Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot und was einem bei dieser Nachricht so in den Sinn kommt
1929 – 2011
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Die Todesnachricht habe ich über Spiegel Online erfahren:
Die Schriftstellerin Christa Wolf ist tot. Ich schaue mir an diesem Tage nicht die Tageschau an, sondern später das Heute-Journal im ZDF und könnte die knappe Würdigung Christa Wolfs hinnehmen, wenn da nicht der gönnerhafte Schlussgedanke wäre: Nicht das literarische Werk sei das Bleibende, sondern der Mensch, die Persönlichkeit der Christa Wolf mit den Brüchen in ihrer Biografie.
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Es ist nun mal so, wenn man älter wird, lichtet sich der Freundes-, der Bekannten- und Kollegenkreis. Erst vor wenigen Tagen habe ich gehört,
dass uns der ehemalige Kollege Fritz, Biologielehrer am Herder-Institut, verlassen hat, ein paar Wochen vorher ließ uns unser Freund Herbert Scholze zurück. Doch zum ersten Male bei Todesnachrichten entfährt mir der Satz: Jetzt wird es ernst, Christa Wolf ist gestorben.
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Christa Wolf starb im Alter von 82 in Berlin, da hätte ich noch ein paar Jahre, sechs genau, wieso dann dieser Satz? Christa Wolf war nicht nur die große Schriftstellerin, deren Werke uns seit Anfang der 60er begleiteten und unsere Sinne und den Verstand schärften, sondern auch die Kritikerin des Systems, in dem wir lebten, immer auf der Suche nach der anderen, der besseren DDR, die sie wie wir nicht finden
konnte: Kein Ort. Nirgends. Später wird sie sagen: „Wir hatten für einen sehr kurzen geschichtlichen Augenblick an ein ganz anderes Land gedacht, das keiner von uns je sehen wird.“
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Sie hat uns Nachdenken gelehrt und uns zu Nachdenklichen gemacht. Die Erzählung Nachdenken über Christa T. ist dafür ein augenfälliges Beispiel. Was ist das: Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen? Das Zitat von Johannes R. Becher, der Erzählung vorangestellt, könnte auch als programmatisches Motto ihres Schaffens stehen. Christa T. scheitert am individuellen Anspruch, der sich in der Gesellschaft zerreibt. Das ‚Zu-sich-selber-Kommen‘ ereignet sich in Auseinandersetzung mit den eigenen persönlichen Ansprüchen in einer Gesellschaft, die das vermeintliche Gemeinwesen über das Individuum stellt. Ja, auch sie litt an der DDR und sah für sich dennoch keine andere Wahl. Ich kann mich noch gut an eine Auseinandersetzung am Herder-Institut erinnern, in der einige Diskutanten das Zerbrechen von Christa T. an den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht verstehen konnten, nicht akzeptieren wollten.
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Christa Wolf galt als die große Schriftstellerin der DDR, auch deshalb, weil sie in der Bundesrepublik ebenso anerkannt wurde. Für die Arbeit mit ausländischen Germanisten und Deutschlehrern ein nicht zu unterschätzendes Argument. Es gab einen regelrechten Wettlauf der Leiter von Hochschulferienkursen für ausländische Germanisten und Deutschlehrer, sie für eine Lesung zu gewinnen. Die Humboldt-Universität war da wohl am erfolgreichsten. Ich bin sicher, dass Christa Wolf auch vor Kursanten der Universität Leipzig gelesen hat, nur ich kann mich nicht daran erinnern. So arbeitet halt das Gedächtnis. Hermann Kant, Erwin und Eva Strittmatter, Franz Fühmann, Sarah Kirsch, aber an Christa Wolfs Kommen und Gehen erinnere ich nicht. Bei Beratungen der Kursleiter im MHF gab es immer bestimmte Empfehlungen für die Einladung von Schriftstellern, aber auch Hinweise, bei welchen Namen man sich zurückhalten solle, auch Auftrittsverbote wurden formuliert. Zur Zeit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 gehörte Christa Wolf zu den Schriftstellern und Schriftstellerinnen, bei denen man sich zurückhalten sollte. Sie war bekanntlich Mitunterzeichnern des offenen Briefs gegen die Ausbürgerung. Mit einer strengen Rüge kam sie allerdings davon.
