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Was bei der Neuinterpretation von Nackt unter Wölfen ist wirklich neu?

2015 11. April
von Martin Löschmann

Die ARD kündigte die Sendung der Neuverfilmung von „Nackt unter Wölfen“ am 1. April 2015 (http://www.daserste.de/unterhaltung/film/filmmittwoch-im-ersten/sendung/nackt-unter-woelfen-100.html) (MDR am 9.04.15) so an:
Nackt unter Wölfen ist die filmische Neuinterpretation des gleichnamigen Romans von Bruno Apitz, der 1958 erschienen ist. Bruno Apitz, selbst Häftling in Buchenwald, erzählt aus der Perspektive der Opfer vom Widerstand der Buchenwaldhäftlinge, die sich in der Hölle des Konzentrationslagers für die Rettung eines dreijährigen Jungen entscheiden. Seine Protagonisten sind kommunistische Gefangene, die im illegalen Lagerkomitee organisiert sind. Der letzte Satz lässt schon erkennen, worin ein wesentlicher Aspekt der Neuverfilmung des Romans bestehen könnte, nämlich in einer Relativierung des Respekts und Anerkennung verdienenden Einsatzes der kommunistischen Widerständler im KZ Buchenwald. Und so ist es dann auch. Man konnte es einfach nicht stehen lassen, dass der Roman in rund 30 Sprachen übersetzt worden ist und zur Schulpflichtlektüre in der DDR gehörte. Es wird dabei geflissentlich übersehen, dass die Filmbewertungsstelle Wiesbaden dem DDR-Film einst das Prädikat ´besonders wertvoll´ verliehen hatte.
Auch am Herder-Institut der damaligen Karl-Marx-Universität sind der Roman von Apitz und seine Verfilmung in den Internationalen Hochschulferienkursen für Deutschlehrer und Germanisten aus aller Welt gezeigt und behandelt worden, wie übrigens später dann auch Jakob der Lügner von Jurek Becker. Die angemessene Schwarz-Weiß-Darstellung mit großartigen Schauspielern wie Erwin Geschonneck, Armin Mueller-Stahl und Fred Delmare, um nur drei zu nennen, wurde mit Interesse aufgenommen. Freilich lässt sich immer trefflich streiten, ob eine Verfilmung eines Romans gelungen ist oder nicht. Aus heutiger Sicht, nach gut 50 Jahren, fällt ein gewisses Pathos auf, das in der Apotheose der Selbstbefreiung zum Schluss kulminiert: „Kameraden, wir sind frei! Frei! Frei! Frei!“ Wie dem auch sei, der Film konnte fraglos die Charakterisierung nach dem gleichnamigen Roman von Bruno Apitz beanspruchen. Die Neuverfilmung wird das auf keinen Fall von sich behaupten dürfen, bestenfalls kann man von verarbeiteten Motiven des Romans sprechen und man spricht davon. Angesichts dieses Tatbestandes fragt man sich jedoch, wozu überhaupt der Roman bemüht wurde. Warum nicht eine Neuverfilmung der Geschichte auf der Grundlage heute bekannter Fakten, Kenntnisse und Erkenntnisse. Warum nicht eine Dokumentation mit Spielszenen? Es gäbe viele Geschichten über Buchenwald zu erzählen. Und warum hat man nicht wenigstens einen anderen Titel gewählt, wenn es denn nur um Motive geht. Der  Film Nackt unter Wölfen trifft nun ja wirklich nicht den Kern der Geschichte, ganz abgesehen davon, dass es auf dem Ettersberg keine Wölfe gab. Oder war das ein Hund, ein Wachhund gar, der da im Film herumgeisterte? Die SS-Sadisten waren keine Wölfe, sondern Menschen

Der Film diente am Herder-Institut zur Einführung der Weimar-Buchenwald-Exkursion, an der sich die ausländischen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer beteiligen konnten und auch wollten. Wer auch immer am Herder-Institut den Film einführte, mit ausländischen Germanisten und Deutschlehrern den Film und seine Botschaft diskutierte, die humanistische Idee des Werkes wurde stets herausgearbeitet. Niemals jedoch wurde Nackt unter Wölfen als naturalistische Darstellung von Realitäten verstanden. Übrigens auch nicht in der Schule ab der 70er Jahre, wo nachdrücklich zwischen Roman und dokumentarischer Realitätsbeschreibung unterschieden wurde. Auf meinem Notizblatt zur Diskussion des Filmes stehen:

