Anmerkungen zu Frau Dr. Wilma Gramkows Dissertation über das Herder-Institut
Als der Beitrag „Fragen an Frau Dr. Wilma Gramkow geschrieben und am 15. Mai 2011 ins Netz gestellt wurde, war mir nicht bekannt, dass die Verfasserin nicht mehr unter den Lebenden weilt, kurz nach der Verteidigung ihrer Dissertation am 10. November 2006 ist sie im Pflegeheim am 30. November gestorben. Nachdem mir das im Laufe eigener Recherchen bekannt geworden ist, könnte die Überschrift als Blasphemie aufgefasst werden. Deshalb wird der Titel des Beitrages geändert.
Der Autor hatte sich Anfang des vergangenen Jahres an die Fakultät in Hamburg gewandt, an der die Dissertation verteidigt worden war. Leider wurde die E-Mail nicht beantwortet. Zu den Gutachtern gehörte übrigens auch Frau Prof. Dr. Barbara Wotjak, die womöglich meinen Text im Herderblog gelesen hat. Es wäre zu erwarten gewesen, dass sie sich zu Wort gemeldet oder mich anderweitig darüber informiert hätte.
So sehr man von Frau Wilma Gramkows Engagement, den Doktorgrad zu erwerben, emotional bewegt sein mag, so wenig kann man natürlich im Interesse des Herder-Instituts und der Wissenschaft von den großen Schwächen dieser Arbeit absehen. Deshalb müssen die Fragen selbstverständlich bleiben, auch wenn sie jetzt nur noch rhetorischen Charakter haben.
Freilich wenn man den erschütternden Text über die Verteidigung undVerleihung der Doktorwürde in einem Schweizer Pflegeheim in Luzern, 18.12.2006/APD http://www.stanet.ch/apd/news/archiv/4984.htm liest, könnte man schon dem Gedanken verfallen, angesichts des Todes die Sache auf sich beruhen lassen. Indes, die Dissertation wurde ins Netz gestellt und damit ohne Angabe der Umstände ihrer Verfertigung öffentlich gemacht.
Mai 2011
Sehr geehrte Frau Gramkow,
womöglich sind Sie schon auf die Zitierung Ihrer Dissertationsschrift DAS HERDER-INSTITUT IN LEIPZIG IM WANDEL DER ZEITEN 1961-1990 (Dissertation [1] pdf), im Herderblog gestoßen und wissen bereits, dass Ihre Arbeit auch ein Anlass war, diesen Blog zu initiieren. In dem Beitrag „Gründe …“ führe ich Ihre Dissertation an, würdige sie kurz und schreibe, dass sie – wie kann es anders sein – einige Fragen offen lassen.
Sie werden gut verstehen, dass Ihre Dissertation, auf die ich über den Blog auch einige ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des HI aufmerksam gemacht habe, bei den Lesern und den Beiträgern auf Interesse gestoßen ist. Ins Netz gestellt, ist sie ja allen zugänglich. Selbstverständlich könnte ich Sie gut verstehen, wenn Sie sich sagten, zu spät, nach fünf Jahren liegt die Dissertation viel zu weit hinter mir. Dennoch möchte ich Sie bitten, Ihre Bedenken hinter sich zu lassen und in die Diskussion einzusteigen, denn ich bin fest davon überzeugt, dass die Antworten auf meine Fragen die angestrebte Diskussion beleben wird, unabhängig davon, dass sich durch den Zahn der Zeit die eine oder andere Frage vielleicht auch erübrigt hat.
1) Mich würde interessieren, wie Sie auf das Thema Herder-Institut der Universität Leipzig gekommen sind. Welche Gründe waren ausschlaggebend? Ihre Berufstätigkeit, Forschungsinteresse, die Anregung Ihres Professors oder welches andere Motiv?
2) Sie schreiben, dass es Ihnen um die Geschichte des Herder-Instituts „auch als Teil der Geschichte der früheren DDR“ (S. 6) gegangen sei. Ein Anliegen, dem sich auch dieser Blog in seiner Begründung stellt. Die Wege, die zur Verwirklichung des jeweiligen Anliegens beschritten werden, sind natürlich verschieden. Der Blog ist in jeder Hinsicht offen und unterliegt einem dynamischen Verarbeitungsprozess. Keine Auswahlkriterien. Wer sich beteiligen möchte ist willkommen, was immer er oder sie vorzutragen hat. Anders das Vorgehen in einer wissenschaftlichen Untersuchung, da stellt sich die Frage nach den Kriterien geradezu zwanghaft. Deshalb an dieser Stelle zwei Fragen:
Welche Kriterien haben Sie der Sichtung Ihrer Funde zugrunde gelegt?
Nach welchen Kriterien haben Sie Ihre Zeitzeugen ausgewählt?