Auch wenn ich michnicht an ihren leibhaftigen Auftritt erinnern kann, (das gewählte Attribut ist der Erzählung Leibhaftig geschuldet), so heißt das nicht, dass sie nicht in unseren Kursen allgegenwärtig war: ihre Bücher, ihre Texte, ihre Essays, Interviews waren Gegenstand im Fortgeschrittenenunterricht in den verschiedenen Kursen, in der Lehrerfortbildung, in Lehrwerken, in der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache wie in der Beilage Sprachpraxis. Ich bin felsenfest davon überzeugt, in dem literarischen Lesebuch Einander verstehen ist sie vertreten, dennoch bewege ich mich zum Bücheregal: ein Auszug aus Der geteilte Himmel. Die
gleichnamige Verfilmung der Erzählung durch Konrad Wolf, der auch einmal zu
einem Auftritt vor ausländischen Kursanten gewonnen werden konnte, war über
mehrere Jahre im Filmbegleitprogramm der verschiedenen Kurse. Auch wenn sie nicht
an die Vorlage herankam, die Problematik des geteilten Deutschland in einer gescheiterten Liebe zu gestalten, stieß bei den ausländischen Germanisten und Deutschlehrern auf Interesse.
Ich bin sicher, dass in Buschas Literarischem Lesebuch für Ausländer (Leipzig 1969) Christa Wolf ebenfalls vorkommt wie in dem von Lutz Richter und Gert Hunger erarbeiteten Deutschen Lesebuch für Ausländer (1989).
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Auch in einem solchen Buch wie Wir diskutieren (Leipzig 1982) durfte Christa Wolf nicht fehlen, und sie fehlt auch nicht. Es finden sich darin Auszüge aus Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen (Berlin 73), in denen es um die Verantwortung der Wissenschaft geht. Christa Wolf besucht Prof. Hans Stubbe, lange Zeit Präsident der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR und stellt ihm u.a. die Frage: Folgen den schlaflosen Nächten der Kernphysiker nun die schlaflosen Nächte der Biologen? Darüber lässt sich doch noch heute trefflich streiten.
Zu dem Thema Verantwortung von Wissenschaft und Wissenschaftlern ließe sich bei Christa Wolf noch so manches Bedenkenswertes finden – nicht zuletzt in ihrem letzten Werk Stadt der Engel.
*In einem der Nachrufe auf Christa Wolf taucht ihr Begriff der subjektiven Authentizität auf, der mit dem Entstehen von Nachdenken über Christa T entwickelt wird, und den Versuch darstellt, objektive Authentizität mt der subjektiven zu verbinden. Man solle die Stimme des Autors hören und sein Gesicht sehen. Ach, was habe ich mir nicht alles zur Christa Wolfs Konzept der subjektiven Authentizität notiert, und wie enttäuscht bin ich, dass in dem von Marianne und mir gemeinsam verfassten Artikel (DaF 1/1984) zu dem geschundenen Begriff des Authentischen im Fremdsprachenunterricht der Begriff der subjektive Authentizität nicht vorkommt.
Dabei wäre doch die Vermittlung zwischen objektiver Wirklichkeitsannäherung und subjektiver Wirklichkeitserfahrung, wie sie Christa Wolf anstrebte, auch ein Weg gewesen, das in dem Wissenschaftsbereich Landeskunde angestrebte objektive Landesbild zu subjektivieren. Irgendwo muss ich diese Frage erörtert haben, aber wo?
In den Werken, aber auch in Wolfs Biografie gab es für mich immer wieder Momente der Identifizierung. Schon, dass sie im heutigen
Westpolen geboren wurde wie ich, dass sie nach ihrer Flucht 1945 mit ihrer Familie in Ostdeutschland und dann in der DDR blieb, bei dem großen Literaturprofessor Hans Mayer studiert hatte, nach der Wende kurz ins Stolpern geriet, ihre schäbige Behandlung nach der Wende durch ein Großteil der Presse sind für mich emotional geladene Erinnerungspunkte. Als Kindheitsmuster 1976 erschien, lange Zeit von mir als entscheidendes Werk angesehen, obwohl Prof. Mayer nicht umhin konnte, ihre aus seiner Sicht ungenügende Kritik von Missständen in der DDR anzumerken, fand ich, sie habe sich mit bewunderungswürdiger Sprachgewalt auch meines Grundthemas angenommen: Kindheit im heutigen Polen, Krieg, Flucht und Rückkehr als Besucherin, Auseinandersetzung mit prägenden Mustern aus der faschistischen Zeit, restaurative Züge der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren. Ich habe diese aufrüttelnde Erinnerung an ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte nicht nur einmal gelesen, aber auch mit der Zeit begriffen, mein konkreter Fall ist anders gelagert als der der Nelly, aber nicht die Fragestellung: Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Ich weiß, ich werde das Werk wieder zur Hand nehmen, wenn ich an meinen
Erinnerungsstücken arbeite. Allerdings zur Zeit brennt mir Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (Suhrkamp 2010) mehr unter den Nägeln. Rund 700 Menschen kamen zu ihrer Vorstellung ihres letzten Roman in die Berliner Akademie der Künste.