Verfilmung eines Romans, keine Dokumentation der unmenschlichen Bedingungen im KZ, Warum wählte Apitz die Romanform? Er hätte doch als Buchenwald-Häftling seit 1937 eine wie auch immer geartete Dokumentationsform wählen können.
Häftlinge setzen sich unter Lebensgefahr zur Rettung eines Jungen ein, es sind Eingeweihte einer Organisation zum Widerstand im Lager, in dem Kommunisten die Führung haben (Internationales Lagerkomitee). Möglich, weil die SS mit einer Selbstverwaltung der Lagerinsassen operiert, als sog. Kapos Kooperation mit SS unabdingbar, anders können die gesetzten Ziele nicht erreicht und das eigene Leben gerettet werden.
Konflikt: menschliche Tat, Rettung des Jungen “ Gefährdung der Organisation und der angestrebten Befreiung, “ Sieg der Menschlichkeit über die Parteidisziplin, die aber nicht aus dem Kontext Buchenwald herausgerissen werden darf.

Wer an der Buchenwald-Exkursion teilnahm, wurde vor Ort mit den grausamen Verbrechen der Nazis konfrontiert, nicht zuletzt durch einen Dokumentarfilm, der nach der Befreiung entstand und über die Schrecken, das Elend, die Berge von Toten informiert. Ehemalige Häftlinge trugen obendrein authentisch zur Aufklärung bei, und bei meinen mehr als 20 Besuchen der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald hatte ich nicht den Eindruck, dass sie etwas verbergen würden, dass die Verbrechen der Nazis in Buchenwald nicht genügend zur Sprache kämen: die Arbeit im Steinbruch mit Erschießungen auf fingierter Flucht, die unmenschlichen Verhöre im sogenannten Bunker, die Genickschussanlage, die aus Menschenhaut gefertigten Lampenschirme, die Krematorien usw. Man braucht nur einmal in das Heft 25/1974 der Reihe „WEIMAR. Tradition und Gegenwart“ über die Lebensumstände der Häftlinge im KZ Buchenwald hineinzuschauen. Aber diese Grausamkeiten reichten den Machern des neuen Films nicht aus, um den Blockbuster-Brutalitäten  zu entsprechen und womöglich zu übertreffen. Wenn es denn sein muss, aber neue Einsichten in die begangenen Scheußlichkeiten der SS vermitteln sie nicht.

