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Fayoum, Siwa, die Steins und ich

2013 18. April
von Bernd Landmann

XXXOasen also ist der thematische Schwerpunkt dieses Heftes. Als ich mir die Frage stellte, ob ich dazu etwas beizutragen wüsste, fiel mir auf Anhieb das Stichwort Fayoum ein. Irgendwann im April 1969 habe ich diesen ägyptischen Garten Eden kennengelernt. In meinen Aufzeichnungen von damals auf inzwischen vergilbtem und brüchig gewordenem Luftpostpapier ‚Made in Egypt‘ lese ich nicht ohne Rührung, wie sie einen oft überkommt, wenn man sich längst vergangener Erlebnisse erinnert, über die Fahrt dorthin: Die Sonne schien grell und zauberte riesige Seen in die Wüste, die sich beim Näherkommen als optische Täuschungen erwiesen. Die Straße passte sich den Bodenwellen des Wüstenplateaus an. Der Wagen schien oft durch die Luft zu schweben, wenn er eine Welle zu schnell genommen hatte. Im Magen stellte sich dann ein eigenartiges Gefühl ein, ähnlich dem beim Riesenradfahren, wenn es nach unten geht. Nach knapp einer Stunde stiegen die Palmen der Oase am Horizont auf. Ich lese weiter und sehe wieder, wie Kühe und Büffel mit verbundenen Augen einförmig Kreise drehen, um auf diese Weise uralte Schöpfwerke in Bewegung zu halten. Ich sehe wieder die eigenartigen quaderförmigen Taubenhäuser mit ihrer Unzahl von bienenkorbähnlichen Aufbauten, wie ich sie nirgendwo anders in Ägypten so zuvor schon gesehen hatte. Und ich sehe auch wieder die überbordende Fälle von bunten Körben jeglicher Art, die mich verführt hat, eine große Menge davon zu kaufen, weil mir in den Kopf geschossen war, der gähnenden Leere der gerade in Dokki bezogenen spärlich möblierten 6-Zimmer-Wohnung durch massenhafte Bekorbung entgegenwirken zu können. Doch dann… Nein, Fayoum ist kein Thema, das ich vor den Lesern von Papyrus ausbreiten möchte.
Ich war hierher gefahren als Mitglied einer Prüfungskommission. Wer den vom ägyptischen Fernsehen ausgestrahlten DDR-Fernsehkurs Sprechen Sie Deutsch? gesehen hatte, konnte sich überall, wo er zu empfangen gewesen war, einer Prüfung unterziehen und ein Zeugnis erwerben. Im Kulturhaus des Hauptortes der Oase hatten sich viele Honoratioren versammelt: Apotheker, Ingenieure, Ärzte, Lehrer. Alle waren ganz scharf auf ein solches Diplom. Wir haben sie durch die Bank bestehen lassen, auch wenn sie kaum drei deutsche Worte richtig aussprechen konnten. Unser unmissverständlicher Auftrag lautete, der DDR um jeden Preis Freunde zu gewinnen. Ohne Schummeln, Tricksen und Zudrücken aller Augen, selbst der Hühneraugen, war er nicht zu erfüllen. Und nun soll ich mich ohne Not der Mittäterschaft an einem schlimmen Betruge anklagen?! Ich kann ja nicht auf mildernde Umstände deshalb hoffen, weil die Sympathien, die ich in Fayoum auf diese Weise mitzuerzeugen half, am Ende dem Staat, der sich daraus Vorteile versprach, nicht nachhaltig genützt haben. Nein, nein, nein, einen Oasen-Artikel kann ich nicht liefern. Das stand für mich nun fest. Doch was lehrt James Bond? Sag niemals nie! Der Name Stein, den ich beim Weiterlesen in meinem Tagebuch entdeckte, ließ mich meine Meinung ändern.