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Sie war für mich eine moralische Instanz, doch ihrem mit Heym und Schorlemmer zusammen verfassten Aufruf Für unser Land konnte ich nicht folgen und unterschrieb Dr. Johannes Wenzels Manifest „Zur deutschen Frage“, indem er sich gegen den Aufruf stellte und damit am Herder-Institut rigoros an die Spitze des Aufbruchs zum Umbruch. Nicht Existenzangst, nicht Anbiederung, nicht schierer Opportunismus trieb mich an, sondern einzig und allein die Erkenntnis, es war zu spät, die Macht des Wortes konnte nichts mehr ausrichten, die Ohnmacht des Dichters wieder einmal evident. Wer an der Leipziger Montagsdemonstration teilgenommen hatte, wusste, die DDR war nicht mehr zu retten. In ihrer Rede Sprache der Wende ist indes keine Kehrtwende zu erkennen, eher das Plädoyer für eine Epochenwende, gleichwohl jagte sie einer Utopie nach, die nirgendwo anzusiedeln war.
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Mit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an die Außenseiterin Herta Müller vor zwei Jahren war mir und vielen anderen auch klar, Christa Wolf kann keine Nobelpreisträgerin mehr werden. Ihr Tod macht dieses Wissen leider zur Gewissheit.
Lieber Martin, deine ganz persönliche Sicht auf Leben und Werk dieser großartigen Christa Wolf, die uns das eine oder andere Mal aus dem Herzen sprach oder angesichts ihres unendlichen Idealismus zum Widerspruch verdonnerte, hab ich sehr gern gelesen. Vermisst habe ich – trotz allen Verständnisses für dein aktuelles Interesse für Wolf´s Stadt der Engel als letztes Vermächtnis ihres Schaffens – aber Kassandra. Das Werk erwähnst du gar nicht, und damit kommst du nicht davon! Du musst da wohl noch etwas nachlegen. Wünscht sich jedenfalls Heike
Den stark emotional geschriebenen Artikel von Martin Löschmann zum Ableben Christa Wolfs habe ich mit großem Interesse gelesen.
Leider hat der Autor bei der Würdigung der Werke von Christa Wolf die Erzählung „Kassandra“ vergessen. Das ist im doppelten Sinne schade, da der Monolog Kassandras nicht nur ein großes Leseerlebniss ist, sondern auch ein Hörerlebniss durch die kongeniale Lesung der Schauspielerin Corinna Harfouch in einem Hörbuch (s. YouTube: Corinna Harfouch liest „Kassandra“ von Christa Wolf).
Gleich zwei Hinweise auf Kassandra, da kann ich nur dankbar sein.
Keine Frage, Kassandra zählt zu den großen Werken Christa Wolfs. Die unzähligen Nachrufe nennen es fast durchweg. Nur ich habe keinen Nachruf geschrieben, wenngleich ich sie durch meine ganz persönlichen Erinnerungen auch würdigen möchte.
Indes, wenn ich es jetzt so recht überlege, hätte Kassandra in der Tat nicht fehlen dürfen, schon deshalb nicht, weil ich mich damals über diese lächerlichen, aber symptomatischen Eingriffe in ihre vier Vorlesungstexte ärgerte, die das Entstehen der Erzählung beleuchten. In der Bundesrepublik waren die Texte selbstredend ohne die Auslassungspunkte erschienen, die Christa Wolf womöglich halbherzig vehement in der DDR-Ausgabe durchgesetzt hatte, nicht aber ihren vollständigen Text.
