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Kleines Kompendium der Liebe

2021 22. August
Schlagwörter:
von Martin Löschmann
Cover-Bild Kleines Kompendium der Liebe für Deutschlernende, Deutschlehrende und Sprachverliebte

Endlich ist das Sprach-, Sprech- und Lesebuch erschienen. Ein Weihnachtsgeschenk auf jeden Fall. Die Autoren Marianne und Martin Löschmann sind Mitglieder des Sprachvereins IIK e.V. Berlin, die sich über mehrere Jahrzehnte wissenschaftlich und praktisch mit Deutsch als Fremdsprache und als Zweitsprache beschäftigt haben. Jetzt haben sie ein unterhaltsames Material zur Unterstützung des Erwerbs der deutschen Sprache vorgelegt, das auf den verschiedensten Sprachstufen als Ergänzungsmaterial, aber vor allem als den Spracherwerb begleitendes, individuell anregendes Lernkompendium am Beispiel der Liebe eingesetzt werden kann.

Im vorliegenden Bändchen werden sprachliche Realisierungsformen der Liebe handlungsorientiert aufgegriffen, wie Partnersuche, Flirten, Komplimente machen, von den vielen schönen Dingen bis hin zu den dunklen Seiten der Liebe, wie Liebeskummer, Ghosting. Das Büchlein unterstützt den Spracherwerb insofern, als es ihn auf eine besondere Art und Weise emotionalisiert, personalisiert und motiviert.
Obwohl die Autoren bei der Zusammenstellung von Texten – in einem bescheidenen Maß auch von integrierten Aufgaben und Übungen – den Deutschunterricht vor Augen hatten, kommen hoffentlich auch Sprachverliebte aller Couleur auf ihre Kosten.

Eine ausführliche Leseprobe finden Sie unter:
https://www.engelsdorfer-verlag.de/ media/pdf/LP_9783969401477.pdf?MODsid=3da3d39da241ad8412457a17eee8ccf9

Das Buch kann u.a. gekauft werden über
Amazon.de und Engelsdorfer-Verlag.de:
https://www.amazon.de/dp/396940147X?ref=myi_title_dp
https://www.engelsdorfer-verlag.de/Belletristik/Erzaehlende-Literatur/Kleines-Kompendium-der-Liebe-fuer-Deutschlernende-Deutschlehrende-und-Sprachverliebte::7724.html?MODsid=9e402cde18e4d565c009d802a7f5a071

Antje Dombrowski und Martin Löschmann (Hrsg.): Zum 80. Todestag von Adam Kuckhoff. Ein kleines Familiengedenkbuch (2023) Leipzig: Engelsdorfer Verlag

2023 5. August
von Michael Thormann

Der Widerstand im Dritten Reich „war und ist kein populäres Thema – damals nicht und heute nicht“, schreibt Ralph Giordano in seinem Buch „Die zweite Schuld“ und das hat verschiedene Gründe. /1/ Zum einen vergleicht er den Widerstand mit einer Insel „im Meer der braunen Zustimmung“, was den Respekt für alle, die widerstanden, nur erhöht. Zum anderen erinnert Giordano an die verengte Wahrnehmung in der alten Bundesrepublik, wo der Widerstand „links von der SPD, vor allem der der Kommunisten“ meist unterschlagen wurde und auch nie „gesellschaftsfähig“ geworden sei. /2/ Während Giordano von einer „kleine(n) Minderheit“ /3/ spricht, ist in DDR-Publikationen von „großen Widerstandsorganisationen“ in Berlin, Leipzig und Thüringen die Rede, die, wie der antifaschistische Kampf überhaupt, von der KPD geführt wurden. /4/

Das Thema Widerstand im Dritten Reich war aber nicht nur Teil der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, sondern – auch deshalb ist es nicht ‚populär‘ – es reicht bis tief in die Familengeschichte, wirft Fragen auf, irritiert, provoziert Zustimmung oder Abgrenzung und berührt somit sowohl die kollektive als auch die individuelle Identität.

Dessen waren sich auch die Familienmitglieder bewusst, als sie beschlossen, den 80. Hinrichtungstag von Adam Kuckhoff zum Anlass zu nehmen, das Leben und den politischen Kampf ihres berühmten Vorfahren zu würdigen, der seine Überzeugung mit dem Leben bezahlte. Herausgekommen ist das vorliegende Gedenkbuch, in dem Vertreter aus vier Generationen ihre individuelle Beziehung zu Adam Kuckhoff beschreiben und das öffentliche Bild der „Roten Kapelle“ kritisch reflektieren.

Eingangs erhellt Marianne Löschmann die mitunter verwickelten und auch nicht immer harmonischen Familienverhältnisse, wobei ein angehängter Stammbaum überaus hilfreich ist.

Auf der Basis eines umfangreichen Quellenstudiums aus dem Nachlass rekonstruiert Mike Dombrowski im ersten Teil wesentliche Stationen von Kuckhoffs privatem und beruflichem Leben als Journalist, Schriftsteller und Dramaturg. Sein bewegtes, umtriebiges Leben, u.a. war er vier Jahre Dramaturg in einer Wanderbühne, erklärt zumindest teilweise, warum sein erster Sohn seine Kindheit überwiegend in Internaten verbringen musste, sodass er seinen Vater schmerzlich vermisste. Berufliche Höhepunkte waren seine Stellen als Chefredakteur der Zeitschrift „Die Tat“ und als Chefdramaturg am Preußischen Staatstheater in Berlin. Die Harnacks und Schulze-Boysens gehörten zu seinem Freundeskreis. Es ist bemerkenswert, dass Kuckhoffs Werke mit Ausnahme des „Scherry“-Romans aus verschiedenen Gründen in der DDR keine Neuauflagen erlebten, auch nicht sein Roman „Der Deutsche von Bayencourt“, der in der DDR-Literaturwissenschaft immerhin dazu diente, eine „Innere Emigration“ von Schriftstellern in der NS-Zeit nachzuweisen und zur Camouflage-Literatur gezählt wurde.

Eine alte Kommode aus dem Besitz von Adam Kuckhoff begleitet Antje Dombrowski schon ihr Leben lang. Ihre humorvolle Beschreibung verdeutlicht sinnbildlich, dass die Kommode mehr sein will als ein Gebrauchsgegenstand, denn so hartnäckig, wie sie ihren reibungslosen Dienst verweigert, fordert sie ihren Benutzer zur Erinnerung an den Erstbesitzer auf. In ihren vier Laden sind zudem symbolisch die generationsbezogenen Zugänge zu Adam Kuckhoff aufbewahrt. Damit beginnt der zweite Teil.

Nach der Kriegsgeneration, für die stellvertretend Briefe des ältesten Sohns Armin-Gerd stehen, in denen er sein schmerzvolles Verhältnis zum meist abwesenden Vater ausdrückt, reflektiert Martin Löschmann als Vertreter der dritten Generation, der sog. Kriegskinder, selbstkritisch seine lange Zeit zu oberflächliche Beziehung zu Adam Kuckhoff, obwohl es fachliche Berührungspunkte gegeben hätte. Diese Lücke schloss Wolfgang Brekle, ein Kommilitone Löschmanns, mit seiner Dissertation über die „Innere Emigration“ von Schriftstellern im Dritten Reich, zu denen Brekle auch Adam Kuckhoff zählte. Das Thema war Anfang der 70er Jahre noch neu und auch nicht unumstritten, denn im Fokus der DDR-Literaturwissenschaft stand die Exilliteratur. Erst die internationale Aufmerksamkeit für Brekles Arbeit ebnete den Weg für ihren Druck in Buchform und machte Kuckhoffs Romane in Fachkreisen bekannt.

In dieser dritten Generation machte sich bei der Enkelin Marianne bereits eine ambivalente Haltung im Verhältnis zu Adam Kuckhoff bemerkbar, die sich auch in den Generationen der Urenkel und Ururenkel wiederfinden wird. Allerdings waren die Motive unterschiedlich, was sicher auch durch die politische Wende von 1989 beeinflusst wurde, als sich das soziale und nationale Gedächtnis änderte. /5/ Ging es Marianne (Enkelin) und Katharina (Urenkelin) noch darum, den berühmten Namen nicht für die eigene Karriere zu benutzen, wollten sich die Ururenkel Julika und Janis nicht von einem Bild der „Roten Kapelle“ vereinnahmen lassen, das in der DDR die Rolle der KPD innerhalb dieser Widerstandsgruppe überbetonte und in der alten BRD die Mitglieder der Gruppe als Spione der Sowjetunion darstellte, was in jedem Fall einer „Geschichtsverzerrung“ /6/ gleichkam, aber nachwirkt, denn auch heute noch nennen Historiker diese Gruppe „die kommunistische Rote Kapelle“. /7/ Solche Zuschreibungen können die Identität einzelner Familienmitglieder und damit auch die Identität der Wir-Gruppe Familie als Ganzes gefährden. Deshalb ist es verständlich, wenn solche Zuschreibungen Unbehagen auslösen und kritisch hinterfragt werden, zumal auch heute noch gilt, was Julika in ihrem Beitrag schreibt: „History has repeatedly shown that it is often in the service of the ruling elites and their ideologies.“ /8/

Insgesamt bezeugen die in dem Band versammelten Beiträge den Respekt der Familie vor Adam Kuckhoff, der in der NS-Zeit zu jener kleinen Minderheit gehörte, die den Mut hatte, einen totalitären Staat aktiv zu bekämpfen und dafür hingerichtet wurde. Dass über dieses primäre gemeinsame Anliegen hinaus die Familienmitglieder ihre persönliche Beziehung zum gemeinsamen Vorfahren beschreiben und die geschichtlichen Kontexte, in die er gestellt wurde, teils unterschiedlich bewerten, macht den Band erst interessant und lesenswert.

(Michael Thormann, Leipzig)

Anmerkungen

1 Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein. (2020) Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 106.

2 Ebenda, S. 99.

3 Ebenda, S. 101.

4 Joachim Streisand: Deutsche Geschichte in einem Band. (1968) Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, S. 285.

5 Vgl. Aleida Assmann: Soziales und kollektives Gedächtnis. In:

https://www.landtag.sachsenanhalt.de/fileadmin/Downloads/Artikel_Dokumente/Aleida_Assmann_-_Soziales_und_Kollektives_Gedaechtnis.pdf, S. 6.

6 Antje Dombrowski/Martin Löschmann (Hg.): Zum 80. Todestag von Adam Kuckhoff. Ein kleines Familiengedenkbuch (2023) Leipzig: Engelsdorfer Verlag, S. 84.

