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Rezension II – Martin Löschmann: Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen, Leipzig 2015

2015 27. Juli
von Michael Thormann

„Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlass auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen.“ Diese Worte Klaus Manns beschreiben die Crux autobiografischen Erzählens, die durchaus auch entmutigen kann. Nicht so den Autor des vorliegenden Buches. Er kennt die Gefahr, dass durch Erinnern der „Rest (s)eines Lebens unerträglich“ werden kann, er weiß um die Brüchigkeit und Selektivität seiner „Inseln der Erinnerung, wie verwittert sie auch sein mögen“. Dabei vertraut er auf die emotionale Betroffenheit als Leitstrahl seines Erzählens. Dass also bestimmte Passagen mit Lust geschrieben wurden, andere mit Galle, spürt man, soll man sicher auch spüren. Herzblut ist auf jeden Fall dabei, ganz gleich, ob er sich in der Rolle als Ehemann, Vater und Großvater oder als Student, Lehrer oder Wissenschaftler inszeniert. Das geduldige Zuschauen lohnt sich, denn hinter all diesen Rollen verbirgt sich nicht weniger als der Kern der Individualität des Autors, wobei freilich die Rolle des Wissenschaftlers herausragt. Und dieses Wissenschaftlerleben breitet er in 14 Kapiteln gekonnt aus, sprachlich ansprechend, unterhaltsam und informativ zugleich. Angefangen von der Kindheit in Hinterpommern, ziehen traumatische Kriegserlebnisse als Halbwüchsiger auf dem Flüchtlingstreck, die Nachkriegsjahre in Mitteldeutschland ebenso am geistigen Auge des Lesers vorbei wie die Zeit als Student, Junglehrer und schließlich als Wissenschaftler und Professor für Deutsch als Fremdsprache im In- und Ausland. Dabei kann es nicht überraschen, dass das Herder-Institut als beruflicher Mittelpunkt des Autors sowohl quantitativ als auch durch die intime Kenntnis seiner Entwicklung bis in die Nachwendezeit einen besonderen Platz einnimmt.

Warum schreibt man und für wen? Obwohl dem Autor eingangs des Buches diese „reichlich abgenutzte Frage“ nicht behagt, bringt es nicht viel, sich dagegen zu sträuben, denn der Text selbst verrät, warum und für wen er geschrieben wurde. „Erinnerungsschreiber wollen sich eher verhüllen als enthüllen“, schreibt Löschmann. Jean-Paul Sartre ist da entschiedener: Wer schreibt, will „enthüllen“, meint er in „Was ist Literatur?“, und dazu braucht er einen Leser, der ein bestimmtes Interesse an seinem Text haben könnte, z.B. : a) ein persönliches, b) ein fachwissenschaftliches und c) ein historisches, politisches bzw. soziologisches Interesse, d.h. auch Leute, die sich etwa für Abwicklungsprozesse im Zuge der Wiedervereinigung interessieren. Und dieser gedachte Leser organisiert als Adressat den Text, denn ohne ihn wäre etwa im Zusammenhang mit der Abwicklung des Instituts die Ausbreitung des Materials, dem offensichtlich eine ‚enthüllende‘ Funktion zugeschrieben wird, gar nicht plausibel. Ohne die Wende wäre das Buch wohl nicht entstanden und der Autor selbst nennt sie als wesentlichen Schreibanlass, z.B. um der Frage nachzugehen: Wie werden wir zu dem Menschen, der wir geworden sind, und warum wurden wir nicht ein anderer? Sartre schreibt in „Die Wörter“: „Ich wollte erzählen, wie viele von ihnen (den Franzosen seines Alters – der Verf.) – darunter auch ich – sich schließlich dem Lager der Ausgebeuteten und Unterdrückten anschlossen und auf ihre Weise für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung zu arbeiten begannen.“ Eine ähnliche Motivation könnte für eine Reihe von Autobiografien gelten, deren Verfasser den größten Teil ihres Lebens in der DDR verbracht und mit ihr Hoffnungen auf eine vermeintlich bessere Gesellschaft verbunden haben, also auch für die vorliegende.