Viel wichtiger wäre gewesen, sich der beeindruckend gestalteten Selbstvergewisserung Kassandras zu erinnern: Das Schwierige nicht scheuen, das Bild von sich selbst ändern. Sich dem mühseligen Prozess der Selbstaufklärung stellen und sich der Objektwerdung widersetzen, das verdient unsere Aufmerksamkeit, und diese Selbsterkenntnis macht den Prozess der Loslösung aus dem gesellschaftlichen Gefüge, in dem sich die Seherin befindet, erst möglich.
Ein sprachlich anspruchsvolles Werk, der Wechsel zwischen Hochsprache und Umgangssprache, die Satzbrüche, Ellipsen, Einschübe, die gelegentlich bewusst bemühte altertümliche Schreibweise und anderes mehr erschweren das Leseverständnis, das durch die Jamben nicht gerade erleichtert wird. Wie oft habe ich gehört: zu schwer für unsere ausländischen Kursteilnehmer.
Und die einfühlsame ‚kongeniale‘ Lesung von Corinna Harfouch gab es damals noch nicht.
Hier eine Hörprobe:
Kassandra – HÖRBUCH von Christa Wolf, gesprochen von Corinna Harfouch
http://www.youtube.com/watch?v=Uh4CCMDFxM4
Nachdenken über Christa Wolf“ oder:
„Warum ich froh bin, dass Christa Wolf den Nobelpreis nicht bekommen hat.“
Martin Löschmanns Gedanken zum Tode von Christa Wolf ist weitgehend zuzustimmen. Mich hat Christa Wolf behutsam von dem Glauben, in der besten aller Welten zu leben, hinweggeführt, wobei auch gesagt werden muss, dass dieses nur gelang, weil persönliche Erlebnisse damit einhergingen. Literatur selbst verändert einen nicht, Literatur gibt Anstöße, die man annehmen oder ablehnen kann.
Doch natürlich ist Christa Wolf eine Schriftstellerin, die in einem räumlich und letztlich auch zeitlich recht engen Rahmen wirkte. Sie schrieb in der kleinen DDR und für die Leser dieses Landes. Hier wurde sie verstanden oder eben auch missverstanden. Im anderen deutschsprachigen Teil wurde sie vielleicht weniger verstanden als vielmehr gedeutet.
Aber Christa Wolf half meines Erachtens sehr viel stärker als Wolf Biermann die Veränderungen in diesem Lande vorzubereiten. Biermann suchte konsequent den Konflikt, Christa Wolf war vor allem eine Schriftstellerin, der es mit poetischen Mitteln gelang, uns Lesern den Wert und die Berechtigung der Individualität wieder bewusst zu machen.
Sie geriet freilich in den Mahlstrom der Ideologien, der sie schließlich 1989 in den Abgrund zog und aus dem sie sich letztlich nie wieder völlig befreien konnte.
Ich durfte mit ihr einmal nach einer Lesung (1981) ein paar Minuten ganz privat sprechen. Sie war auch zu jener Zeit kein glücklicher Mensch.
Den Nobelpreis hätte sie vielleicht erhalten, wenn sie ihr Land DDR in den achtziger Jahren verlassen hätte. Dann hätte sie aber auch sich verlassen und wäre wohl bald so sprachlos geworden wie viele, die diesen Weg gegangen waren.
Den Nobelpreis hätte sie vielleicht erhalten, wenn sie ein epochales Geschehen, wie es Günter Grass in der „Blechtrommel“ und Heinrich Böll in der Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit gelungen war, in den Mittelpunkt hätte stellen können. Doch die „DDR“ war eher ein Randereignis der Geschichte, das kommende Generationen möglicherweise gar nicht mehr in den Geschichtsbüchern finden werden.
Hätte Christa Wolf den Literaturnobelpreis in den achtziger Jahren erhalten, wäre es eine politische Entscheidung gewesen.
Das hätte sie nicht verdient gehabt.
Ich werde sie dankbar in Erinnerung behalten, als Mensch und als eine großartige Erzählerin.
Ich habe erst heute deine Gedanken zum Tode von Christa Wolf gelesen. Irgendwo im Blog schriebst du: Die Toten reiten schnell. Man könnte aber den Spruch auch so verändern: Der Tod reitet schnell.
Jedenfalls kommt mir das so in den Sinn, als ich erfuhr, dass mein bzw. unser Kollege Kurt Hübener kürzlich 88-jährig verstorben ist.