Wenn ich den Film vor der Beendigung meiner Memoiren gesehen hätte, meine Begegnungen mit Buchenwald wären aufgenommen und anderes geschrieben worden, so findet sich im Buch nur ein Reflex auf meinen ersten Buchenwald-Besuch als Student des ersten Studienjahres: Rudolf Große begleitete uns bei unserem gemeinsamen Besuch des KZ Buchenwald: „Unfassbar, was damals passiert ist. Wie kommen Sie damit zurecht, Herr Dr. Große? Als ich auf die damalige Exkursion anspiele, ich selbst war ja 1945 ein Kind, er knapp über 20, erinnert er sich nicht mehr daran, spricht dagegen von seiner Kriegsverwundung als Zwanzigjähriger. Sie hätte tödlich sein können. Nichts da mit Schlagender Verbindung, auf die wir Studiosi den Schmiss auf seiner Wange zurückführten. „Seine Reaktion erschüttert nach mehr als 50 Jahren meine damalige jugendliche Unerbittlichkeit und Forschheit gegenüber Menschen, die für mich, ohne nach den einzelnen Umständen zu fragen, per se für Krieg und Naziverbrechen mitverantwortlich waren.“ (S. 137f.) Keine Frage, ich hatte es mir damals zu leicht gemacht und Buchenwald für mich gewissermaßen in dem Moment abgehakt. Wer die kurze Passage aufmerksam liest, wird natürlich den versteckten Vorwurf des Mitlaufens, des Mitmachens, des Nicht-Widerstandes gegen die Nazi-Barbarei herauslesen. Umso mehr beeindruckte mich als junger Mensch der Widerstand von Häftlingen in Buchenwald, die unter Einsatz ihres Lebens, bei ständig drohender Gefahr agierten, die als Kapo einmal gewonnene lebensrettende Position nebst ihrem Leben zu verlieren. Wie naiv musste man sein oder wie naiv muss man sich stellen, wenn man unter solchen lebens-bedrohenden Verhältnissen fein bürgerlich sittsames  Verhalten erwartet oder gar fordert. Über welche Arroganz muss man verfügen, wenn man sich damit brüstet, man wolle zeigen, dass bei der Führung des Widerstandes nicht alles ‚koscher‘ verlaufen ist. Wer wollte Primo Levi, einem der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, widersprechen, dass unter KZ-Bedingungen bei den Kapos die Grenzen zwischen Schuld und Zwang, Widerstand und Kollaboration verwischt sind. Es ging um das nackte Überleben für alle. Doch diese Grauzone (ein Bild von Levi) wird ja keinesfalls gestaltet, sie wird lediglich befleckt.
Natürlich hätte Apitz die schreckliche Situation, in der sich die Kapos befanden, die Grauzone also, deutlicher gestalten können oder gar sollen, aber darauf kam es ihm doch eigentlich gar nicht an, ihm ging um den oben angedeuteten Konflikt. Überdies: Geschichtsromane sind nun mal keine Historienberichte.
Die Erzählung authentischer historischer Ereignisse erfolgt immer auch unter ästhetischen, moralischen, weltanschaulichen, philosophischen Gesichtspunkten, wobei die Intuition dabei nicht unterschätzt werden darf. Der Lektor, der Apitz beriet, ließ sich bestimmt nicht nur von politischen, sondern gewiss auch von ästhetischen Kriterien leiten. Dass die Veränderung historisch belegter Fakten in „Nackt unter Wölfen“ unter bestimmten ästhetischen Gesichtspunkten erfolgte, wird einfach ausgeklammert. Das zu rettende und gerettete Kind traf z.B. nicht erst gegen Ende des Krieges ein. Um aber die notwendige Dichte der Darstellung zu erreichen und das nahende Ende, die mögliche Befreiung als Spannungsfolie im Hintergrund zu haben, geschah offensichtlich die zeitliche Verschiebung. Die Schöpfer des neuen KZ-Films scheren solche Fragen wenig, sie nehmen ja nur ein paar Motive aus dem Roman. Sie machen sich nicht die Mühe, in die Strukturierung, in die Auseinandersetzungen des illegalen Internationalen Lagerkomitee hineinzuleuchten und zeigen nicht, wie sich seine Mitglieder im Rahmen der Möglichkeiten für die geschundenen Insassen einsetzten, und zwar unabhängig davon, ob sie Kommunist waren oder nicht, aus welchem Land sie kamen. Dafür sorgten zum einen die internationale Zusammensetzung des Komitees und zum anderen seine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten und anderen Personen, die sich furchtlos der notwendigen Disziplin unterordneten. So kam der Kapo Robert Siewert aus der SPD, er war es, der die SS überzeugen konnte, polnische Kinder zu Maurern auszubilden, damit die vielfältigen Baumaßnahmen mit geeigneten Fachkräften schneller vorankämen. Damit wurden die Jungen vor dem sicheren Tod gerettet. Übrigens war das nicht die einzige Tat zur Rettung von Kindern und Jugendliche aus den verschiedenen Ländern, wie man sich schnell unter buchenwald. de informieren kann („Konzentrationslager Buchenwald 1937 – 1945, Broschüre „Arbeitsblätter, Arbeitsmaterialien fü Haupt-, Real- und Regelschulen“). Wie eingeschränkt die Möglichkeiten des Komitees waren, zeigt auch, dass es die Ermordung des Führers der kommunistischen Partei Ernst Thälmann nicht verhindern konnte.