3) In Ihrer Arbeit sprechen Sie von Objektivität, Neutralität und einer unpolitischen Grundhaltung, Tugenden, die für wissenschaftliche Untersuchungen unabdingbar sind und die am ‚alten‘ Herder-Institut beileibe nicht immer gepflegt wurden. Aber wenn sie schon einleitend feststellen, dass die zur Zeit der DDR erschienenen wissenschaftlichen Beiträge und Dissertationen aus einer sozialistisch geprägten Einstellung“ (S.7) hervorgegangen sind, frage ich mich und auch Sie, ob nicht in einer Dissertation wie der Ihrigen gerade dies untersucht und nachgewiesen werden müsste?
4) Die Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist zweifellos eine legitime Untersuchungsmethode, jedoch ist ihre Problematik nicht zu übersehen: Wäre nicht die eine oder andere Angabe zumindest in Frage zu stellen gewesen? Oder anders formuliert: Hätte man nicht entsprechende Fragen einem größeren Kreis von ehemaligen Kolleginnen und Kollegen vorlegen sollen?
Dafür zwei kleine Beispiele:
Sie erhielten von Dr. Andreas Michael, Leiter des Studienkollegs Sachsens; auf die Frage, „warum Herder als Namensträger für das Institut auserwählt wurde“, die Antwort, dass die Namen Goethe und Schiller im Jahre 1961 bereits vergeben gewesen seien. So unbestritten der zweite Grund ist, den Michael angibt, nämlich Herders humanistisches Gedankengut, so ist doch seine erste Begründung zumindest zu hinterfragen: Bereits 11 Jahre vor der Namensverleihung wurde in Marburg ein Herder-Institut gegründet, das sich zu einer zentralen Einrichtung der historischen Ostmitteleuropa-Forschung entwickelte, in der DDR durchaus bekannt war und heute noch fortbesteht.
Offensichtlich berufen Sie sich bei der Beschreibung des praktizierten Modells der Studienvorbereitung auf ein Interview, das Frau Dr. Helga Albrecht, geschätzte Mitarbeiterin des von mir seinerzeit geleiteten Wissenschaftsbereichs, am 21.5. 91 (Fußnote 429, S. 170) gegeben hat. Danach soll es die ‚Pattern-Struktur-Methode‘ gewesen sein, die der sprachlichen Studienvorbereitung zugrunde gelegt worden sei. Abgesehen davon, dass vage bleibt, was darunter verstanden werden soll, lässt sich das didaktisch-methodische Handeln am HI schwerlich auf diesen Begriff reduzieren und erweist sich für mich für die Beschreibung des Unterrichts in den 80er Jahren nicht angemessen. Schon gar nicht kann ich mir vorstellen, dass Frau Dr. Albrecht die Entscheidung für die vermeintliche Pattern-Struktur-Methode „auf den Einfluss der russischen Sprache“ zurückgeführt haben soll, „die eine reiche Flektion hätte und deshalb die Pattern-Drill-Methode nicht zulasse“ (S. 169). Das ist nun wirklich Quatsch, weil es schon seit Mitte der 60er Jahre am Herder-Institut eine klare kommunikative Orientierung des Sprachunterrichts gab.
5) Im Zusammenhang mit der Darstellung der Fachzeitschrift Deutsch als Fremdsprache zitieren Sie Frau Dr. Heidrun Popp, Mitarbeiterin der Redaktion Deutsch als Fremdsprache, nach der Wende Verlegerin, die nach Ihrer Einschätzung davon überzeugt schien, „dass diese Zeitschrift wegen des hohen Niveaus in der Theorie eine sehr hohe Auflage erzielt hätte, und das sei ohne Bemühungen des Herder-Instituts geschehen. Den größten Teil der Auflage (wohl insgesamt nach Lindner 4500 bis 5000- ML) hatte bis zur Wiedervereinigung Deutschlands die Sowjet-Union bestritten – das erklärt auch den großen Anteil sowjetischer Autoren.“ (219) Keine Frage, die Zeitschrift setzte auf hohes theoretisches Niveau und verdankt diesem ihre Reputation, doch Erfahrungswerte besagen auch: Bei Zeitschriften des gegebenen Zuschnitts scheint eher zuzutreffen: je höher der theoretische Anspruch, desto geringer die Auflagenzahl. Die Redaktion der Zeitschrift müsste doch genügend kritische Stimmen aus dem Ausland gesammelt haben, die praxisorientierte Beiträge vermissten. Denn Lehrkräfte als Klientel vor Augen, war hohes theoretisches Niveau keine Garantie für hohe Auflagen. Hans Lindner, damals einer der beiden Redakteure, hat in seinem Blog-Beitrag mit Vehemenz auf die Schaffung der Sprachpraxis unter seiner Leitung hingewiesen. Die Beilage stellte Unterrichtenden praktische Anregungen zur Verfügung: Texte, landeskundliche Informationen, Übungen u.a.m. Warum eigentlich haben Sie ihn nicht konsultiert? Er hätte Ihnen sicherlich Auskunft darüber gegeben, wie sich Mitarbeiter des Herder-Instituts bemüht haben, die Auflagenhöhe zu steigern. Ein Selbstläufer war bei allem Erfolg die Zeitschrift schließlich nicht.