Der vom Autor erhoffte „Unterhaltungs- und Reflexionswert“ seines Buches wird dadurch erreicht, dass er sein Leben in den Strom der Zeitgeschichte einbettet und – nicht selten auch selbstkritisch – reflektiert. Auf diese Weise werden nicht nur prägende familiäre Beziehungen erhellt, sondern es ergeben sich auch nahezu zwangsläufig Bezüge zu aktuellen öffentlichen Debatten. Eine davon ist das lange ignorierte Schicksal der sog. „Kriegskinder“, einer Art Zwischengeneration der Jahrgänge 1930 -1945, zu der auch Löschmann gehört. Er nennt die älteren unter ihnen den „weißen Jahrgang“, der durch die ‚Gnade der späten Geburt‘ nicht mehr für die historischen Ereignisse verantwortlich gemacht werden konnte. Zu jung für den Fronteinsatz oder NS-Organisationen, aber alt genug, um Hunger, Vertreibung, Bombenangriffe, Verlust von Angehörigen und Todesangst zu erleben. Kennzeichnend für diese Generation ist es, über ihre Traumata zu schweigen, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Für die Kriegskinder ging es ums Überleben und dafür mussten sie vor allem funktionieren, was aber zugleich bedeutete, zu vergessen und zu verdrängen, mithin unfähig zu sein zu trauern. Welche psychosozialen Spätfolgen, auch für die nachfolgenden Generationen, die Erlebnisse der Kriegskinder nach sich zogen, hat Sabine Bode in ihrem Buch „Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ eindrucksvoll dokumentiert. Deshalb sei die Auseinandersetzung mit den Traumata der Kindheit keine Privatsache, meint Bode, sondern gesellschaftlich relevant. Hier trifft sie sich mit Margarete Mitscherlich, die die Notwendigkeit zu trauern nicht nur auf die Vätergeneration, sondern ausdrücklich auch auf die Kriegskinder bezieht, „schon um der Möglichkeit einer späteren seelischen Gesundung und Wahrheitsfindung willen.“ Welche Überwindung es Löschmann gekostet haben mag, seine Kriegserlebnisse zu schildern, einschließlich der schockierenden Tatsache, dass der Elfjährige die Vergewaltigung seiner Mutter durch Russen hautnah miterleben musste, kann man nur erahnen. Er erinnert an die Tabuisierung der Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten, meint allerdings, man solle sich nicht gegenseitig die Untaten des Krieges vorhalten, es humanisiere den Krieg und mache ihn akzeptabel. Doch, meine ich: man sollte alles aufzählen und zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht – mit den Verlierern und den Siegern. Nur wenn man zeigt, dass im Krieg alle zum „Tier“ werden, wird er nicht akzeptabel. Es ändert nichts an der Schuldfrage, aber es entheroisiert die Sieger und unterminiert zu Recht den einseitigen Glauben an ihre ‚Segnungen‘. A. und M. Mitscherlich haben auf die gesellschaftliche Funktion des Tabus verwiesen und den Zusammenhang von Tabu, Ressentiment und Rückständigkeit aufgedeckt. Das Tabu habe oft in der Geschichte „eine Kettenreaktion des Unheils“ ausgelöst, denn es befördere erst das Ressentiment und behindere reflektierendes Denken und damit ein freies Urteil, weil es den Erkenntnisstand tief halte und auf diese Weise der Erhaltung der politischen Macht diene. Deshalb wurde das Thema in der DDR tabuisiert

Die neue Studie „Als die Soldaten kamen“ von Miriam Gebhardt hat übrigens gezeigt, dass auch auf amerikanischer und französischer Seite vergewaltigt wurde, am wenigsten aber von britischer Seite. „Die Uniformen waren verschieden, die Taten gleichen sich“, betont Gebhardt und korrigiert damit das Klischee, nur die Russen hätten vergewaltigt, während die Amerikaner sich die Frauen gekauft hätten. Dennoch gab es Unterschiede im Verhalten der siegreichen Soldaten, wofür nach Auffassung des Kriminalpsychologen Rudolf Egg auch die unterschiedlichen Verhaltensnormen in den Armeen der Alliierten verantwortlich waren, also u.a. ob Vergehen an der Zivilbevölkerung geahndet wurden oder nicht.