7 Dorothee Meyer-Kahrweg/Hans Sarkowicz (Hg.): Unterwegs in der Geschichte Deutschlands. Von Karl dem Großen bis heute. (2014) München: C.H.Beck, S. 312.

8 Siehe Anm. 6, S. 99.

Eine Anfrage

2021 11. Dezember
von Martin Löschmann

Sehr geehrter Prof. Löschmann,

ich bin vor einiger Zeit im Internet auf Sie gestoßen, und Ihr Name hat dabei allerlei Kindheitserinnerungen bei mir wachgerufen, und zwar jene, die mit dem Herder-Institut in den 1960er und 1970er Jahren im Zusammenhang stehen.
Ein Teil meiner Familie war über viele Jahre eng mit dem Haus in der Lumumbastraße verbunden, in dem ich als Kind häufig verkehrte (keineswegs nur zu den denkwürdigen Kinderweihnachtsfeiern): meine Mutter (Helga Loch), meine Tante (Hildegard Loch) und selbst eine meiner Großcousinen (Monika Grunert). Ich entsinne mich noch gut an die Korridore, die Klassenräume, den Geruch des Instituts.

Ohne dass ich Sie seinerzeit näher kannte, fiel doch bei uns zu Hause Ihr Name zumindest so häufig, dass er – warum auch immer – ziemlich fest in meinem Gedächtnis haften geblieben ist.
Wie Sie bestimmt noch wissen, ist meine Mutter dann leider recht früh aus dem Leben geschieden. Sie war 56. Mein Vater starb wenige Jahre später und Hildegard, meine Tante, dann 1996.

Ich selbst bin inzwischen 66 und genieße seit ein paar Monaten, von den Merkwürdigkeiten der Covid-Situation einmal abgesehen, als Rentner neue, ungeahnte Freiheiten, die es mir erlauben, einen Großteil meiner Zeit der Familie und meinen persönlichen Interessen zu widmen.

Soweit zu ein paar erklärenden Vorbemerkungen, nun überfalle ich Sie mit meinem Anliegen: Ein paar Freunde aus der Leipziger Thomasschulzeit und ich verfolgen die Idee, eine Art Elternporträt zusammenzustellen, bei dem möglichst viele und möglichst viele verschiedene DDR-Biografien ein buntes Kaleidoskop der damaligen Wirklichkeit entstehen lassen sollen. Wir möchten unsere Eltern und ihr Leben in den Kontext ihrer Zeit stellen. Ein Strauß von Lebensbildern könnte das vorherrschende Klischee zerstören, wonach es nur harte Stalinisten, edle Dissidenten und dazwischen eine Menge ewig unzufriedener, undankbarer oder resignierter Kleinbürger ohne Rückgrat gab.
Ich habe es bedauerlicherweise versäumt, meine Familienangehörigen rechtzeitig zu manchen Details ihres Lebens zu befragen, mit ihnen über Irrungen, Ängste, Selbstzweifel oder Träume zu sprechen, ihnen jene Fragen zu stellen, deren Antworten mich heute brennend interessieren würden. Zu spät.

Sie haben meine Mutter über mehrere Jahre als Kollege begleitet. Ich weiß nicht, wie gut Sie sie kannten. Ich weiß ebenso wenig, ob Sie einander nahe standen oder wie vertraut Sie miteinander umgingen. Aber vielleicht können Sie mir, wenn auch nach so vielen Jahren, und sei es nur fragmenthaft, noch etwas erzählen über meine Mutter, das mein Bild über sie komplettieren hilft.

Sollten Sie Lust und/oder Interesse haben, mit mir darüber zu sprechen, würde mich das sehr freuen, und wir könnten uns telefonisch oder, besser noch, persönlich verabreden.
Ich lebe mit meiner Familie seit 40 Jahren in Berlin.

Es grüßt Sie recht herzlich
Roland Loch

Rezension

2021 3. November
von Michael Thormann

Marianne und Martin Löschmann:
Kleines Kompendium der Liebe für Deutschlernende, Deutschlehrende und Sprachverliebte. Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2021, 177 S.

Während das Thema „Liebe“ in DaF-Lehrwerken für Jugendliche stärkere Beachtung findet, wird es in vielen aktuellen DaF-Lehrwerken für Erwachsene eher stiefmütterlich behandelt, d.h. oft thematisch verengt auf ‚Heiraten‘ und ‚Lebensformen‘ oder völlig ignoriert. Das mag bei berufssprachlich orientierten Lehrwerken konzeptionell bedingt sein, aber auch allgemeinsprachlich orientierte Mittelstufen-Lehrwerke, wie „Sicher! aktuell B2“ (Hueber) oder „Studio. Die Mittelstufe B2“ (Cornelsen), die dem Themenkomplex „Liebe/Beziehungen“ ein eigenes Kapitel widmen, sind die Ausnahme. Auch kursbegleitende Materialien sind mit dem Thema schnell durch. So begnügt sich z.B. „Deutsch üben. Wortschatz & Grammatik B2“ (Hueber) mit vier Wortschatzübungen zur „Liebe“. Dieser Befund steht im deutlichen Kontrast zu der Tatsache, dass das Thema für Lernende ein beträchtliches Motivationspotenzial hat, eine Fremdsprache zu lernen. Laut einer Babbel-Umfrage würden 83,6% der Deutschen eine Sprache nur der Liebe wegen lernen, international sind es sogar über 90%. /1/ Auch im DaF-Unterricht lässt sich oft eine erhöhte Aufmerksamkeit beobachten, wenn es um „Liebe“ geht, denn – wie mir eine Teilnehmerin augenzwinkernd verriet – man wolle schließlich „vorbereitet sein“.
Von daher ist es nur zu begrüßen, dass die Autoren mit dem vorliegenden Band besonders jenen motivierten Deutschlernenden ein Angebot machen, die sich selbstständig über den Präsenz- und Online-Unterricht hinaus mit dem Thema beschäftigen wollen. Das Buch richtet sich aber ebenso an Deutschlehrende, „die sich um einen interessanten, offenen, emotional geprägten, handlungsorientierten und schemadissonanten Unterricht bemühen“ (S.7). Vor allem aber – das verheißen schon die lachenden Gesichter auf dem Cover – soll das Buch Spaß machen.
Die vier Hauptteile des Buches – I. Die Sprache der Liebe, II. Suchen und Finden, III. Für immer Liebe, IV. Dunkle Seiten der Liebe – widmen sich unterschiedlichen Aspekten des Themenkomplexes und zeigen sprachliche Realisierungsformen auf, die von Kose- und Schimpfnamen, über Flirten und Partnerwahl, ferner über Liebeserklärungen, -Tattoos und Aphrodisiaka bis hin zu den dunklen Seiten der Liebe, wie Liebeskummer, Ghosting und Sexting, reichen. Ein ergänzendes Schlusskapitel rundet das Thema „Liebe“ mit Phraseologismen, einem Kreuzworträtsel und einem Text von Robert Walser ab. Im Anhang finden sich neben dem schon erwähnten Schlüssel ein Namens- und Literaturverzeichnis, wobei Seitenangaben zu den Namen ein gezieltes Nachschlagen erleichtert hätten. Zwar liegen, wie das Vorwort verrät, Grundidee und Manuskript des Buches mehr als dreißig Jahre zurück, aber die Einbeziehung modischer Ausdrucksformen und medialer Kontroversen zum Thema „Liebe“, u.a. die um das Gedicht „Avenidas“ oder die #MeToo-Debatte, machen deutlich, dass das vorliegende Buch eine stark überarbeitete und aktualisierte Fassung darstellt.
Bereits ein erster Blick ins Inhaltsverzeichnis verspricht eine kurzweilige Lektüre. Dabei erinnern der Titel des ersten Teils und Stichwörter, wie ‚Komplimente‘, ‚Zweisamkeit‘, ‚Liebe und/oder Sex‘ unwillkürlich an Gary Chapmans Bestseller „Die 5 Sprachen der Liebe“, in dem er im Rahmen der Paartherapie fünf Beziehungssprachen vorstellt, die für ein ‚Sich-geliebt-Fühlen‘ verantwortlich sind. /2/ Interessanterweise vergleicht Chapman die individuelle Liebessprache mit einer Fremdsprache, sodass wie in einer Beziehung zwischen verschiedenen Muttersprachlern eine optimale Kommunikation nur dann gelingt, wenn beide Partner die Fremdsprache des anderen lernen. In diesem Sinn dient auch das „Kompendium der Liebe“ der Kommunikationsbefähigung des Lernenden, um jene Sprachnot zu vermeiden, wie sie in einem Song von Tim Bendzko beklagt wird: „Mir fehlen die Worte / ich hab‘ die Worte nicht, / dir zu sagen, was ich fühl‘.“ (S.8)
Jeder Teil bietet eine Fülle an authentischen Texten und unterschiedlichen Textsorten, die interkulturellem Lernen besonders entgegenkommen. Das sind neben personalisierten Darstellungen (Interview, Erfahrungsberichte, Briefe, Dialoge etc.) auch Sachtexte (Statistiken, Zeitungs- und Internetartikel, Umfragen, Anzeigen etc.) und literarische Texte (Auszüge aus Märchen und Erzählungen, Gedichte, Anekdoten, Sprüche etc.). Da es sich nicht um ein Lehrwerk, sondern – wie die Autoren betonen – um eine „Fundgrube“ (S.7) handelt, erlaubt dieses offene Konzept einen selektiven und interessengeleiteten Zugriff des Lesers. Für eine individuelle Auseinandersetzung und ein tieferes Verständnis werden alle Texte von offenen oder geschlossenen Aufgaben bzw. Fragen begleitet, wobei für letztere ein Lösungsschlüssel vorhanden ist. Als Einstieg oder Vertiefung des Themas finden sich neben Bildern, Fotos und Grafiken auch Verweise auf youtube oder weiterführende Webseiten. Da die Bearbeitung der Aufgaben dem Leser freigestellt bleibt, kann er selbst entscheiden, ob er das Kompendium als ‚Nur-Lesebuch‘ oder als eine Art Arbeitsbuch versteht. In jedem Fall geht es darum, das sprachliche, landeskundliche und sozio-kulturelle Wissen des Deutschlernenden zu erweitern.
Wird das Kompendium als Arbeitsbuch verstanden, dann zielen vielfältige Aufgaben und eine variable Fragetechnik – graphisch durch Kursivdruck hervorgehoben – beim Lernenden auf eine intensive und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Text, da deren Resultat nur teilweise im Lösungsschlüssel verifiziert werden kann. Indem Teilthemen, z.B. Ghosting oder Warnmärchen, darstellend- bzw. fragend-entwickelnd präsentiert werden, wird der Lernende zum aktiven Mitdenken angeregt und somit motiviert, (1) das Gelesene im Sinne einer individuellen Bedeutungskonstruktion zu reflektieren, (2) verschiedene Texte miteinander, aber auch die eigene mit der Fremdkultur zu vergleichen, (3) die Argumentationsfähigkeit zu schulen, (4) – zumindest ansatzweise – das Gelernte in sprachliches Handeln umzusetzen und (5) den Wortschatz zu erweitern und das Ausdrucksvermögen zu verbessern. Dabei leiten hermeneutische Fragen nicht selten zu spielerisch-kreativen Aufgaben über, die es in sich haben. Einige Beispiele: Anschließend an den Text „Das große S“ (S.33-35), der trotz zusätzlicher Worterklärungen und Fragen zum Textverständnis lexikalisch sehr anspruchsvoll ist, weil eine Geschichte ausschließlich mit Wörtern mit demselben Anfangsbuchstaben erzählt wird (hier der Buchstabe „S“), wird der Leser eingeladen, einige Sätze ausschließlich mit L-Wörtern zu ergänzen, woran ich als Muttersprachler gescheitert bin. Ähnlich herausfordernd dürfte es für Lernende sein, eine Kontaktanzeige auf der Basis der Novelle „Die Marquise von 0…“ von Heinrich von Kleist zu entwerfen (S.55), einen Trinkspruch aus der Sicht der Frau umzuschreiben (S.99) oder ein Elfchen und ein Haiku zu kreieren (S.119). Während bei diesen Aufgaben noch der Lösungsschlüssel Hilfestellung bietet, bleibt der Lernende bei anderen Aufgaben auf sich allein gestellt, etwa um eine Liebeserklärung in Deutsch vorzubereiten (S.79) oder bei der Arbeit an einem Gedicht (S.62). Andere handlungsorientierte Aufgabenstellungen beziehen sich u.a. darauf, sprachlich angemessen zu agieren (Flirten, Komplimente machen), zu reagieren (Liebeslügen, Streiten und Versöhnen) und zu argumentieren (Vor- und Nachteile von Single- und Partnerbörsen, Liebes-Tattoos, Heiraten), wofür in der Regel bereitgestellte Argumente selbstständig ausformuliert werden müssen. Vereinzelt werden für den Transfer auch syntaktische Strukturen direkt vorgegeben, z.B. Proportionalsätze (S.70), Konjunktiv II Gegenwart für Wünsche (S.72 f.) und Ratschläge (S.138).
Landeskundliche und soziokulturelle Informationen ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, sodass der Lernende daraus spezielle Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft gewinnen kann, z.B.: Wie kommunizieren deutschsprachige Partner miteinander? Welches Hintergrundwissen ist nötig, um sprachliche Handlungen von Deutschsprachigen zu verstehen? Als Antwort auf solche Fragen dienen hilfreiche Einblicke u.a. in Traditionen und Bräuche im Kontext von „Liebe“, in die Kontaktanbahnung und Partnerwahl sowie Aussagen zur demographischen Entwicklung und Kriminalität. Dabei wird die Geschlechterbeziehung nicht nur durch den Vergleich mit binationalen Partnerschaften konturiert, sondern auch durch Verweise auf immer noch präsente patriarchalische Strukturen, die sich in der Sprache selbst und in aktuellen öffentlichen Debatten (Nein-heißt-nein-, Avenidas- und #MeToo-Debatte) niederschlagen, wobei sich die Autoren im Fall von „Avenidas“ gegen eine geschlechtertheoretische Interpretation positionieren.
Wie lässt sich nun das Buch in den DaF-Unterricht integrieren? Kurz gesagt immer dann, wenn Lehrende oder Lernende bei der Behandlung des Themas „Liebe“ auf Leerstellen im Lehrwerk oder im Unterrichtsgespräch stoßen. Durch seine breite Auffächerung des Themenkomplexes „Liebe“ fördert das Kompendium besonders für Fortgeschrittene die Lernerautonomie durch vielfältiges Material, um einen ersten Zugang zum Thema zu finden (z.B. über Wortschatzübungen, Quiz oder Kreuzworträtsel etc.) oder bestimmte Aspekte selbstständig zu erarbeiten und im Plenum / in der Kleingruppe zu diskutieren. Von wenigen, rein informativ angelegten Teilthemen abgesehen (der erste Kuss, S.80 ff.), eignen sich die meisten dafür, die Diskussionsfähigkeit zu trainieren, die für B2 und C1 prüfungsrelevant ist.
Sollten sich Lernende trotz der Unterstützung und Anleitung durch das Kompendium noch unsicher fühlen, sich zum Thema mündlich zu äußern, so könnte sie die Einsicht von Ricarda Huch trösten: „In der Liebe sprechen Hände und Augen meist lauter als der Mund.“

