch“ – Wenn Fiktion Wirklichkeit wird“. nachtmagazin 00:00 Uhr, 28.08.2015, in dem auch der Buchautor zu Wort kommt.
Übrigens bin ich der Meinung, der Film könnte in diesen bewegten Zeiten durchaus zur PRIMETIME gesendet bzw. wiederholt werden.