Dass der Großbauern-Sohn – von der sozialen Herkunft her ‚ein Sonstiger‘, also eher unterprivilegiert – überhaupt studieren konnte, verdankte er dem ‚Vitamin B‘, in seinem Fall der Romanistik-Professorin Rita Schober, die ihm den Weg an die Universität Leipzig ebnete. Zuvor war er – auch als Bewerber für ein Lehrerstudium – abgelehnt worden. Als Student erlebte der Autor die Zeit, als die Germanistik an der Universität in hohem Ansehen stand, nicht zuletzt durch Prof. Hans Mayer, der im legendären Hörsaal 40 „vor seinen in Bewunderung erstarrenden Zuhörern“ (Christoph Hein) nicht nur über die moderne Weltliteratur las, sondern auch immer wieder bedeutende Vertreter der deutschsprachigen Literatur dort zu Gast hatte. Löschmann erinnert sich dankbar und respektvoll an seinen berühmten Lehrer, auch wenn er an dessen Diplom-Thema arg zu knabbern hatte. Nach zwischenzeitlichen Irritierungen fühlte sich Löschmann nach der Wende besonders angesprochen, als Mayer den Aufbau der DDR aus den Trümmern des Krieges mit den Worten verteidigte: „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang.“ So ganz sicher schien sich Mayer allerdings nicht zu sein, wie das ‚möglicherweise‘ verrät. Immerhin hat er diesen Anfang selbst miterlebt. Aus der räumlichen wie auch mentalen Distanz sagt sich ohnehin vieles leichter. Er war privilegiert und konnte die DDR verlassen, als er keine Kompromisse mehr machen wollte, auch nach dem Bau der Mauer. Die meisten konnten das nicht, für sie war die Mauer ein Urteil.

So wie Mayer seine DDR-Erfahrung, so wollte Löschmann seine Zeit als Junglehrer nicht missen, auch wenn es nur ein einjähriges Intermezzo blieb. Es waren wohl überwiegend positive Erfahrungen, die ihn zu der Einschätzung führten, das DDR-Schulsystem sei „trotz der starken Ideologisierung modern und effizient“ gewesen, was er auch während seiner Arbeit in Finnland bestätigt fand. Er hatte offenbar gute Lehrer, die – wie seine Deutschlehrerin – für ihr Fach brannten und auch ihn in seinem Lebensweg positiv beeinflussten. Andere haben das Gegenteil erlebt, weil die Schule ihnen das Leben verbaute. Je nach Erfahrung und je nach Perspektive (Lehrer oder Schüler) werden also die Meinungen auch hier sehr auseinandergehen. Auch Christa Wolf musste das registrieren. Als sie im Wendejahr „auf grundlegende Deformationen bei Zielen und Methoden der Erziehung junger Menschen“ hinwies, hat sie beim Lesen der 170 Zuschriften auf ihren Artikel in der ‚Wochenpost‘ einen unvereinbaren Dissens festgestellt: “Da stehen sich zwei Parteien gegenüber, die in verschiedenen Ländern mit unterschiedlicher Realität gelebt, in unterschiedlichen Schulsystemen gelehrt zu haben scheinen.“ In die Bewertung dieser Frage spielt sicher auch selektive Wahrnehmung hinein.