(Michael Thormann, Leipzig)

Anmerkungen

1Vgl.https://press.babbel.com/de/releases/2015-05-20-Babbel-findet-die-Sprache-der-Liebe.html (26.10.2021)

2 Gary Chapman (2019): Die 5 Sprachen der Liebe. Marburg an der Lahn: Francke.

Geleitwort zum 11. Band der Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion

2020 13. April
von Martin Löschmann

Endlich ist er da: der 11. Band der Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion. Wie es dazu kam, zeigt das folgende Geleitwort. Die unten stehende Rezension von Michael Thormann informiert über den Inhalt der Arbeit.

Im Sport ist es gang und gäbe, von einem Comeback zu sprechen. Kehrt eine Person zurück, die – aus welchen Gründen auch immer – den öffentlichen Raum verlassen hat, ist es auch ein üblicher Ausdruck im Neuhochdeutschen. In einem gewissen Sinne gilt das für die Wiedereröffnung der Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion mit dem Sammelband „DaZ-Unterricht an Schulen. Didaktische Grundlagen und methodische Zugänge“ ein solcher Vorgang. Mit dem 10. Band „Humor im Fremdsprachenunterricht“ war für den Herausgeber, der in die Jahre gekommen ist, ein heiterer Abschluss der nach der Wende initiierten erfolgreichen Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion gegeben. Zudem ist die 10 doch schon eine stattliche, wenn auch nicht prachtvolle Zahl. Da sich der Herausgeber jedoch nicht völlig aus dem Arbeitsleben herausgezogen hat und sich als Vorstand des IIK e.V. Berlin nunmehr mit Integrationsunterricht einerseits sowie der Qualifizierung von Lehrkräften für die verschiedenen Integrationskurse und berufsorienten Kursen andererseits beschäftigt, mobilisierten den Herausgeber die Themen des vorliegenden Bandes in einem solchen Maße, dass er sich entschloss, die Reihe noch einmal zu öffnen, vielleicht auch auf diese Weise womöglich jemanden zu animieren, sich der Reihe anzunehmen und sie in der einen oder anderen Weise fortzuführen oder auch völlig umzukrempeln. Wer mit dem Zweitspracherwerb, sei es in Gestalt des Integrationsunterrichts oder in den Förderklassen in Schulen tagtäglich befasst ist, weiß, dass es große Defizite bei der wissenschaftlichen Fundierung dieser Unterrichte gibt. Gewiss liegt es nicht allein am Fundierungsmangel, wenn z.B. „mehr als die Hälfte aller Zuwanderer am Ende der Integrationskurse das höhere Level B1 beim Deutschtest“ (Welt Digital Zeitung, 29.04.2018) nicht erreicht. Es erklärt sich auch daraus, dass nicht in jedem Fall voll ausgebildete DaZ-Lehrende zur Verfügung stehen. Quereinsteiger in allen Ehren, aber nur dann, wenn sie Zeit und Muße haben, sich in das für sie neue Metier einzulesen, einzuhören, einzuarbeiten und ihnen dabei eine entsprechende praxisorientierte Literaturbasis zur Seite steht. Der vorliegende Band stellt sich das Ziel, den Lehrenden in Förderklassen theoretisch und praktisch Rüstzeug zu präsentieren, das dazu angetan ist, den Deutschunterricht in Förderklassen zu qualifizieren. Da es sich dabei letztlich um DaZ-Unterricht handelt, ist er zugleich hilfreich für Lehrkräfte in Integrationskursen. Das heißt, die relevanten Ergebnisse dieses Bandes sind durchaus verallgemeinerungswürdig für den Integrationsunterricht. Das machen bereits solche Themen sichtbar wie „Mehrsprachigkeit als Ressource“, „Binnendifferenzierung“, „Einsatz Neuer Medien“ etc. und erst recht die grundlegende Einführung in diesen Band. Sofern man an Lehrende sowohl in Schulen als auch in den Integrationskursen im Erwachsenenbereich denkt, werden besonders die sechs praxisrelevanten Beiträge Aufmerksamkeit erregen. Als Beispiele seien genannt: „Alphabetisierung: Förderung der Buchstabenkenntnis und Erarbeitung der Graphem-Phonem-Korrespondenzen des Deutschen“ und „Fachsensibler Sprachunterricht“. Die Reihe hat bisher den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Beiträgen in Sammelbänden nicht explizit gemacht, weil davon ausgegangen wurde, dass die eher theoretisch angelegten Beiträge selbstredend den klaren Praxisbezug und umgekehrt auch die praktisch orientierten Arbeiten einen Theoriebezug haben sollten. Für eine zügige, den Interessen der jeweiligen Zielgruppen entsprechende Handhabe, wurde im vorliegenden Band von dieser Konvention Abstand genommen. Die wechselseitigen Bezüge zwischen Theorie und Praxis bleiben dabei jedoch selbstredend erhalten.
Möge der Band die ins Auge gefasste theoretisch wie auch praktisch orientierte DaF- und DaZ-Klientel erreichen. Er hat es verdient.