Meine Frau und ich lernten Lothar Stein bei einem Abendessen in Mohandessin kennen, zu dem mein Freund Dietrich Engel eingeladen hatte. Unter dem 29. Dezember 1968 notierte ich darüber in mein Tagebuch: „Wir waren vier junge Ehepaare und ein junger Mann, ein gerade aus Leipzig angekommener Wissenschaftler – ein Völkerkundler, der sich im arabischen Raum bestens auskennt, der schon mit Wüstenfürsten in der Sahara gespeist hat, dem die Palmenhaine Nubiens vertraut sind wie die Bazar-Gassen Bagdads, mit einem Wort: eine interessante Persönlichkeit.“ Der Ethnologe beherrschte die Tafelrunde, denn er verstand es, die kleine Gesellschaft durch jede Menge Schnurren auf das kurzweiligste zu unterhalten. Eine scheint mir wert, hier wiedergegeben zu werden: „Einmal suchte ich in Alexandria ein Nachtquartier. Durch Empfehlungen kam ich zu einer Pension, die von einer Österreicherin geleitet wurde. Die Dame hatte, das war auf den ersten Blick zu sehen, durch die Fleischtöpfe Ägyptens völlig die Fassung verloren. Sie schob ihren üppigen Körper durch die Tür und gurrte erfreut: ‚Mei, das also ischt der Doktor Stein?! Sieht grad wie mein Schwager selig aus. War ein Filou, mein Schwager selig. Und fidel. Und dann hat er sich erschossen. Grad so sehn Sie aus.“
Bald erfuhr ich Genaueres über diesen Dr. Stein, denn wir freundeten uns in der Folge ein wenig an. Er hat sich, um es vorwegzunehmen, nicht erschossen. Erst vor Kurzem haben wir wieder einmal fröhlich zusammengesessen und über die alten Zeiten geplauscht.Lothar Stein hat von 1960 bis 1962 an der Universität Bagdad Arabisch studiert. Zugleich hat er im Zweistromland zu seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe gefunden, der Beduinenforschung. Die unglaubliche Geschichte, dass ihn Scheich Mischan Feisal, Stammesoberhaupt der Schammar-Beduinen, in aller Form an Sohnes statt angenommen hat, während er sich bei ihm und seinem Stamm im irakischen Steppenland Djazira zu völkerkundlichen Feldforschungen aufhielt, erzählt er bis heute immer wieder gern. Ich sah sie zum ersten Male in seinem spartanisch eingerichteten Pensionszimmer des Bodmin Houses in Zamalek. Doch er hatte die ebenso wahre wie amüsante Story bereits in seinem 1964 erschienenen Buche „Abdallah bei den Beduinen. Durch Städte und Steppen des Ira“ öffentlich gemacht. Mich verblüffte vor allem ihre Pointe. Zur Adoption hatte ein ganz prosaischer Grund geführt. Die Beduinen waren es schlicht müde geworden, ihn als Gast behandeln zu müssen, weil das beduinische Gastrecht an den Gastgeber höchste Anforderungen stellt. Als Stammesmitglied mussten sie ihm keine Extrawürste mehr braten. Auf den Gaststatus verzichtete der junge Völkerkundler allerdings nur zu gern, denn als Sohn des Scheichs bekam er nun viel leichter tiefe Einblicke in das Leben der Schammar, worauf es ihm ja letztlich ankam. Durch die Adoption gelangte er zu einer Fülle interessanten Materials, aus dem er dann seine Doktordissertation destillierte.
Als wir in Kairo miteinander bekannt wurden, hielt Lothar Stein gerade Ausschau nach einem neuen lohnenden Forschungsobjekt. Dabei hatte er eines bereits in die engere Wahl gezogen: die Oase Siwa. Siwa war für mich als Historiker kein völlig unbekannter Ort. Natürlich wusste ich, dass sich in der pharaonischen Antike dort das Dr.Landmann, B Heft 4 2013-page-002
Orakel Amonium befand, genannt nach der mächtigen stierköpfigen Gottheit Amon. Schreckliche und geheimnisvolle Geschichten berichten uns die alten Quellen über dieses Heiligtum in jener, damals zwölf Tagesreisen von Kyrene entfernten fruchtbaren Senke im Sandmeer der Sahara. Eine 50.000 Mann starke Streitmacht, die Perserkönig Kambyses 525 v. u. Z. gegen Siwa in Marsch gesetzt hat, um die Oase seinem Reich einzuverleiben und den Orakeltempel zu zerstören, wurde gnadenlos vom Winde verweht. Bis jetzt wurde keine Spur davon wieder aufgefunden. Alexander der Große dagegen hatte mehr Glück. Er näherte sich dem heiligen Ort aber auch nicht mit Eroberungs- oder gar Zerstörungsgelüsten. Was ihn freilich genau veranlasst hat, sich von der Mittelmeerstadt,die er gerade gegründet hatte, auf den langen, beschwerlichen Weg in die ferne Oase zu begeben, wird wohl nie mehr gänzlich erhellt werden können. Überliefert ist nur, dass ihn die Amonpriester als Sohn Gottes begrüßt haben und er mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck die Orakelstätte wieder verlassen hat. Noch heute zeugen steinerne Reste auf der Akropolis von Aghourmi von der mächtigen Tempelanlage, die es einst dort gegeben hat.