Unbestritten ist wohl, wenn ich mich recht entsinne, dass die Sowjetunion Hauptabnehmer war, aber daraus zu schlussfolgern, dass sich so der „große Anteil sowjetischer Autoren“ erklären ließe, halte ich schon für nachweiswürdig. Ist Ihnen das Beobachtungsergebnis mitgeteilt worden oder haben Sie sich um eine statistische Erfassung bemüht und welche Bezugsgrößen haben Sie eingesetzt? Im Vergleich zu DDR-Beiträgern und -Beiträgerinnen oder zu den anderen damaligen sozialistischen Ländern oder gar im Vergleich zum ‚Rest der Welt‘?
6) Aufschlussreich selbst für einen Eingeweihten wie mich war die Visualisierung der verschiedenen Leitungsstrukturen, die deutlich machen, dass versucht wurde, sie den entsprechenden Entwicklungsetappen, bestimmten Erfordernissen anzupassen. Es bleibe hier dahingestellt, in welchem Maße das gelungen ist. Doch über einen Begriff bin ich bei meiner Draufsicht gestolpert: „Aus vorstehenden Ausführungen sowie Informationen von Wenzel und Hexelschneider ergibt sich folgende grundsätzliche Befehlskette bzw. Verantwortlichkeit des Herder-Instituts“. (S. 49) Welche konkreten Untersuchungsergebnisse haben Sie bewogen, den militärischen Ausdruck ‚Befehlskette‘ zu verwenden?
7) Um eine Institution wie das Herder-Institut, die selbstredend fest in das Herrschaftssystem der DDR integriert war, zu beschreiben, ist es völlig legitim nach der Opposition zu fragen. Als markanten Exponenten gelebter und praktizierter Opposition führen Sie Prof. Dr. Johannes Wenzel an, den nachwendischen Direktor des Instituts: „Wenzel gab ehrlich zu, es auch Professor Hexelschneider verdankt zu haben, dass er all die Jahre, obwohl in Opposition, am Herder-Institut arbeiten und atmen konnte.“(S. 219) Niemand wird in Abrede stellen, dass Wenzel mit der Wende in die Opposition gegangen ist und seine Gründe dafür hatte, die ich nachvollziehen kann. Somit bin ich auch der Letzte, der ihm seine Verdienste beim Aufbau notwendiger demokratischer Strukturen absprechen will, aber zur DDR-Zeit habe ich ihn nicht in der Opposition erlebt, wenn Sie mich gefragt hätten. Die Frage, die mich indes die ganzen Jahre bedrängt und worauf ich selbst noch keine Antwort habe, lautet: Wie bemisst man die mögliche Opposition am Herder-Institut? Wann und wo schlug bzw. – grundsätzlich betrachtet – schlägt kritische Mitarbeit in oppositionelle Haltung und oppositionelles Tun um? Es wäre eine Beleidigung der Opposition in der DDR, wenn ich behauptete, Oppositionelle seien an wissenschaftlichen Einrichtungen gefördert und befördert worden wie andere auch. Dr. Johannes Wenzel ist jedoch in den 80er Jahren zum Dozenten ernannt worden, obwohl er nicht habilitiert war. Woher ich das weiß? Ich selbst war einer der Gutachter, nicht bestellt, sondern von Kollegen Dr. Wenzel vorgeschlagen.
Ich wohne seit nunmehr schon mehr als zehn Jahren im Prenzlauer Berg in Berlin. Dieser Kiez entwickelte sich in den 80er Jahren zu einem Ort der Opposition von Kreativen, Schriftstellern, Lyrikern, Nachdichtern, die durch ihre Lebensweise, Haltungen und ihre Werke ihre Opposition zum Ausdruck brachten. Da kommt kein Zweifel auf: z.B. arbeitete Wolfgang Hegewald als Friedhofsgärtner, Andreas Koziol u.a. als Heizer und Totengräber, Christa Moog u.a. als Reinigungskraft. Doch das nur nebenbei.
In Ihrer Zusammenfassung heben Sie unter anderen Erkenntnissen das ständige unermüdliche Bestreben hervor, den studienvorbereitenden Unterricht zu qualifizieren. Traun fürwahr, so war es. Sie resümieren: „Der Erfolg der Arbeit wurde regelmäßig überprüft und die Auswertung dieser Überprüfungen bildete die Basis für häufige Veränderungen des Stoff- und Kursplans.“ (288) Inwiefern haben Sie in Ihre Darstellung solcher ‚Überprüfungen‘, heute würde man wohl eher von Evaluierungen sprechen, den Anteil wissenschaftlicher Untersuchungen (z.B. in der Gestalt von Dissertationen) zum Unterricht in E/A einbezogen?
Soweit meine Fragen an Sie. Sie müssten ja durchaus nicht alle beantworten und womöglich haben Sie auch Fragen an mich. ‚Gern‘, wie man heute im Neuhochdeutsch mit steigender Tendenz hören kann. Wie immer auch Sie reagieren, ich bin Ihnen schon jetzt dankbar dafür, dass Sie eine profunde Materialbasis für die angestrebte Diskussion geliefert haben.