11. Band der Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion

2020 13. April
von Michael Thormann

Janek Scholz / Marvin Wassermann / Johanna Zahn (Hrsg.): DaZ-Unterricht an Schulen. Didaktische Grundlagen und methodische Zugriffe. Peter Lang GmbH, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Berlin 2020. 394 Seiten (= Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion. Hrsg. von Martin Löschmann, Bd.11)


Der Sammelband bündelt theoretische Ergebnisse und praktische Erfahrungen im Bereich DaZ-Unterricht an Schulen, die an der RWTH Aachen University und an anderen Universitäten und schulischen DaZ-Klassen gesammelt wurden. Nach einer Einführung, die die spezifischen Bedingungen des DaZ-Unterrichts skizziert und einen Überblick über die Beiträge des Bandes gibt, informiert ein weiterer Beitrag von Nina Breuer, Janek Scholz und Marvin Wassermann (RWTH Aachen University) über die widersprüchliche Entwicklung der DaZ-Klassen im deutschen Bildungssystem vor dem Hintergrund einer halbherzigen Zuwandererpolitik. Die anschließenden 15 Fachbeiträge sind in 5 inhaltliche Sektionen – einen theoretischen Teil (Sektion 1-3) und einen praktischen (Sektion 4-5) – gegliedert und bedienen folgende Themengebiete: 1. Heterogenität und Binnendifferenzierung, 2. Alphabetisierung und Aussprache, 3. Literatur als Ressource, 4. Methodische Impulse und 5. Übergänge in den Regelunterricht. Ein Vorzug des Bandes ist, dass er nicht in zwei Teile zerfällt, weil auch der ‚Theorie-Block‘ einen deutlichen Praxisbezug (Anwendungsbeispiele, didaktisch-methodische Kommentare oder Unterrichtsentwürfe u.a.) aufweist und somit alle Beiträge von der interessierten DaZ/DaF-Lehrkraft mit Gewinn für die tägliche Unterrichtsarbeit gelesen werden können. Welche Impulse für die praktische Unterrichtsarbeit bieten nun die einzelnen Sektionen? Das kann im Folgenden aus Platzgründen nur exemplarisch vorgestellt werden.

In der ersten Sektion beschreiben Klaudia Hilgers und Hans-Joachim Jürgens (RWTH Aachen University) in ihrem Beitrag über Binnendifferenzierung und kooperative Lehr- und Lernformen fünf verschiedene Beschulungsmodelle für DaZ-Lernende und begründen vor dem Hintergrund des Heterogenitätsparadigmas die Notwendigkeit von „schülerzentrierten Lehr- und Lernformen“, um der inneren Differenzierung der DaZ-Klassen gerecht zu werden. Am Beispiel von Internationalen Förderklassen stellen die Autoren dar, wie kooperative Lehr- und Lernformen einen binnendifferenzierten Unterricht ermöglichen. Nach der begrifflichen Unterscheidung von individualisiertem Unterricht und Binnendifferenzierung werden verschiedene Konzepte für einen binnendifferenzierten Unterricht ausführlich diskutiert und anschließend an zwei konkreten Beispielen detailliert vorgeführt. Die anhand der gängigen Themen „Einkaufen“ und „Freizeitgestaltung“ vorgestellten Unterrichtsentwürfe zeigen, wie eine tief gestaffelte Binnendifferenzierung im Zusammenspiel mit kooperativen Lernformen (Think-Pair-Share, Placemat, Lerntempo-Duett, World-Café, Gallery Walk, Schreibgespräch u.a.) aussieht und individuelles Lernen unterstützen kann. Für eine praktische Umsetzung dieser Ideen sind allerdings vielfach (vor allem in privaten Sprachschulen) zu kleine Räume und die Bestuhlung für 25 TN eine Herausforderung, weil nur frei im Raum aufgestellte Tische einen problemlosen „Tischwechsel“ ermöglichen. Das sollte zumindest bedacht werden.


In der zweiten Sektion widmet sich Anja Böttinger (IIK Berlin) dem Thema Alphabetisierung und Zweitschrifterwerb und legt ihrem Beitrag im Interesse einer angemessenen Diagnostik des Förderbedarfs ein ausdifferenziertes Verständnis der Begriffe „Analphabetismus“ und „Zweitschriftlernende“ zugrunde. Diese begriffliche Differenzierung und die sich daran anschließende Schrifttypologie begründen zum einen die besondere Bedeutung der Phonem-Graphem-Korrespondenz in der lateinischen Schrift für beide Lerngruppen und zum anderen den parallel verlaufenden Zweitsprach- und Schriftspracherwerb als doppeltes Lernziel. Besonderes Augenmerk richtet die Autorin auf die Ausbildung einer phonologischen Bewusstheit als unabdingbare Voraussetzung für die mündliche Kommunikation und als genetischer Vorausbereich des Schriftspracherwerbs. Da das Lautinventar der Erstsprache häufig für Interferenzfehler in der Zielsprache verantwortlich sei, wird eine Beschäftigung mit den Herkunftssprachen der Lernenden angeregt, außerdem werden gezielte Übungen vorgestellt. Böttinger versteht auch den Lese- und Schreiberwerb als ganzheitlichen Prozess und veranschaulicht die wechselseitige Beeinflussung von Lesen und Schreiben in einem Phasenmodell, woraus sie auch hier eine systematische Übungsabfolge in ihren praktischen Methodentipps ableitet. Der abschließende Überblick über klassische und neuere Methoden der Alphabetisierung stützt ihr Plädoyer für einen Methoden-Mix, der die Erstsprache der Lernenden ebenso berücksichtigt wie ihre Schulerfahrung, und dient als Anregung für einen abwechslungsreichen Unterricht.

In einem ambitionierten Beitrag zum Thema Literarizität und literarisches Lernen in Vorbereitungsklassen spricht sich Janek Scholz (RWTH Aachen University) in der dritten Sektion für eine frühzeitige Einbeziehung von Literatur in den DaZ-Unterricht aus und diskutiert die besonderen Potenzen des literarischen Lernens für den Zweitsprachenerwerb, da literarisches Lernen stets auch sprachliches Lernen sei, wodurch „Sprachreflexion, kreatives Spielen mit der Sprache und eine machtkritische Haltung“ gefördert würden. Als Hilfestellung für die Lehrkraft werden Kriterien für die Textauswahl und Unterrichtsanregungen für die Arbeit mit Gedichten von Ernst Jandl vorgestellt. Dass heutzutage bei der Arbeit mit Literatur „traditionell-hermeneutische Lektürekonzepte“ keine Rolle mehr spielen und von einer prinzipiellen „Unabschließbarkeit des Sinnfindungsprozesses“ ausgegangen wird, sollte für ausgebildete DaZ/DaF-Lehrkräfte selbstverständlich sein. Bereits bei Dietrich Krusche / Rüdiger Krechel: Anspiel. Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache wird der Akzent auf einen „spielerischen Umgang“ mit solchen Texten gelegt, wobei es „nicht um ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern um ein Mehr-oder-Weniger an Spielerfolg“ gehe (S.74).


Im praktischen Teil der vierten Sektion, die sich auch den Neuen Medien und der Sexuellen Bildung widmet, liefert Ute Hermanns (Leopold-Ullstein-Schule OSZ für Wirtschaft, Berlin) konkrete Fallbeispiele für eine Nutzung von visuellen und audiovisuellen Medien an außerschulischen Lernorten. Für eine inklusive Schule sieht sie besondere Chancen im Projektunterricht, der heterogenen Lerngruppen vielfältige Möglichkeiten der Mitwirkung bietet und die Sprach- und Schreibkompetenz fördert, vor allem wenn an die Erfahrungswelt der Lernenden angeknüpft wird. An ausgewählten Projekten wird vorgeführt, wie eine Begegnung mit Kunst, Fotografie und Film organisiert und für eine kreative Beschäftigung genutzt werden kann. Besonders das ausführlich vorgestellte Projekt eines gemeinsamen Besuchs des Films „Fortuna“ im Rahmen des ‚Berlinale Schulprojekts‘ bietet didaktisch-methodische Vorüberlegungen und eine konkrete Verlaufsplanung über mehrere UE mit anschließenden Hinweisen zur Nachbereitung, die von Wortschatzarbeit und Filmanalyse über Tagebuch- und Briefproduktion bis hin zur Herstellung eines Mobiles aus Origami-Tieren und der Textredaktion im Computerraum reichen – ein Projekt also, das wertvolle Impulse für die eigene Unterrichtsarbeit gibt.

Weitere Einblicke in die Praxis finden sich in der fünften Sektion. Angelika Zeevaert (Berufskolleg Alsdorf) zeigt in ihrem Beitrag, wie Binnendifferenzierter Sprachförderunterricht in heterogenen Lerngruppen am Berufskolleg hilft, Lernende beim Übergang in den Regelunterricht individuell zu begleiten. Für einen erfolgreichen Übergang empfiehlt sie, zunächst einige hemmende Faktoren zu beseitigen, d.h. Probleme beim Verstehen des Arbeitsauftrages, beim Umgang mit Leistungs- und Lernaufgaben und einem selbstgesteuerten Lernprozess. Am Beispiel des Themas ‚Beschreibung‘ werden dann Aufgaben mit steigender Komplexität zu verschiedenen Beschreibungstypen vorgestellt und der gezielte Einsatz binnendifferenzierter Arbeitsblätter erläutert. Ein detaillierter Unterrichtsentwurf und der Abdruck sämtlicher Arbeitsblätter machen den abgestuften Lernprozess in dieser Unterrichtsreihe leicht nachvollziehbar und können den eigenen Unterricht stimulieren.