Wie pflegt mein Sportlehrerkollege Eike Butzmann in solchen Momenten zu sagen: „Oh je, die Einschläge kommen immer näher“.Du hast es natürlich eleganter ausgedrückt, wenn du schreibst: … wenn man älter wird, lichtet sich der Freundes-, der Bekannten- und Kollegenkreis.
Der von dir bereits erwähnte Johannes Fritz, Kurt Hübener und auch Günter Riedel, der schon früh von uns ging, waren Kollegen meines Arbeitsbereichs, also enge Mitarbeiter in einer Zeit, die schon lange hinter uns liegt, aber dennoch nicht vergessen ist.
Wenn ich bedenke, dass diese Kollegen nur eine kleine Auswahl derer sind, die nicht mehr mit uns streiten können, da kommt man schon manchmal ins Grübeln und denkt über den Sinn des eigenen Lebens und des Lebens überhaupt nach. Das wird auch nicht dadurch einfacher, wenn man sich vor Augen hält, dass der Tod zum Leben gehört, wie man das gewöhnlich so zu hören bekommt.
Du hast natürlich recht, dass das Leben Christa Wolfs und vor allem auch ihre literarischen Werke eine Hilfe sein können, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen oder zu-sich-selber-zu kommen, um bei deiner Überlegung zu bleiben.
Dass sie den Aufruf Für unser Land, dem du nicht folgen konntest, mit verfasst hat, ist meiner Meinung nach kein Makel an sich, auch wenn die DDR zu diesem Zeitpunkt schon ein überholtes gesellschaftliches Modell war. Vergessen wir nicht, Geschichte wird von Menschen gemacht, und die können sich auch irren! Sie gehörte zu einer Generation, die nach zwei verheerenden Weltkriegen etwas Neues schaffen und nicht eine Restauration alter Verhältnisse wollte.
Leider wurde die Chance vertan, denn die Blütenträume reiften nicht, vielleicht ist sie gerade deshalb so geworden, wie sie gewesen ist.
Na ja, Martin, so weit auseinander liegen wir ja wahrscheinlich gar
nicht. Christa Wolf ist eine großartige Schriftstellerin, das weiß ich,
aber nicht alles, was man verstandesmäßig akzeptieren muss, muss man
gleichzeitig auch lieben oder für sich entdecken. Am Fernsten ist sie mir
mit dem Kindheitsmuster, das ich auch nicht noch einmal lesen will. Ihr Muster ist meinem so absolut unähnlich. Ich bin zwei Jahre älter als
sie. Für diesen Zeitpunkt Kriegsende spielt das, glaube ich, eine große
Rolle. Schon das! Ich weiß, dass es bei dir anders ist, und du ja auch
aus ihrem Gebiet herkommst, insofern einige Berührungspunkte hast.
Inwieweit muss man überhaupt konform mit dem „guten“ Schriftsteller
sein, um ihn für sich zu akzeptieren? Nein, obwohl ich mich noch immer
links zugehörig empfinde, einfach, weil es überhaupt keine andere
Änderungsmöglichkeit der Welt geben wird, aber das bedeutet weder, dass
ich mich mit der Linken als Partei sehr hoffnungsvoll verstehe, noch
dass ich glaube, eine Änderung überhaupt wird sich schnell oder auch
langsam und ohne Blutvergießen und mit soviel dummen Leuten – links,
wie rechts – in einer absehbaren Zeit verwirklichen lassen. Das war mir
schon klar, als sie damals am 4. November oder davor oder danach (?) diesen
Aufruf startete. Ich war ja auch nicht aufgefordert, den zu
unterschreiben. Zumindest als man es rufen hörte „wir sind e i n Volk“,
statt „… d a s Volk“, wusste man doch, wohin die Leute es auch bei uns
haben wollten. Na ja, und ich meine auch, eine Schriftstellerin wie
Christa Wolf hat von vielen Dingen eine Ahnung, aber das Funktionieren eines
Staates mit Wirtschaft usw.? Ich glaube, da war so ein gut gemeinter
Aufruf, nur ein Märchen, Ich weiß gar nicht, wie sie zuletzt darüber
gedacht hat? – Dass euch die Stadt der Engel besser als mir gefallen
würde, konnte ich mir denken, denn ihr kennt ja auch die Gegenden über
und aus denen sie das schrieb, nicht wahr?