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Fundsache November 2013

2013 27. November
von Marianne Löschmann

Im Internet findet man alles und fast alle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich auf Anibal Ramires Erinnerungen aus dem Jahre 1995 stoße und sie lesenswert finde. Sie im „Online-Magazin für Politik und Kultur in Lateinamerika“ zu finden (Heft 10/Frühjahr 95);
http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/nicaragua/als-ich-ein-kind-war-wollte-ich-irgendwann-einmal-nach-deutschland-fahren-19093.html
Ramire kam aus Nicaragua in die DDR, um zu studieren oder zu promovieren, aus seinem Text geht das nicht eindeutig hervor, aber natürlich kommt das Herder-Institut darin vor. Nur diesen Passus greife ich hier für diejenigen heraus, die womöglich an seinen Erlebnisse an diesem Institut und seinen Ansichten über dieses Institut interessiert sind. Man kann den Auszug auch als Anreiz verstehen, den ganzen Bericht zu lesen, auch deshalb, weil er darin seine Aus- bzw. Weiterbildung in der DDR durchaus kritisch beleuchtet.

Als ich ein Kind war, wollte ich irgendwann einmal nach Deutschland fahren

… Bevor ich in die DDR kam, hatte ich ein ziemlich naives Bild von diesem Land und seinem realen Sozialismus. Es war eine Vorstellung, die ich mir Anfang der achtziger Jahre mit Hilfe einiger Bücher über das Leben in der DDR und weniger Romane von DDR-Autoren gebildet hatte. Von Leuten, die schon in der DDR gewesen waren, hatte ich viel Gutes gehört.
Ich kam also im September 1984 in die DDR. Wir landeten sehr früh am Morgen in Berlin-Schönefeld. Ich erinnere mich, dass es kalt war, und dass die Straßenlampen noch angeschaltet waren. Ich hatte einen ungefähr 14 Stunden langen Flug hinter mir, nicht gerechnet eine 90minütige Pause in Gander, Kanada. Es war mein erster Flug gewesen. Auf der Strecke von Kuba nach Gander hatte es unerwartet einen Sturm gegeben, der mich nervös und hilflos machte. Ich glaube, ich werde diesen Flug nicht mehr vergessen, er war eine der schrecklichsten Erfahrungen in meinem Leben. Ich gehörte zu einer Gruppe von 45 Studenten und Aspiranten, die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Regierung Nikaraguas in die DDR zum Studium fuhren.
Ich begann, Leipzig kennenzulernen. Mein erster Eindruck war, dass ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt fühlte. Die Stadt schien irgendwann aufgehört zu haben, sich weiterzuentwickeln. Ihre Verwahrlosung und ihr Geruch einer alten, schlecht gepflegten Dame schienen allgegenwärtig. Leipzig glich jenen Städten, die ich aus Filmen der vierziger und fünfziger Jahre kannte. Später stellte ich fest, dass dieser Eindruck dem Charakter der Stadt nicht gerecht wurde. Oder vielleicht habe ich mich im Lauf der Zeit auch an ihr Gesicht gewöhnt. Leipzig ist für mich eine dunkle, traurige und melancholische Stadt. Meine Heimatstadt ist immer noch Managua. Dieser Stadt fühle ich mich verbunden, trotz der Entfernung und der langen Zeit meiner Abwesenheit. Sie verkörpert alle Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend. Trotzdem habe ich Leipzig in den letzten Jahren mögen gelernt. Die Stadt ist mir nicht mehr fremd. Es ist ‚mein Leipzig’ geworden, in dem ich viele Straßen, viele schöne und häßliche Ecken kenne und in das ich gern zurückkomme, wenn ich ein paar Tage nicht dort war. Trotz der manchmal stickigen Luft und der bröckelnden Fassaden fühle ich mich wohl.
Eine einzigartige Erfahrung für viele Ausländer, die in die DDR zum Studium kamen, war das Erlernen der deutschen Sprache. Es war ein für jeden ganz anderes Erlebnis, und für viele blieb es wahrscheinlich unvergesslich. Ich habe am Herder-Institut Deutsch gelernt, der zentralen Sprachbildungseinrichtung für ausländische Studenten. Das Herder-Instituts hatte zwei große, düstere Häuser in der Lumumba-Straße. Sie erinnerten mich an Häuser aus den Filmen von Alfred Hitchcock.
Ich gehörte zu einer Gruppe von 8 Studenten; die meisten von uns waren Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Mit 25 Jahren war ich der Jüngste. Fast alle hatten zu Hause Familien, hatten einen Beruf und schon einige Jahre gearbeitet. Sie kamen in die DDR zur Weiterbildung. Die Deutschkurse am Herder-Institut glichen indessen eher dem Unterricht an einer Grundschule als an einem Institut für Erwachsenenqualifizierung. Wir wurden wie Schulkinder behandelt. Der Lehrgang selbst bestand vornehmlich aus endlosem Wiederholen des Vorgesprochenen oder in der Beantwortung stereotyper Fragen. Im ersten Semester war ich sehr diszipliniert; im zweiten gab sich das. Ich stellte fest, daß ich nicht viel dazu lernte. In den ersten drei Monaten lernt man eine Lektion pro Tag; das bedeutet, 30 bis 50 neue Wörter und dazu die entsprechende Grammatik zu memorieren und die Hausaufgaben zu machen. Ich verbrachte fast meine gesamte freie Zeit über den Büchern im Internatszimmer oder in der Deutschen Bücherei und hatte kaum Gelegenheit, das Gelernte irgendwo anzuwenden. Am Ende habe ich die Prüfung des Herder-Instituts bestanden, aber Deutsch konnte ich nicht, und meine Phonetik ist heute noch ein Rätsel für viele Gesprächspartner.
In diesen 10 Monaten habe ich keine einzige Bekanntschaft mit Deutschen geknüpft, und unterhalten habe ich mich ausschließlich mit meinen Landsleuten. Ich wohnte in einem Internat, in dem nur Ausländer lebten. In unserem Zimmer waren wir zu dritt drei erwachsene Leute, die sich nicht kannten, mit völlig unterschiedlichen Gewohnheiten und Lebensrhythmen. Nicht immer gelang es uns, alle Interessen unter einen Hut zu bringen. Im Nachbarzimmer wurde nachts oft gefeiert, und bis um 2 Uhr morgens hörte man laute Musik und Türenknallen und lärmende Betrunkene auf den Gängen. Unter den Studenten, die für die Sauberkeit der Toiletten und Küchen verantwortlich waren, hatten manche noch nie in ihren Leben einen Lappen in die Hand genommen.
Nach dem Abschluss des Herder-Instituts konnte ich in ein anderes Internat umziehen, in dem auch deutsche Studenten lebten. Dort hatte ich das erste Mal öfter mit Deutschen zu tun und konnte ein bisschen von ihrem Leben, ihren Meinungen und Problemen kennenlernen. Ich habe das als ein Art Befreiung aus der Isolierung empfunden. Vorher lebte ich zwar hier, wusste aber von dem Leben um mich fast nichts. Die ausländischen Studenten blieben unter sich und haben deswegen auch die Eigenarten des Lebens hier nur sehr langsam begriffen. Es gab auch Studenten, die später noch kaum Kontakte suchten. Das konnte die verschiedensten Gründe haben. Meist waren Hemmungen im Spiel, wenn sie ihr Deutsch als mangelhaft empfanden. Manchen fiel die kulturelle Umstellung sehr schwer. Andere hatten Probleme zu Hause, in der Familie, oder es kamen Nachrichten von dort, die sie erschreckten: die instabile politische Situation, ökonomische Schwierigkeiten, Dürren, Überschwemmungen, Hungersnöte.