Insgesamt eröffnet der vorliegende Band einen komplexen Zugang zur Theorie und Praxis des DaZ-Unterrichts. Vorausgesetzt wird dabei die Vertrautheit mit kooperativen Lernmethoden des offenen Unterrichts, der individualisiertes, lernerzentriertes und binnendifferenziertes Lernen fördert, zugleich aber „zeitintensiv“ und teils „schwierig zu realisieren“ ist und einen „hohen organisatorischen Aufwand“ erfordert (S.50). Somit lässt der Band keinen Zweifel daran, dass die Umsetzung der angebotenen Unterrichtskonzepte auf der Basis der Heterogenitätsorientierung mit hohen Anforderungen an eine ausgefeilte didaktische und soziale Kompetenz der (sprach-, kultur-, differenz- und fachsensiblen) Lehrkraft verbunden ist. Dass jedoch viele DaZ/DaF-Lehrkräfte selbst Seiteneinsteiger sind, sollte dabei ebenso im Blick bleiben wie die Tatsache, dass die konkreten Unterrichtsbedingungen mindestens so heterogen sind wie die Lerngruppen selbst. Ungeachtet dessen sei dieser Band jeder interessierten DaZ/DaF-Lehrkraft ans Herz gelegt.
Michael Thormann

Die heitere Seite der Linguistik

2020 26. März
von Michael Thormann

Band 10 der von Martin Löschmann herausgegebenen Reihe „Deutsch als Fremsprache in der Diskussion“ beschäftigt sich ausführlich mit der Rolle des Humors im Fremdsprachenunterricht. Er trage zur Schaffung einer heiteren Lernatmosphäre bei, die eine wesentliche Voraussetzung für ein effizientes Lernen sei. Ähnliches dachte sich wohl auch der Verfasser eines Buches zur Geschichte der Sprachwissenschaft, in dem ebenfalls der „Sprache als Quelle von Humor“ besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Alwin Frank Fill: Linguistische Promenade – eine vergnügliche Wanderung durch die Sprachwissenschaft von Platon zu Chomsky. Wien 2013

Es gehört vermutlich nicht zum Allgemeinwissen, dass der Marathonlauf als olympische Disziplin einem Sprachwissenschaftler zu verdanken ist. Diese Idee hatte Michel Bréal, der als Mitglied des französischen olympischen Komitees von 1896 nicht nur den Silberpokal dafür stiftete, sondern als Begründer der Semantik auch ein bedeutender Linguist war. Ebenso wenig liegt auf der Hand, warum in einer Gesprächsrunde die Frage: „Wie geht’s deiner Frau?“ freundliches Interesse, für andere aber auch eine Warnung bedeuten kann. Näheres darüber bietet das vorliegende Buch und man nimmt es dem Autor von Beginn an ab, dass er für seinen Gegenstand brennt und versucht, den Kreis der Interessenten über die Fachwelt hinaus zu erweitern, indem er die unterhaltsame Seite seines Faches aufblättert und dem Leser einen lockeren Zugang zur Themenvielfalt der Sprachwissenschaft eröffnet. Wie notwendig das sei, zeige sich darin, dass beim Wort ‚Sprachwissenschaft‘ meist nur an zwei Themen gedacht werde: „Fremdsprachenunterricht und korrekter Sprachgebrauch“. Das will Alwin Frank Fill ändern und bietet mit seiner Darstellung einen kurzweiligen Einblick in die Geschichte der Sprachwissenschaft, stellt ihre wichtigsten Theorien und Vertreter vor, diskutiert die Wirkung von Sprache in der menschlichen Kommunikation und schließt mit einem Kapitel über die Tierkommunikation.

Wenn er mit Platon beginnt, dann u.a. wohl auch deshalb, weil dessen Gedanken über die manipulatorische Kraft der Sprache hochaktuell sind und in der Sprachkritik eines Ernst Cassirer und Fritz Mauthner (nicht Konrad sic!) fortwirkten. Grundlegend dafür waren auch die Erkenntnisse der englischen Empiristen (F.Bacon, J.Locke u.a.), die vor einem unkritischen Sprachgebrauch und der Illusion warnten, immer verstanden zu werden, weil die Wörter durch ihre Mehrdeutigkeit täuschen können.
Die von F.Bacon entwickelte induktive Methode als Basis jeder wissenschaftlichen Erkenntnis wurde auch von der Sprachwissenschaft aufgegriffen und ebnete bahnbrechenden Entdeckungen den Weg, z.B. der Entdeckung von Sprachfamilien mit einer gemeinsamen Ursprache durch William Johns, deren wissenschaftliche Bedeutung neben die Entdeckungen von Galilei oder Darwin gestellt wird. Johns Entdeckung von 1786 markierte nach Fill eine „neue Ära der Sprachwissenschaft“ (F.Schlegel, F.Bopp, A.Schleicher), in der durch den Vergleich der europäischen Sprachen nach gemeinsamen Vorfahren gesucht wurde. Leider fehlt an dieser Stelle ein Hinweis darauf, wie problematisch das war, denn – so schreibt Victor Klemperer – „die Konstruktion des arischen Menschen wurzelt in der Philologie und nicht in der Naturwissenschaft.“
Wie Sprache die jeweilige Kultur und die Weltsicht der sie Sprechenden prägt, geht auf Überlegungen W.v.Humboldts zurück und beeinflusste im 19. Jh. die Entstehung der Völkerpsychologie durch H.Steinthal wie auch der amerikanischen Ethnolinguistik. Es ist spannend zu verfolgen, wie differenziert ihre Vertreter (F.Boas, E.Sapir, B.Whorf) die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit beantworten, also was primär und was sekundär ist. Am Ende stand die extreme Position des Whorf’schen Sprachdeterminismus, der davon ausgeht, dass sich jede Sprache mit ihren Kategorien ihre eigene Wirklichkeit schafft. Das heißt, unser Denken ist eine Folge der Grammatik und Lexik unserer Muttersprache, teils mit verheerenden Folgen. Auch wenn Whorfs Theorie heute höchstens noch als ‚light-Version‘ vertreten werde, so deutet sich hier an, wie der Sprache später, etwa im Dekonstruktivismus oder Postmodernismus, wieder eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird, die Steven Pinker als „extrem übersteigert“ bewertet.
Zunächst wurde das Denken über Sprache im 20. Jh. jedoch durch F. de Saussure und L.Wittgenstein geprägt. Fill übernimmt von Saussure die Erklärung des Begriffs Strukturalismus anhand eines Vergleichs mit dem Schachspiel und zieht dann die Linien der folgenreichen Wirkung von Saussures Ansatz, die vom Prager Strukturalismus, der Textlinguistik, dem dänischen und amerikanischen Strukturalismus bis hin zur französischen Denkschule eines Barthes, Foucault, Lacan und Derrida reichen. Dabei widmet Fill dem amerikanischen Strukturalismus (Bloomfield) ein eigenes Kapitel und betont, wie wichtig der sich daraus ableitende Behaviorismus (Skinner) für die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts war. Während für beide Theoretiker die Bedeutung der Wörter höchstens eine untergeordnete Rolle spielte, wurde in anderen Theorien ein Aufschwung der Semantik sichtbar, etwa in der Wortfeldtheorie von J.Trier, der Prototypensemantik von E.Rosch und im Konstruktivismus (P.Watzlawick u.a.). Wie der Behaviorismus hatten diese Ansätze eine enorme Bedeutung für die Fremdsprachendidaktik und finden teils heute noch ihren Niederschlag in modernen Lehrwerken. Das gilt ebenso für die Pragmatik, u.a. die Sprechakttheorie (J.Austin, J.Searle), deren Einfluss auf das mündliche Prüfungsformat von Fremdsprachenprüfungen mit den Händen zu greifen ist.
Fill widmet sich zudem auch der feministischen Sprachkritik und lässt dabei einem ihrer Vorläufer, Otto Jespersen, Gerechtigkeit widerfahren. So amüsant aus heutiger Sicht die von Fill angeführten Zitate auch sind, so modern war sowohl Jespersens Beschäftigung mit Geschlechterstereotypen zu seiner Zeit als auch die grundlegende Frage: angeboren oder nicht? Weiterführende Studien (D.Cameron, L.F.Pusch u.a.) bauten darauf auf. Inzwischen gilt die Annahme, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in der Kommunikation von Frauen und Männern, wie sie auch von Deborah Tannen beschrieben wurden, mit einer unterschiedlichen Vernetzung beider Gehirnhälften zusammenhängt, als wissenschaftlich überholt. Den Untersuchungsergebnissen des Neurobiologen Lutz Jäncke zufolge gibt es kein typisches Männer- und Frauengehirn.
Nach einem weiteren Kapitel über den Sprachgebrauch im Kontext von Liebe und Sexualität stellt Fill den Beitrag von Noam Chomsky für die Sprachwissenschaft vor. Seine Universalgrammatik richtete sich nicht nur gegen den Behaviorismus, sondern auch gegen den Konstruktivismus eines J. Piaget und gehört immer noch zu den wichtigsten Paradigmen der Gegenwart. Chomskys revolutionäre These war, dass relevante grammatische Strukturen angeboren sind, was Kindern einen schnellen Spracherwerb ermöglicht, während Piaget davon ausging, dass die Grammatik in der Auseinandersetzung mit der Umwelt ‚konstruiert‘ werde. Inzwischen ist auch hier die Wissenschaft weiter. Die neuere Hirnforschung (Angela Friederici, Language in Our Brain, Cambridge, Mass., 2017) scheint nun erstmals Chomskys Theorie, dass Sprache keine soziale Fertigkeit, sondern eine angeborene kognitive Fähigkeit ist, empirisch zu bestätigen. Friederici fand heraus, dass ein Bündel Nervenfasern die Kooperation zwischen dem Broca-Areal (zuständig für die Grammatik) und dem Wernicke-Areal (zuständig für die Lexik) in unserem Gehirn steuert, wodurch erst eine Entschlüsselung komplexer syntaktischer Strukturen möglich wird. Bei Affen sei dieses Faserbündel nur sehr schwach vorhanden und auch bei neugeborenen Kindern noch nicht voll funktionsfähig. Es reife in dem Maße, wie Kinder ihre Fähigkeit ausbilden, grammatisch komplexe Sätze zu verarbeiten. Damit sei mit diesem Faserbündel ein Schaltkreis gefunden, der biologisch festgelegt sei und mit dessen Hilfe lange, komplexe Sätze gebildet werden können. Chomskys Theorie wird damit bestätigt. Die Diskussion um die Universalgrammatik bleibt also spannend.

Was macht Fills Buch nun vergnüglich? Kurz: Stil, Themen und Layout. In einer unakademischen Sprache führt er in die verschiedenen Kapitel ein und verzichtet auf einen Anmerkungsapparat. Dabei präsentiert er die wissenschaftlichen Erkenntnisse in  einer situativen oder anekdotischen Umrahmung anhand von anschaulichen Beispielen, Abbildungen und Textsorten (Zitate, Dialoge, Gedichte). Je nach Leser sorgen sicher auch bestimmte Themen, wie ‚Sprache als Quelle von Humor‘ und ‚Sprache als Aphrodisiakum‘ für besondere Erheiterung. Schließlich unterstützt ein attraktives Layout mit eigens angefertigten Porträtzeichnungen vieler Wissenschaftler und durch Fettdruck hervorgehobenen Schlüsselwörtern die leichte Lesbarkeit des Buches.

Bücher zur Geschichte der Linguistik sind nicht gerade dicht gesät, und solche, die das auf eine möglichst unterhaltsame Weise versuchen, gibt es kaum. Wen das Thema interessiert, der findet hier eine Fülle von Informationen (nebst Glossar) und Zugängen (nebst Bibliographie), die zur individuellen Vertiefung einladen.