Langjährige Auslandsaufenthalte strukturieren sein Leben und auch den Text: Finnland, England und China erhalten je ein eigenes Kapitel, aber ebenso ein Land, das der Autor kürzer, aber dafür oft und immer wieder gern bereiste – Russland. Ihm persönlich wie Teilen seiner Generation galt die Freundschaft zur Sowjetunion als „eine Art Wiedergutmachung“, eine Formulierung, die die Anerkennung einer historischen Schuld   und das Bemühen um künftige Kooperation ebenso einschloss wie persönliche Freundschaften. Weil dem Autor das Riesenreich am Herzen liegt, wendet er sich gegen eine gegenwärtig flottierende Dämonisierung Putins durch westliche Medien und verweist auf jene Faktoren, die dazu geführt haben, dass eine Mehrheit der Russen hinter dem Präsidenten steht. Schließlich habe er die verhängnisvolle Politik Jelzins korrigiert und durch seinen Kampf gegen Korruption das Land stabilisiert, was Gorbatschow nicht gelungen sei. Hinsichtlich Russlands diagnostiziert der Autor ein Messen mit zweierlei Maß, was sich in den deutschen Medien besonders während der Berichterstattung über die ‚Putin-Spiele‘ in Sotchi gezeigt habe. Nicht umsonst gelte er im Bekanntenkreis als ‚Russlandversteher‘.

Mit diesem stigmatisierenden Begriff wird seit geraumer Zeit in den Leitmedien ein abweichender Standpunkt bekämpft, der versucht, russische Politik vor dem Hintergrund historischer und soziokultureller Zusammenhänge zu erklären, und sich damit ausdrücklich vom journalistischen Mainstream abgrenzen will. In ihrem umstrittenen Buch „Russland verstehen“ beklagt die Journalistin Gabriele Krone-Schmalz die schwindende Medienvielfalt und die wachsende Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung, die sich darin ausdrücke, dass ein Teil der journalistischen Zunft sich selbst für unfehlbar halte und die Urteilsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt anzweifle, während zugleich in der Bevölkerung die Kritik an einer einseitigen Berichterstattung durch die Medien wachse.

Für das doppelte Meinungsklima ist eine verwirrende Informationspolitik ebenso verantwortlich wie unterschiedliche Erfahrungen, die in die Meinungsbildung einfließen. Zum einen rührt also das Unbehagen in Teilen der Bevölkerung daher, dass sie größtenteils von den Informationen abhängig sind, die die Medien vermitteln. Wie unsicher diese Informationen aber sind, zeigt Krone-Schmalz, indem sie – im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt – eine Vielzahl der von der sog. Mainstream-Presse veröffentlichten Informationen als unwahr oder halb wahr entlarvt und ihrerseits durch ‚gesicherte Fakten‘ ersetzt, wobei sie allerdings einräumt, dass es viele Wahrheiten gebe. Dennoch muss auch sie damit leben, dass ihrer Sicht auf Russland – selbst in Fachkreisen – entschieden widersprochen wird. Die meisten sind also beim Urteilen über Russland auf ihr mediales Bewusstsein angewiesen und in den Medien findet jeder das, was er möchte. Welchen Informationen kann man vertrauen? Welche Fakten sind gesichert? Angesichts der unübersichtlichen und widersprüchlichen Informationen, wie sie von Tagespresse, Fernsehen und Internet vermittelt werden, fühlen sich nicht wenige mit einem verlässlichen Urteil überfordert.