Zwei Anmerkungen:
Mit seinen allgemeinen Bemerkungen zum Herder-Institut bestätigt er indirekt, was im Blog-Beitrag „Das Herder-Institut als Vorstudienanstalt“ bereits dargestellt worden ist, nämlich die zu eng gefasste Betreuung, die in Gängelei ausarten konnte. Da Anibal Ramirez schon zu den älteren Studenten gehörte, musste ihm das Gängelei durch einige Lehrer und Lehrerinnen unangenehm sein.
Und zu seiner Sicht auf die Sprachausbildung ist zu sagen: Automatisierungsübungen, ohne Wert und Notwendigkeit solcherart ‚Leibesübungen‘ etwa generell bestreiten zu wollen, gab es zu der Zeit und bei dem Lehrmaterial, das am Institut entwickelt und eingesetzt wurde (vgl. auch hier den obigen Betrag) zweifellos im Übermaß. Und wer zudem schon einige Deutschkenntnisse besaß, und ich vermute mal, Anibal Ramirez verfügte bereits über solche, dem mussten diese Übungen besonders überflüssig und langweilig erscheinen. Die nicht genügende Binnendifferenzierung am HI muss als Mangel anerkannt werden.

Nicht recht nachvollziehen kann ich die kritischen Bemerkungen zur Phonetik, der wissenschaftliche und der in der Ausbildung praktizierte Beitrag des HI auf diesem Gebiet ist nun wirklich weltweit anerkannt worden, auch nach der Wende. Hier hätten Anibal Ramirez ein paar mehr Automatisierungsübungen womöglich nicht geschadet.

Und das „Haupthaus, also das, in dem der Deutschunterricht vornehmlich stattfand, war, wenn auch nicht als besonders schön zu bezeichnen, hell jedoch auf jeden Fall.

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