Gut zu wissen, was man sagt

2019 6. Dezember
von Michael Thormann

Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Köln 2016

Ich bin in der Buchhandlung eher zufällig auf das Buch gestoßen, weil mich das Thema interessierte und ich mich durch die Empfehlung im Einband angesprochen fühlte, dass diese Einführung „für interessierte Laien und die Forschung gleichermaßen relevant“ sei (Prof. Dr. Irene Mittelberg). Erst nach Erscheinen dieses Buches geriet die Autorin vor allem in den sozialen Medien massiv in die Kritik, als bekannt wurde, dass sie 2017 im Auftrag der ARD unter dem Titel „Framing Manual“ ein Gutachten erstellte, das in Teilen der Öffentlichkeit in Verdacht stand, eine Kommunikationsstrategie zur Manipulierung der öffentlichen Meinung zu beschreiben. Der Hintergrund des Gutachtens war ursprünglich eine interne Verständigung der Landesrundfunkanstalten über einen bewussteren Umgang mit der Sprache. Dabei ging es zum einen darum, mit welcher Sprache die ARD öffentlich über sich selbst kommunizieren sollte, zum andern darum, wie mit Begriffen umzugehen sei, die in der Öffentlichkeit als politische Kampfbegriffe flottieren, z.B. „Lügenpresse“ oder„Abschiebeindustrie“. In jedem Fall sei es von Vorteil, so Wehlings Empfehlung, stärker auf Framing zu achten.

Im Einführungsteil beschreibt Wehling anhand der Begriffe ‚Frame‘, ‚kognitive Simulation‘ und ‚konzeptuelle Metapher‘ wesentliche Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionsforschung und verweist auf Studien und weiterführende Fachliteratur. Tatsächlich ist das Frame-Konzept als Paradigma schon länger bekannt und wird überall dort aufgegriffen, wo ein analytischer Zugang zu Sinnstrukturen gesucht wird, u.a. in der Kommunikationswissenschaft, der Soziologie und Kognitiven Linguistik. Grundlegend dafür waren die Arbeiten von Marvin Minsky, dessen Ansatz von Charles Fillmore, George Lakoff u.a. für die Linguistik weiterentwickelt wurde. Zugrunde liegt die Annahme, dass unser durch Sozialisation erworbenes Weltwissen vom Gehirn organisiert und in Form von Frames abgespeichert wird. Sie werden immer dann abgerufen, wenn es gilt, bestimmte Wörter, konkrete Handlungen oder Situationen richtig zu verstehen. Dazu stellen die Frames jenes Kontextwissen bereit, mit dem das Ereignis interpretiert, bewertet und in das vorhandene Wissen eingeordnet werden kann. Entscheidend ist dabei jedoch, dass Wörter oder Fakten je nach Kommunikationsziel unterschiedlich ‚geframed‘ werden. Wehling betont, dass Framing immer selektiv und mit Komplexitätsreduktion verbunden ist und somit unser Denken mehr oder weniger unbewusst lenkt. Die Aktivierung eines Frames enthält nicht nur damit verbundene Bilder und Gefühle, sondern auch programmierte Handlungsabläufe, die als Teil der Wortbedeutung simuliert werden. Die Idee, dass wir gedanklich nachvollziehen, was wir sehen, aber auch nur hören, wird als kognitive Simulation (auch körperliche Mimesis) bezeichnet und spielt auch eine Rolle in der Psychologie bei der Erklärung von Resonanzphänomenen und Intuition durch Spiegelneuronen. Schließlich funktioniert politisches Framing, indem abstrakte Sachverhalte an körperliche Erfahrungen gebunden werden, um den Verstehensprozess zu erleichtern. Dazu benutzt die politische Sprache konzeptuelle Metaphern, die seit der Kindheit im Gehirn gespeichert sind und meist unbewusst Frames stimulieren, die zwischen unserem Weltwissen und abstrakten Ideen vermitteln. Als Beispiel für eine konzeptuelle Metapher verweist die Autorin darauf, Steuern (nur) als Last zu verstehen, wobei ausgeblendet werde, dass Steuern notwendig für ein funktionierendes Gemeinwesen sind.

Im zweiten Teil beschreibt Wehling nun an Beispielen aus der aktuellen Politikdebatte, wie politisches Framing funktioniert, und hier liegt der eigentliche Gebrauchswert des Buches. Es macht nämlich nicht nur bewusst, dass Sprache nicht zufällig verwendet wird, sondern Ideologie, Werte und handfeste politische Interessen transportiert, sondern es liefert anhand von Modellanalysen zugleich das Instrumentarium mit, sodass jeder, dem die Auswahl des Sprachmaterials nicht passt, eigene Beispiele analysieren kann. Wehling zeigt exemplarisch, wie einzelne Elemente des Frames ‚Steuern zahlen‘ negativ perspektiviert werden, indem Steuern als Last, Bürde oder Strafe bezeichnet werden, die Zahler selbst als „Melkkuh“ und als „Gans“, die man rupfen kann, um nur einige Beispiele zu nennen. Damit korrespondieren verniedlichende Bezeichnungen, die Verständnis für diejenigen ausdrücken, die ein „Steuerschlupfloch“ oder eine „Steueroase“ suchen, um nicht oder weniger zu zahlen. Die sind dann auch keine Kriminellen, sondern lediglich „Steuersünder“, womit suggeriert wird, dass es sich nicht um eine Straftat, sondern höchstens um eine moralische Verfehlung handelt.

Um nichts anderes geht es auch – um mal ein eigenes Beispiel zu nennen – wenn Journalisten im Zusammenhang mit dem VW-Dieselskandal verharmlosend von „Schummelsoftware“ reden, weil mit ’schummeln‘ der Frame „Spiel“ aufgerufen wird, wo mit Tricks versucht wird, einen Vorteil zu bekommen, während das eigentlich angebrachte Verb ‚betrügen‘ den Frame „Straftat“ aktivieren würde, also jemanden bewusst zu täuschen, um Geld zu bekommen. Nach dem Lesen dieses Buches kann man vielleicht noch besser nachvollziehen, wie die Entscheidungen der Jury für das „Unwort des Jahres“ zustande kommen, indem man den Frame analysiert, den ‚Preisträger‘ wie „ethnische Säuberungen“, „Rentnerschwemme“, „notleidende Banken“ u.a. aktivieren.

Ein Buch wie das vorliegende kann davor schützen, anderen sprachlich auf den Leim zu gehen. Es schärft das Sprachbewusstsein und schult die Aufmerksamkeit für eine intendierte Lenkung öffentlicher Debatten durch gezieltes politisches Framing.

Vaterbilder

2019 16. November
von Michael Thormann

Der 30. Jahrestag des Mauerfalls war Anlass zu vielfältiger Bilanzierung der deutschen Einheit. Kaum jemand bestreitet, dass viel Positives erreicht wurde, dennoch war überall von zunehmenden ostdeutschen Abwehrreflexen zu lesen. „Die hohen Zustimmungswerte für die AfD und die beträchtliche Anhängerschaft für die Linkspartei […] demonstrieren, wie sehr sich die nostalgische Sehnsucht nach Überschaubarkeit und festen eigenen Rollenbildern in den ostdeutschen Ländern ausbreitet.“ (FAZ, 29.7.19) Erklärungsversuche nehmen verstärkt das Verhältnis der Generationen in den Blick. So fragt nicht nur die jüngere Generation nach der Rolle ihrer Eltern in der DDR (Johannes Nichelmann, Nachwendekinder: Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, 2019). Sondern auch die ältere Generation blickt zurück auf ihre Kindheit in den 50er Jahren, die oft mit Bindungsdefiziten verbunden war, weil der Vater entweder gar nicht oder psychisch beschädigt aus dem Krieg heimkehrte. Nach Herbert Renz-Polster sind seelische Nöte in der Kindheit der ideale Nährboden für autoritäres Denken (Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, 2019) Wenn es stimmt, dass die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland ohne den Blick in die Kindheiten der jeweiligen Generationen kaum zu verstehen sind (Vgl. Spiegel, 13/2019, S.44-45), dann leistet auch das folgende Buch einen Beitrag dazu.

Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter

Umtausch leider nicht möglich

Der Vater war an der Westfront, wurde aber wegen Krankheit noch vor Kriegsende nach Hause geschickt. Dort lag er meistens auf der Couch, rauchte filterlose Zigaretten und glotzte in den Fernseher, am liebsten Sport, obwohl er alles andere als sportlich war. Die Bierflasche war immer dabei. Er war lange der ‚Ernährer‘ der fünfköpfigen Familie, nahm aber von seinem Gehalt fast die Hälfte für sich. Mit Arbeit im Haushalt gab er sich nicht ab, aber beim Essen bekam er die besten Stücke. Den wenigen Spargel aus dem Garten aß er ganz allein, seine Familie schaute zu. Am liebsten war er im Garten und werkelte ein bisschen. Hier konnte er auch die Schnapsflasche besser verstecken. Seine Kinder mussten immer Bier holen, 20 Flaschen für das Wochenende. Weil sie sich dafür schämten, kauften sie es in verschiedenen Läden. Er kümmerte sich normalerweise nicht um die Schule. Wenn er aber doch mal Hausaufgaben mit seinen Söhnen machte, schlug er zu, wenn die Kinder etwas nicht sofort verstanden. Unter ihren Stühlen bildete sich eine Pfütze. Als die Mutter einmal im Krankenhaus war, musste er die Lehrerin empfangen. Während des Gesprächs im Wohnzimmer saß er in lumpigen Sachen im Sessel, neben sich eine Batterie Bierflaschen, rauchte und wischte sich schniefend mit dem Handrücken die Nase. Den Kindern war es peinlich, denn nun wusste auch die Lehrerin, dass ihr Vater keine Manieren hatte. An zärtliche Gesten zwischen den Eltern können sich die Kinder nicht erinnern, wohl aber an das verweinte Gesicht ihrer Mutter. Als sie nach seinem Tod sah, dass nicht nur das Konto leer war, sondern auch sämtliche Ersparnisse fehlten, waren keine Tränen mehr übrig. In seinem Nachlass fand sich eine eidesstattliche Erklärung eines Arbeitskollegen, dass der Vater den Hitlergruß wiederholt verweigert habe und deshalb verwarnt worden sei. Den ihm unterstellten Fremdarbeitern soll er mehr Essen als erlaubt gegeben haben. Man rechnete ihn deshalb insgeheim zum Widerstand. – Den Respekt seiner Familie hatte er lange vorher verspielt.