Zum anderen rekurrieren Meinungen auch auf Erfahrungen. Wie Krone-Schmalz verweist auch Löschmann auf die anhaltende Wirkung historisch bedingter Ressentiments, wenn immer es um Russland geht, für ihn auch eine Folge der „z.T. verlogenen Freundschaftspolitik in der DDR“, die sich z.B. in einer quasi obligatorischen Mitgliedschaft in der Massenorganisation DSF zeigte. Tatsächlich war diese Organisation ein Beispiel für die Mythenbildung über die deutsch-sowjetische Freundschaft in der DDR. Wie formalisiert das Verhältnis zu den Russen tatsächlich war, zeigte sich spätestens dann, wenn die auf institutioneller Ebene erwünschte und proklamierte Freundschaft sich auf die private Ebene auszuweiten drohte. Fernsehdokumentationen haben Schicksale nachgezeichnet, dass sowjetische Soldaten in die Heimat versetzt wurden, weil bzw. obwohl sie Kinder mit ostdeutschen Frauen hatten. Die Isolierung und Fremdheit der Russen im DDR-Alltag beschreibt Hans Mayer als Zeitzeuge in seinen Memoiren: „Überall sah man in der Stadt die wohlbekannten Uniformen, allein sie blieben fremd, und hatten es zu bleiben.“ Kein fröhlicher gemeinsamer Umtrunk in Kneipen, wie es im Westen normal gewesen sei, stattdessen seien sowjetische Soldaten „nur in Rudeln durchs deutsche Land geführt (worden) wie durch eine Pestzone.“ Die „strenge Berührungsangst“ habe auch mit der Sprache zu tun gehabt: „Wir sprachen nicht Russisch, und die Russen in Leipzig lernten nicht Deutsch.“ Obwohl Russisch erste Fremdsprache gewesen sei, hätten – von Ausnahmen abgesehen – die meisten Schüler, Studenten, Professoren „aus mürrischer Abneigung“ nicht Russisch gelernt. Auf der Basis der weitgehend empiriefreien, weil staatlich gelenkten Beziehungen zwischen Russen und Ostdeutschen konnte sich offiziell ein idealisiertes Bild der SU halten. Man wusste also, was politisch erwünscht war und registrierte deshalb seismographisch alles, was dem inszenierten Bild zuwiderlief.

So machte Löschmann bei seinen zahlreichen Reisen nach Russland die Erfahrung, dass die Wunden des Krieges sich „tief in das kulturelle Gedächtnis des russischen Volkes eingegraben“ haben. Das ist sicher richtig, aber ebenso hat sich nach dem Krieg die einseitige, glorifizierende und tendenziöse Darstellung der SU und ihrer Geschichte in der Schule und den Medien tief in das kulturelle Gedächtnis vieler Ostdeutscher eingegraben. Dieses staatlich verordnete Russland-Bild konnte erst nach der Wende korrigiert werden. Auch wenn Putin mit seinem Konzept eines neuen Staatspatriotismus versucht, durch eine gesteuerte Geschichtspolitik die postsowjetische Identität neu zu begründen und zu diesem Zweck auch Einfluss auf die Darstellung der Geschichte in den Schulbüchern nimmt, die niemandem erlauben solle, „uns ein Schuldgefühl aufzudrängen“, wird er nicht gleichermaßen per Dekret anordnen können, was Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern mit Russland assoziieren. Das ist eben nicht nur der Sieg der Roten Armee über Hitlerdeutschland, sondern auch die rücksichtslose Durchsetzung ihres politischen Systems in Teilen Osteuropas und die Rolle sowjetischer Panzer 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Und Putin wird auch nicht per Dekret anordnen können, dass aus der Sicht vieler Ostdeutscher die eigentliche Befreiung nicht mit dem Jahr 1945, sondern mit der Überwindung der Diktatur 1989 verbunden wird. Es mag für Russland eine narzisstische Kränkung sein, wenn Staaten wie Polen oder das Baltikum oder eben, wie Löschmann erwähnt, die Finnen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, weil sie sich bedroht fühlen und eher dem Westen vertrauen. Aber auch dieses Verhalten wurzelt in historischen Erfahrungen, die man nicht ungeschehen machen kann und die es zu respektieren gilt. Es sollte von westeuropäischer Seite wirklich alles versucht werden, mit Russland zu kooperieren und Konflikte zu vermeiden oder wenigstens friedlich zu lösen. Das bedeutet jedoch keineswegs, die schon unter Jelzin begonnene Konstruktion einer ‚brauchbaren Geschichte‘ zu übernehmen. Vielmehr muss auch Russland damit leben, dass sich das Ausland genauso wie jede Generation und jeder Einzelne ein eigenes Bild macht.