Gert Schramm, der wohl einzige Schwarze unter den Häftlingen, berichtet (vgl. http://www.mdr.de/geschichte-mitteldeutschlands/meine-geschichte/gert-schramm106.html), wie ihm der Kapo Willi Bleicher, der für die SS die Arbeitsstatistik führte, „leichte Arbeit bei der Essensausgabe zuschob, bis ich wieder zu Kräften kam“. Gehört so etwas nicht zur Wahrheit der Buchenwaldgeschichte?
Für die Filmmacher offensichtlich nicht. Man merkt die quotenschaffende Absicht und ist verstimmt. Nur kräftig die kommunistischen Protagonisten verdächtigen, womöglich sie auf eine Stufe mit den SS-Schergen stellen. Wie anders soll man die Szene verstehen, in der ein Häftling von den Kommunisten ertränkt wird. Nehmen wir mal an, es gäbe dafür Belege, dann wäre es doch opportun gewesen zu klären, wie es dazu kam. Nein, es wird nur die Aktion vorgeführt. Warum sollte man auch, die Kleinhaltung der Rolle der Kommunisten im Lager Buchenwald ist beabsichtigt. Ja, der Widerstand wird geradezu lächerlich durch die Schlussbilder gemacht: die SS flieht ins Grüne, das es so im April noch gar nicht geben kann, die Gefahr ist vorbei, jetzt kommt es zum Aufstand, die eingeweihten Häftlinge greifen zu den wenigen Waffen, die sie unter Lebensgefahr ins Lager geschmuggelt hatten. Es mag so gewesen sein, ich war nicht dabei, die Filmschöpfer aber auch nicht. Aus den verbürgten historischen Quellen geht eindeutig hervor, dass tatsächlich an diesem Traum der Selbstbefreiung jeden Tag aufs Neue unter lebensbedrohenden Bedingungen Handlungen gearbeitet wurde. Allein dass es eine bewaffnete Widerstandgruppe im Lager gab, verdient unseren uneingeschränkten Respekt, wenn schon keine Anerkennung möglich ist. Nur weil dieser Widerstand, der so manchem das Leben gerettet hat, so widersprüchlich er auch gewesen sein muss, vorwiegend von Kommunisten organisiert worden ist, muss er nicht ins Leere geführt werden, nein darf er nicht ins Leere geführt werden.
Um es klar zu formulieren: Spätestens an diesem Punkt wird die Verfälschung der Romanverfilmung augenfällig, denn wenn es dem Regisseur um eine aktualisierte angemessene Verfilmung des Romans gegangen wäre, hätte er diese einmalige Leistung der Protagonisten in einem KZ differenziert ins Bild setzen müssen. Wenn er allerdings die Geschichte des KZ Buchenwald filmisch verarbeiten wollte, die sich nach 70 Jahren durchaus als notwendig erweisen kann, dann ist ihm jede künstlerische Freiheit gewährt, natürlich auch, wenn er sich mit der vermeintlichen Instrumentalisierung der Buchenwald-Geschichte durch Ideologen der DDR auseinandersetzen wollte. So aber ist die Neuverfilmung des Romans „Nackt und Wölfen“ alles andere als eine neue, sondern nur eine besserwisserische, sich über das Spezifische im Lager Buchenwald arrogant erhebende Interpretation.

Nachtrag Januar 2016:
Ich hätte wetten können, irgendeinen größeren Preis bekommt diese ‚Mainstream-Verfilmung‘ auf jeden Fall. Anfang des neuen Jahres war es dann endlich so weit:
Der Deutsche Fernsehpreis in der Kategorie „bester Film“ erhielt die für mich mehr als problematische ARD-Produktion „Nackt unter Wölfen“. „Neue historische Erkenntnisse“ sollen ein wichtiges Kriterium für die Auszeichnung gewesen sein. Philipp Kadelbach hatte bereits den bayerischen Fernsehpreis „Bester Regisseur“ für diesen Film erhalten. Indes will ich nicht verkennen, dass der Film zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald seine Pflicht und Schuldigkeit getan hat.

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