„Schade, dass man so einen Vater nicht zurückgeben kann“, meinte Hagen Blankensiefen über seinen Kriegsvater, dem er Depressionen und ein Leben als Einzelgänger zu verdanken hatte. Sabine Bode hat – bis auf eine Ausnahme – ähnlich bittere Berichte von Nachkriegskindern über ihre Kriegsväter in acht Kapiteln ausgebreitet, kommentiert und fünf davon ausführliche Interviews von Zeitzeugen oder Wissenschaftlern – am interessantesten das mit dem Historiker Sören Neitzel – zugeordnet. Ziel war es, die zerstörerische Kraft des Krieges zu zeigen, noch lange, nachdem der letzte Schuss gefallen war. Psychische Schädigungen unterschiedlicher Art gab es in beiden Generationen. Weil die Kriegsteilnehmer als Väter versagt haben, konnten auch die Kinder oft kein normales Leben führen.

Was die Ostdeutschen betrifft, so gab und gibt es nicht „Die DDR-Variante“ (Kapitel 6). Die zwei vorgestellten Fälle sind Varianten unter anderen. Leider wird auch in diesem Buch das Klischee von den einfältigen Ostdeutschen kolportiert, die angeblich geglaubt haben, alle Nazis seien nach 1945 in den Westen gegangen. (Birthler / Hülsemann). Die DDR war eine mehrfach gespaltene Gesellschaft, sodass sich allein deshalb generalisierende Aussagen verbieten. Es wird immer gern betont, dass viele Ostdeutsche nach dem Prager Frühling, spätestens aber nach der Biermann-Affäre eine wachsende innere Distanz zum SED-Staat entwickelten und sich in Nischen zurückzogen, was letztlich den Boden für die innere Oppositionsbewegung (Umweltaktivisten, Ausreise-Anträge, Montagsgebete, Proteste beim Luxemburg-Gedenken und in Schulen u.ä.) bereitete. Diese innere Errosion der DDR macht die unterstellte Identifikation der Ostdeutschen mit der offiziellen Geschichtspropaganda unglaubwürdig. Wie repräsentativ waren denn jene „Gleichaltrigen“, die die Autorin „verblüfft“ haben, weil sie keine Probleme mit ihrer Nationalität gehabt und sich auch „wegen der NS-Verbrechen nicht schuldig“ und „als Erben des antifaschistischen Widerstandes“ gefühlt hätten? (S. 30f) Man erfährt leider nichts über den biografischen Hintergrund dieser Leute, der allerdings für eine genauere Bewertung ihrer Aussagen aufschlussreich wäre. Im Übrigen ist diese Haltung inzwischen weit verbreitet, denn 77 % der Deutschen lehnen heute Schuldgefühle wegen des Holocausts ab – so die Ergebnisse einer neuen Studie von Zick / Rees.

Zwar war der ‚verordnete Antifaschismus‘ (Ralph Giordano) Teil der offiziellen Geschichtspropaganda, aber das bedeutet nicht automatisch, dass der Einzelne ihn in den privaten Bereich übernommen hat. Mit anderen Worten: viele wussten, dass ihre Eltern Teil des NS-Systems waren, dass der Vater in der Regel in der HJ und danach Soldat und die Mutter im BDM waren.

Wer es wissen wollte, las das damals mutige Buch „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf, in dem die individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die nicht an „die anderen“ delegierbar war, thematisiert wird. Die mit autobiografischen Zügen ausgestattete Figur der Nelly Jordan wächst mit der NS-Ideologie auf und verfällt ihr: „Der Führer war ein süßer Druck in der Magengegend und ein süßer Klumpen in der Kehle.“ Völlig verblendet und führertreu bis zum Schluss erlebt sie die Flucht aus der Heimat und das Ende des NS-Regimes. Dieses Buch – das auch die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit beschreibt – hat das Gespräch über den gewöhnlichen Faschismus befördert und damit den ‚verordneten Antifaschismus‘ unterlaufen.

Wenn es heißt, dass Nachkriegskinder ihre Eltern inzwischen im ‚milderen‘ Licht sehen (Bode, S.31), dann ist auch hier der ostdeutsche Blick aufgrund der gemeinsamen Erfahrung eines Lebens in der Diktatur ein spezifischer. Weil sie die politischen Zwänge, die begrenzten Spielräume menschlichen Verhaltens und die weitreichenden Konsequenzen einer Verweigerung am eigenen Leib erfahren haben, beurteilen sie das Tun und Lassen der Eltern immer vor der Folie des eigenen Lebens. Wenn ein Wehrmachtssoldat den Befehl erhielt, Teil eines Erschießungskommandos zu sein, und für sich entscheiden musste, zu töten oder vorbeizuschießen und die Konsequenzen zu tragen, dann gleicht das der Erfahrung von Tausenden NVA-Grenzsoldaten, die beim Postengang fast täglich vor der Gewissensfrage standen, ob sie von der Schusswaffe Gebrauch machen, wenn ihr Begleiter versuchen sollte, ‚Republikflucht‘ zu begehen. Das sind Gewissensqualen, wie sie auch Sebastian Haffner beschrieben hat, als er 1933 in einem Wehrsportlager Uniform und Hakenkreuzbinde trug und sich die Frage stellte, was er im Falle eines Kriegsausbruchs tun würde: „Würdest du dein Gewehr wegschmeißen und überlaufen? Oder auf deinen Nebenmann schießen? Der dir gestern beim Gewehrputzen geholfen hat? Nun? Nun??“ Der Vergleich des elterlichen mit dem eigenen Leben geschieht in dem Bewusstsein, dass jeder Mensch nur ein Leben hat und sich in einer historisch-konkreten Situation für einen Weg entscheiden muss, der Leben ermöglicht. Natürlich bedeutet ein ‚wissendes Verstehen‘ keineswegs, alles zu entschuldigen. Sondern es bedeutet vor allem, dass ostdeutsche Nachkriegskinder ihre Eltern weniger von oben herab sehen und mit moralischer Entrüstung weit vorsichtiger sind als Menschen, die mit ihren Eltern keinen gemeinsamen strukturellen Erfahrungsraum teilen.

Von daher rührt auch das Misstrauen vieler Ostdeutscher, wenn sie mit westdeutscher Überheblichkeit konfrontiert werden, nach dem Motto: Wie konntet ihr 45 Jahre eine Diktatur ertragen? Dazu Margarete Mitscherlich gegenüber einer Ostdeutschen: „Ich habe das Gefühl, die Westdeutschen verlangen von Ihnen, was sie von sich selbst nie verlangt haben – Sie sollen die DDR aufarbeiten und die Nazis, für die Wessis gleich mit. Die haben gar kein Recht, Ihnen Schuldgefühle zu machen.“ (Interview, 3./4.4.1993) Formen der Selbsterhöhung von Leuten, die ohne persönliches Verdienst auf der vermeintlich besseren Seite gelebt haben, stoßen vor allem auch deswegen auf ein müdes Lächeln, weil sie jeden Beweis dafür, dass sie sich in der DDR anders verhalten hätten, schuldig bleiben müssen. Ein Blick in die Geschichte lehrt jedoch, dass es unter den gemeinsamen politischen Bedingungen im Dritten Reich keine signifikanten Verhaltensunterschiede unter allen Deutschen gegeben hat, denn sie waren flächendeckend, von Ausnahmen abgesehen, ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ (Daniel Goldhagen) und haben auf vielfältige Art und Weise vom ‚System‘ profitiert (Vgl. Bode, S.291ff).

Beim Lesen der Berichte fällt außerdem auf, dass die eigene Erinnerung von den Berichtenden nicht problematisiert wird. Erst im Interview mit dem Psychotherapeuten Müller-Hohenhagen (S.259ff) wird an einem Beispiel verdeutlicht, wie Erinnerungen bewusst verfälscht werden, teils um die Zuhörer, teils aber auch um sich selbst zu schonen. Es gibt aber auch noch eine unbewusste Seite der Erinnerung, die mit der Arbeitsweise unseres Gedächtnisses zusammenhängt. Es erinnert sich vor allem an emotional bedeutsame Erlebnisse, was aber bedeutsam ist, ist individuell. Hinzu kommt, dass das Erinnerte selbst nicht konstant bleibt. „Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung hochholen, werden wir sie neu bewerten und sie wird sich verändern“, meint die Gedächtnisforscherin Hannah Monyer. Erinnerungen sind demnach höchst unzuverlässig. „Wir alle erfinden unsere Vergangenheit neu, aber wir tun es nicht mit Absicht“, schreibt Siri Hustvedt, wir tun es im Dienst der „emotionalen Wahrheit“ und die ist entscheidend. Auch daran sollte man denken, wenn man die Berichte über Kriegserfahrungen und ihre transgenerationalen Folgen liest.

Das obige Zitat von Hagen Blankensiefen findet man auf S. 258, den eingangs beschriebenen Vater allerdings nicht. Das war meiner.

Nachbetrachtungen zum „Tag der Einheit“

2019 10. November
von Martin Löschmann

Nüchtern betrachtet beging die geeinte Republik am 3. Oktober ihren 29. Jahrestag. Die nächste runde Jubelzahl wird schon im kommenden Jahr erreicht. Wer bereits in diesem Jahr eine runde 30 brauchte, bediente sich des Mauerfalls. Inzwischen weiß man, wie es geht: Welch Glanz in meiner Hütte! Es gibt aber auch die, die meinen, so abgehoben von der Realität dürfe man diese Feiern nicht begehen. Spiegel Online titelt Die bisherige Erzählung der Einheit ist fragwürdig und lässt den Historiker Marcus Böick zu Wort kommen, der „einen neuen Blick auf die Wende – auch auf ihre Makel“ fordert (Samstag 02.11.2019).
Als wenn es sich dabei um ‚Makel‘ handelte – aber immerhin. Der Soziologe Steffen Mau * nennt Neues in Bezug auf die Aufarbeitung der DDR. Diese und andere Autoren lesend, frage ich mich, ob nicht schon jetzt die Ausgrabungen begonnen haben, von denen Volker Braun vermutet, dass die Archäologen in 50 Jahren damit beginnen werden, „nach uns zu graben“.

Es ist eine Freude beobachten zu können, wie zum Zwecke der Wahrheitsfindung, einer komplexen Betrachtung des Wende- und Nachwende-Geschehens auf- und eingerüstet wird, Werkzeuge zur Neubewertung von Wende-Vorgängen zur Verfügung gestellt, Fundorte geortet, erste Probegrabungen, aber immer auch Scheingrabungen vorgenommen werden.