Lothar Stein hat drei Forschungsreisen nach Siwa unternommen. 1969 begleitete ihn seine Frau Heidi und 1976 sein inzwischen verstorbener Kollege Walter Rusch. Der Ertrag waren eine Vielzahl von Publikationen und zahlreiche Ethnographica, die die traditionelle siwanische Alltagskultur veranschaulichen. Diese Artefakte sind heute im Leipziger Völkerkundemuseum zu besichtigen, das mit seinen mehr als 200.000 Objekten zu den reichhaltigsten ethnographischen Sammlungen Deutschlands zählt. Von 1980 bis 2000 ist Lothar Stein Direktor dieses Museums gewesen. Als der junge Völkerkundler in Siwa war, erforschte er eine Gegenwart, die heute bereits wieder Geschichte ist, wenn auch nicht so tief versunkene Vergangenheit wie die des Alexander-Besuches. Etwas über diese jüngere Vergangenheit zu erfahren, ist für den Papyrus-Leser aber vielleicht interessanter als über die brandaktuelle Gegenwart. Vom heutigen Siwa kann sich ja jedermann selbst leicht ein Bild verschaffen. Viele Reisekataloge preisen die Oase bereits seit einigen Jahren als Ziel für Pauschal- und Individualtouristen an. Mit klimatisierten Bussen gelangt man über eine asphaltierte Straße schnell und sicher ans Ziel, und eine ausreichende Zahl moderner Hotels garantieren dort, dass man auf gewohnte Bequemlichkeit nicht verzichten muss. Als die Steins 1969 dorthin reisten, war die Fahrt durch die Wüste dagegen noch ein rechtes Abenteuer: „Für die dreihundert Kilometer lange Fahrt, die Siwa vom Mittelmeerort Marsa Matruh entfernt liegt, brauchten wir damals zehn Stunden reine Fahrzeit. Dazu war eine nächtliche Pause unter freiem Himmel nötig, weil es zu riskant gewesen wäre, der unmarkierten Sandpiste in der Dunkelheit zu folgen.“ (Heidi Stein, S. 36)
Natürlich findet einer, der heute Siwa bereist, vieles noch so vor, wie es die Steins gesehen und beschrieben haben. In den heutigen Reiseberichten liest man wie in den damaligen: Dreihunderttausend Dattelpalmen, fünfzigtausend Olivenbäume, zweihundert Quellen mit teils warmem und vereinzelt außerdem noch sprudelndem Wasser, im Hauptort auf einem Kalksteinfelsen eine verfallende und sich entvölkernde burgähnliche Altstadt mit einem Labyrinth aus winkligen Gassen. Dennoch hält die Oase dem heutigen Besucher ein anderes Gesicht entgegen. Es wirkt weniger eigenartig und fremdartig als noch vor vierzig Jahren, wo es deutlicher geprägt war von der Herkunft der alteingesessenen Bevölkerung. Bei den Siwanern handelt es sich nämlich um Angehörige einer eigenen Ethnie. Es sind Berber, die sich sowohl in Sprache als auch in Kultur von den übrigen Bewohnern Ägyptens unterscheiden. Vieles von deren Brauchtum, das damals noch recht lebendig war, haben die beiden Steins in Wort und Bild festgehalten.
Dr.Landmann, B Heft 4 2013-page-003Heidi Stein widmete sich dabei insbesondere den Frauen, deren Erscheinungsbild und Verhalten die Exotik des Ortes wesentlich mitprägten. Das Auffälligste: In der Öffentlichkeit waren Frauen kaum präsent, und wenn man denn doch einmal welche sah, waren sie in ein blaugraues Ganzkörpertuch eingehüllt, das auch über das Gesicht gezogen wurde. Im Vergleich zum übrigen Ägypten der damaligen Zeit erschien das ganz und gar ungewöhnlich. Wenn es jemandem wie beispielsweise Heidi Stein aber gelang, in diese Frauenwelt ein wenig einzudringen –  ihrem Mann wäre das unmöglich gewesen –  war hier ziemlich viel Normalität zu entdecken und zudem bei einigen auch schon ein relativ starker Wunsch nach Lockerung der starren durch die Tradition festgeschriebenen Frauenrolle. Als Lothar Stein 1976 erneut in Siwa war, begegnete er bereits Frauen, denen „durch Bildung der Aufbruch aus den engen Traditionen gelungen war, wie z. B. Zainab Senussi, die die erste siwanische Lehrerin wurde und die darauf verzichtete, sich zu verschleiern.“ (Heidi Stein, S.41). Dass es aber auch zuvor kontinuierlich Wandel gegeben hat, belegt die beim Aufenthalt 1969 schon völlig außer Gebrauch geratene legendäre Jungfernscheibe (adrim). „Ein Exemplar davon bekam Heidi Stein allerdings noch von jungen Frauen vorgeführt. „Diese große runde, an einem Silberreif hängende Silberscheibe wurde von der Braut 60 Tage lang getragen und am Hochzeitstag bei Sonnenuntergang in der Tamusi-Quelle versenkt.“ ( a. a. O., S.39).