Ungeachtet der ‚Unzuverlässigkeit‘ aller Erinnerungen sind Leser immer wieder gern bereit, sich auf ein gelebtes Leben einzulassen, auch auf eins, wie es das vorliegende Buch ausbreitet. Es ‚enthüllt‘ sehr verschiedene Facetten einer Persönlichkeit, ihre Prägungen durch einschneidende Erlebnisse und ihre Denkweise. Es ist das Leben eines Mannes, der viel von sich, aber auch einiges von anderen erwartete. Es ist ein Leben, in dem persönlicher Ehrgeiz, fachliche Neugier und geistige Wachheit stets präsent waren. Es ist ein Leben mit schmerzhaften Erfahrungen und Enttäuschungen, aber auch mit beruflichen Erfolgen und genutzten Chancen in unterschiedlichen politischen Systemen. Zwar sieht Löschmann die DDR insgesamt nicht unkritisch, aber dennoch überwiegt bei ihm die Erinnerung an die persönlichen Lebenschancen, die sich ihm in seiner privilegierten Position boten, während der Verf. dieser Zeilen die DDR vor allem als ein Land in Erinnerung behalten wird, das Leben verhinderte.

 

  1. Helmut König permalink
    August 24, 2015

    … Ich habe die 2. Rezension bezüglich deines Buches gelesen. Der Autor hat sich wirklich viel Mühe gemacht. Er führt darin auch 3 Bücher an und verbindet sie auf persönliche Weise mit deiner Biografie. Ich kenne diese Bücher und habe sie alle gelesen, weil viel auch mit meiner Biografie in Verbindung gebracht werden kann.

    Mit seiner Schlussbemerkung jedoch, die wie ein endgültiges Fazit über die DDR klingt, habe ich meine Probleme. Das ist mir zu einfach und zu plakativ. Die DDR nur als ein Land zu sehen, dass Leben verhinderte, kann ich so nicht mittragen. Da lohnt es sich auch mal auf die gesellschaftspolitische Gegenwart in unserem „neuen“ Land zu schauen. Ist es nicht besonders Deutschland, wo die Gegensätze zwischen arm und reich in Westeuropa gravierend sind? Oder denken wir an die Bildungschancen, vor allem “ bildungsferner“ Schichten. Macht man nicht ohne Grund gerade Deutschland immer wieder den Vorwurf, dass Kindern dieser Familien eine Karriere verbaut ist? Keine Bildungschancen zu haben, ist sicher auch eine Art verhindertes Leben. Auch wenn grundsätzlich immer wieder entgegnet wird, dass Bildung jedem offen steht, heißt das noch lange nicht, dass es in der Gesellschaft umgesetzt wird. Aber vielleicht missverstehe ich hier auch den Autor.

    Mein Gott, das wollte ich gar nicht alles schreiben.

    Helmut

  2. Brown, Peter permalink
    Juni 24, 2016


    waren letzten Monat auf einer zweiwöchigen Gruppenreise zum ersten Mal in Litauen, Lettland, Estland und Russland. Auf dieser fabelhaften Reise hat mich die Lektüre deines Buches, Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen, ständig begleitet. Meine Schwester Suzy und Peter hatten es zuerst gelesen und mir erst nach langem zukommen lassen. Ich habe deine Erinnerungen mit großem Interesse gelesen und war sehr beeindruckt von deinen „unerhörten“ Erlebnissen, von deinen nuancierten Einsichten und deinen meist sehr ausgewogenen Perspektiven. Hut ab, mein Lieber, es ist wirklich eine großartige Leistung, worauf du sehr stolz sein kannst!

    Liebe Grüße allseits,
    Peter

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