Eine E-Mail von einem Freund M. Th., die mich am 22. Oktober erreichte, weist ebenfalls auf eine solche Ausgrabung hin, wenn der Schreiber nicht umhinkann, nach denjenigen zu fragen, die „für das inhumane Handeln im Zuge der Wiedervereinigung“ verantwortlich sind:

 „… der dir auch bekannte Nachwende-Rektor der Uni Leipzig, Prof. Cornelius Weiss, hat sich laut einem LVZ-Artikel vom 21.10.19 kritisch über den ‚schäbigen‘ Umgang mit ostdeutschen Wissenschaftlern nach der Revolution geäußert. Er kritisierte überstürzte Entlassungen und verteidigte die ‚international respektierte Forschung‘, u.a. auch in der Sprachwissenschaft. Das empöre ihn bis heute. Mit mehr Einfühlungsvermögen hätte die Einheit „humaner“ ablaufen können, d.h., dass es auch inhumanes Handeln im Zuge der Wiedervereinigung gab. Wer evaluiert eigentlich die dafür Verantwortlichen?“

Für den ehemaligen Rektor der Leipziger Universität ist das keine späte, Erkenntnis wie bei etlichen „Aufarbeitern“ der Wendezeit, die das gegenwärtige Glockengeläut zu hinterfragen beginnen, sondern er hat sich schon während seiner Amtszeit kritisch zum Umgang mit Angehörigen seiner Universität geäußert. In meinen „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ und auch in diesem Blog kommt er zu Wort als einer, der das Maß nicht verloren hatte und seine Universität dem Westen nicht ungefragt überlassen wollte. In seinem Interview geht er allerdings sehr viel weiter, indem er eine „bittere Bilanz“ zieht. „Und es empört mich bis heute, dass Deutschland nach der Sternstunde seiner friedlichen Wiedervereinigung so schäbig mit seinen neuen Bürgern umging.“ „Die Leipziger Universität musste sich von fast 7000 Mitarbeitern trennen.“ Das bedeutete vielfach Bruch im Berufs- und damit auch im persönlichen Leben von unbescholtenen Menschen, die sich nicht selten jahrzehntelang unter schwierigen Bedingungen um Lehre und Forschung verdient gemacht hatten.“
(Einer von diesen 7000 Entlassenen war der Schreiber dieses Beitrages, wovon man sich in diesem Blog leicht überzeugen kann.)

Eigentlich habe ich nicht daran gezweifelt, dass sich eine eher angemessene Betrachtung des Wendegeschehens, das zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik führte, einstellen wird. Wer diesen Blog durchblättert, wird sich darüber schnell informieren können, dass hier von Anfang an versucht wurde, die Nebelwand zu lichten.

Die DDR war bankrott, überschuldet, ein einziger Schrotthaufen, marode*², geschichtslos, die DDR-Bürger und -bürgerinnen, fehlgeleitet und fehlentwickelt, nicht in der Lage, an der Umgestaltung teilzunehmen – schon gar nicht führend. Wie ‚trefflich‘ formulierte es einst Prof. Arnulf Baring? „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, die Ausbildung verhunzt … Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar.“ 

Soweit die Auslassung des bekannten, inzwischen verstorbenen Politikwissenschaftlers, Juristen und Publizisten aus dem Jahr 1991. Er war ein gern gesehener Gast in Talkshows.

Steffen Mau spricht in seinem Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft von einer „relativen sozialen Deklassierung“*², die es ja in der Tat auch war. Die Ostdeutschen „wanderten in eine wohlhabendere und statusmäßig höher gestellte Gesellschaft ein.“ Um sie untertan, mundtot, unsicher machen zu können, wurden in vielen Fällen ihre Biographien in Frage gestellt, ihre Arbeitsbiographien zerstört, grundlos sogar in Eunzelfällen kriminalisiert, ihnen mit dem Zaunpfahl gedroht und erklärt, alles, was bisher von ihnen gelebt und geschaffen wurde, sei null und nichtig. Eine schnelle Lernfähigkeit wurde einem großen Teil von ihnen abgesprochen, schlimmer noch: unbescholtene Menschen aus fadenscheinigen Gründen aussortiert und kaltgestellt.

Allmählich jedoch lichtete sich die Nebelwand und ‚die Ossis‘ begannen zu begreifen, was sie sich hatten gefallen lassen (müssen). Dass die AfD, so schändlich reaktionär ihr Vorgehen ist, bei der Niederreißung eine Rolle spielt, steht außer Frage. Man wird nicht umhinkommen, die gefährliche Verlockung eines Teils des Ostwahlvolkes durch die AfD genau und ohne Scheuklappen zu analysieren, um diesen AfD-Rattenfängern das Handwerk legen zu können. Der bereits zitierte Historiker Marcus Böick, der sich mit der Treuhand beschäftigt, bringt es in seinem Interview (Spiegel Online Samstag, 02.11.2019   22:37 Uhr) auf den Punkt:

„Ich bin vor einigen Jahren gefragt worden: Trägt die Treuhand Mitschuld am Aufstieg der AfD? Ich habe das intuitiv erstmal verneint, aber inzwischen sehe ich das differenzierter. Wir reden hier über die langfristigen Erfahrungen der Nachwendegeneration – natürlich in Kombination mit der DDR-Erfahrung – und ich glaube: Gerade in dieser Kombination liegt vielleicht eine Erklärung. Die Treuhand ist schließlich ein zentraler Baustein dieser schockartigen Nachwendeerfahrungen. Die Menschen im Osten haben das Wirken der Treuhand oft als Herabsetzung empfunden. Es kamen Menschen aus Westdeutschland und nahmen im Osten das Heft in die Hand. Da reiste plötzlich einer aus Düsseldorf an und sagte: ‚Euer Betrieb ist nichts mehr wert.‘ Das bleibt hängen.“

Man kann es drehen und wenden, wie man will, die AfD stellt Fragen, die im Osten gären, weil sie vom Establishment jahrelang unter den Teppich gekehrt worden sind. Es genügt wahrscheinlich nicht nur eine Fehleranalyse der etablierten Parteien mit der CDU an der Spitze und die SPD unbedingt eingeschlossen. Wären nur hie und da Fehler gemacht worden, hätte man sie im Laufe der 30 Jahre längst korrigieren können. Wie aber die durchaus aktuellen kritischen Analysen des Zusammenwachsens von Ost und West zeigen, ist zwar einiges im Osten geworden, wer wollte es in Abrede stellen, aber die Ungleichbehandlung nach 30 Jahren liegt auf der Hand: Immer noch wird im Osten weniger verdient, die Machtstrukturen vom Westen dominiert, die Kulturinstitutionen, die Leitungsgremien der Universitäten von Westdeutschen besetzt – drei Viertel der Elite im Osten sind Westdeutsche (Mau, S. 3), sind die Großkonzerne weitgehend im Westen geblieben.

Wie schwerwiegend, lebenszerstörerisch die Wende für viele Ostdeutsche war, macht der Rückgang der Geburtenzahlen im Wendegefolge deutlich. „Nicht einmal zu Kriegszeiten oder nach 1945 sind die Geburtenzahlen so eingestürzt wie ab 90. Die Geburtenrate sank auf statistisch 0,77 Kinder pro Frau, ein extrem niedriger Wert.“ (Mau, S. 3) Die Verunsicherung eines beachtlichen Teils der Ostdeutschen hängt zweifelsohne mit der unbegründeten Infragestellung ihrer Bildung zusammen. Gewiss gab es diese unselige Ideologisierung, aber sie verhinderte keineswegs solide Bildung und natürlich auch Forschung. Viele der Arbeiter- und Bauernkinder, denen die DDR ihren Bildungsweg geebnet hatte, konnten und wollten sich nicht damit abfinden, dass ihr Bildungsbemühen vergebens gewesen sein sollte. Mau spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aufsteigergesellschaft“, „Menschen aus einfachsten Schichten machten Abitur und kamen an die Hochschule“. Wenn man nicht mit dem Begriff Arbeiter- und Bauernkindern operieren will, kann man die Herkunft meinetwegen mit der mehr als schwammigen Kategorie „einfachste Schichten“ umschreiben, d.h. hier: diskriminieren. Dass die Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder in den 80er Jahren zunehmend unterlaufen wurde, indem die sogenannte sozialistische Intelligenz bestrebt war, sich selbst zu reproduzieren, ist unbestreitbar, hier aber nicht das Thema.

Traun fürwahr: hätte nicht gedacht, dass sich derart viel bewegt im Rahmen der durchaus berechtigten Gedenk- und Feiertage. Diese gemütsaufhellende Feststellung treffend, erreicht mich die folgende Nachricht:

„Das aus 70 000 bunten Glasfliesen zusammengesetzte DDR-Wandmosaik «Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik» ist zurück an seinem früheren Standort. Mit einem Kran und vor einem Publikum aus Anwohnern wurde die letzte Platte von Josep Renaus Kunstwerk am Moskauer Platz in Erfurt angebracht. «Ein Stück Zeitgeschichte kehrt an den Moskauer Platz zurück. Viele Kunst aus der DDR sei inzwischen verschwunden, sagte Knoblich. «Zum Teil übereilt, zum Teil aber auch berechtigt.» Für die Stadt sei es ein tolles kulturpolitisches Zeichen, dass sie sich qualifiziert und differenziert mit DDR-Kunst auseinandersetze», sagte der Kulturbeigeordnete der Stadt Erfurt, Tobias Knoblich, am Dienstag.“ (dem 29. Okt. 2019) (https://www.msn.com/de-de/nachrichten/other/«stück-zeitgeschichte»-ddr-wandbild-in-erfurt-hängt-wieder/ar-AAJwqZs?ocid=spartandhp)
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* Interview mit Steffen Mau, Es hat sich im Osten eine Schiefstellung entwickelt. In: Berliner Zeitung v. 7./8. September 2019, S. 2.

*² Wer sich für die ökonomische Seite der aufgebauten Nebelwand näher interessiert, lese z.B. K. Blessing/W. Siegert: Wie sich Richard Schröder arm rechnet. Eine Erwiderung auf einen   Artikel von R. Schröder, der in der Zeitung „Die Welt“ erschien, nachdem „Die Welt“ ihn abgelehnt hatte.  In: Berliner Zeitung v. 10. September 2019, S. 6.