Lothar Steins Fokus bestimmten vornehmlich die in der Westlichen Wüste Ägyptens lebenden und u. a. in Siwa anzutreffenden Aulad Ali. Dieser Stamm umfasst etwa 120.000 Mitglieder. Ursprünglich unterschieden sich die Aulad Ali ethnisch sowohl von den ca. 6.000 berberischen Siwanern als auch von der arabischen Bevö¶lkerung des Niltals. Da im letzten Heft des Papyrus-Magazins bereits ausführlich über Beduinenstämme berichtet worden ist und abgesehen von lokalen Besonderheiten die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser ehemals fast ausschließlich von Nomadenviehzucht sowie Karawanenhandel lebenden ethnischen Gruppen sich in allen Regionen der arabischen Welt weitgehend gleichen, sei an dieser Stelle nur auf die diesbezüglichen Publikationen von Lothar Stein und seinem Fachkollegen Walter Rusch verwiesen.
2010 haben sich die Steins nochmals nach Siwa aufgemacht. Sie waren auf merklichen Wandel gefasst und so beeindruckte sie nicht allzu sehr, dass sie nicht nur ein äußerlich ziemlich verändertes Siwa vorfanden (viele Häuser aus Beton, Fernsehantennen auf fast jedem Dach, ein weitgehend motorisierter Verkehr), sondern auch bestätigt fanden, dass bestimmte Veränderungen im Leben der dortigen Bewohner, insbesondere in ihrem Erwerbsleben, weitergegangen waren. Deshalb sorgte eher für Erstaunen, dass sie auch etliches Vertraute und Bekannte wiederfanden. Besonders überraschte sie dabei, und zwar sehr freudig, dass sie sogar Menschen wieder begegneten, mit denen sie ehemals Umgang gepflegt und die sie mit wichtigen Informationen versorgt hatten, bzw. mit deren Kindern und Kindeskindern. Lothar Stein schenkte ihnen Exemplare von einem seiner Bücher über Siwa und löste viel Freude bei denen aus, die sich oder ihre Verwandten darin auf Fotos abgebildet fanden. So schlossen sich Kreise. Das scheint mir zugleich ein rechter Schluss für dieses Kaleidoskop aus Erlebtem, Gehörtem und Erlesenem zu sein. Finden Sie nicht auch?Dr.Landmann, B Heft 4 2013-page-004 (1)

Quellen:
Rusch, Walter; Stein, Lothar (1988): Siwa und die Aulad Ali, Dieselben (1978): Die Oase Siwa
Stein, Heidi: Erinnerung an die Frauen von Siwa. In: Simurgh, Jg. 2006, H. 2, S. 36-41
Bildnachweis: Heidi und Lothar Stein
(v.l.n.r.) Lothar Stein, Sheikh Idris, Ahmad Nawedji und Sharif Senussi

DIESER BEITRAG ERSCHIEN ZUERST IM MAGAZIN ‚PAPYRUS‘, Heft 4/2013

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