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Kaugummi meinetwegen, aber …

2016 22. Mai
von Martin Löschmann

K. aus dem Libanon hat in Leipzig erfahren, dass Löschmanns ein paar Jahre nach der Wende gen Berlin verzogen sind. Eines Tages steht er vor der Tür. Er erinnert sich noch gut an das Jahr am Herder-Institut, es muss 1965 gewesen sein. Leider mag er sich im Blog nicht zu seinem Studium in der DDR äußern, weil er nicht im Lande geblieben war, sondern in die Bundesrepublik ging und dort weiterstudierte. Die Gründe, weshalb er das Studium nicht in der DDR beendete, wären selbstredend interessant gewesen. Aber was nicht ist, ist nicht.

Obwohl selbst für K. das Herder-Institut verständlicherweise weit, weit weg ist, will ich hier über eine Begebenheit am Rande unseres Erinnerungssogs berichten. Ich hätte speziell ihm und überhaupt der ganzen Gruppe untersagt, im Unterricht zu ‚katschen‘, wie ich es genannt hätte. Woran er sich erinnerte, könnte man so zusammenfassen: Sie können in der Pause, vor und nach dem Unterricht so viel Kaugummis im Munde bekauen und verarbeiten, wie Sie wollen, aber nicht in meinen Stunden. Zum Trinken, Essen und zum Kauen gibt es Kuhhalt die Pausen. Ich komme vom Dorfe und weiß, dass es Tiere gibt, die ständig kauen müssen, Kühe. Wenn man ihnen etwas beibringen wollte, müsste das Wiederkäuen geduldet werden, nicht aber bei Menschen, die eine Sprache lernen wollen.
Das war offensichtlich heftig für ihn, zumal er nicht zu den Kaugummikauern mit offenem Mund und viel Getöse gehörte. Womöglich hatte er sich sehr dezent des Chewing Gums bedient. Jedenfalls erinnerte ich mich nicht an irgendein Schmatzen, das den Unterricht auffällig gestört hätte. Meine drastische Art war gewiss der Jugend geschuldet, aber K. war ja auch jung. Die Tatsache, dass er sich an die Begebenheit erinnerte, zeugt von damaliger emotionaler Bewegtheit. Vielleicht hatte er meine Intervention auch als eine Form von Gängelei, von Bevormundung empfunden.

Es ist heute schwer nachzuvollziehen, inwieweit damals mein Vorgehen, meine schroffe Äußerung ideologisch geprägt worden war, also von der Devise: Erfinder des Kaugummis sind die USA, genauer: William Wrigley, das Produkt ist daher abzulehnen, und es wurde bis Anfang der Honecker-Zeit – Anfang der 70er – abgelehnt wie so manches, das vom Westen kam, wo doch der Klassenfeind saß. Wenn man freilich gewusst hätte, dass wir Prototypen des heutigen Kaugummis Indianern verdanken – sie kauten eine Masse aus Rottannenharz und Bienenwachs – hätten die Chefideologen womöglich ganz anders reagiert.
Aber wenn ich mich so recht erinnere, habe ich das amerikanische Produkt nicht prinzipiell abgelehnt und gelegentlich, wenn ich des Wrigley habhaft werden konnte, es außerhalb von Schule und Universität sichtbar kauend gern zur Schau getragen. Nur in der Schule, an der Uni und auch auf Arbeit, also am Herder-Institut, war der Kaugummi natürlich tabu. Und ich denke auch heute noch so: Kaugummi gehört weder in den Unterricht noch in Seminare. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, der Kultur, der Ästhetik. Deshalb ist das Verbot, im Unterricht zu katschen, für mich gerechtfertigt.
Offensichtlich ist es dies auch im Land gang und gäbe, in dem das Kulturgut erfunden wurde. Eine Szene aus dem Roman „Amerikanische Idylle“, verfasst vom bekannten USA-Schriftsteller Philip Roth, mag als Beleg dienen. Bei einem Klassentreffen wird ein Interview mit ehemaligen Klassenkameraden gemacht:
„»Die Schule war einzigartig«, erzählte ihm die dreiundsechzigjährige Marilyn Koplik. »Die Kinder waren großartig, wir hatten gute Lehrer, das schlimmste Verbrechen, das wir begehen konnten, war Kaugummikauen …« »Die beste Schule von allen«, sagte der dreiundsechzigjährige George Kirschenbaum, »die besten Lehrer, die besten Schüler …« »Alles kluge Köpfe«, sagte der dreiundsechzigjährige Leon Gutman, »die intelligenteste Gruppe von Menschen, mit denen ich je zusammengearbeitet habe …« »Die Schule war damals einfach anders«, sagte die dreiundsechzigjährige Rona Siegler“

Ein generelles Verbot des Kaugummis wie in Singapur scheint mir dagegen unangemessen, auch wenn es der Umwelt zuliebe ausgesprochen wurde. Auf keinen Fall aber sollte die eklige Verschmutzung der Städte durch einfach auf die Erde gespuckte Kaugummis unterschätzt werden. Während ich dies schreibe, meldet Hannover, dass die Stadt dabei ist, das Zentrum der Stadt einer Großreinigung zu unterziehen. Besondere Mühe macht es, die Kaugummireste zu beseitigen. „Auf rund 25 000 werde deren Zahl im Kern der City geschätzt, bis zu 20 pro Quadratmeter, meinte eine Sprecherin. Mit einem Hochdruckreiniger samt Spritzpistole und 75 Grad heißem Wasser soll künftig jedes Kaugummi binnen zehn Sekunden weg sein.“ (Online Focus, Dienstag, 03.05.2016)

Doch zurück noch einmal zum Bubble Gum in der DDR: So wenig die Jeans auf Dauer mit ideologischem Bann zu belegen waren, so wenig war der ‚Geschmack der Freiheit‘ zu diskreditieren. Spätestens unter Honecker war das Verbot und Gebot nicht mehr aufrechtzuhalten. Eine Gestattungsproduktion wurde bereits 1978 in der kaum bekannten Stadt Bernburg (mitten in von Sachsen-Anhalt) aufgebaut und das Produkt seit 1985 sogar unter dem geschützten Markennamen „Jamboree“ vertrieben. Salamander-Schuhe aus Weißenfels, Nivea-Creme aus Waldheim, Bärenmarke-Kondensmilch aus Schwerin. Rund 120 Artikel wurden mit Lizenz von Firmen aus der Bundesrepublik hergestellt und vorrangig in Intershop- und Delikat-Läden verkauft.

Was hat man dem Kaugummi nicht alles nachgesagt, was kann das Kauen nicht alles bewirken: Unumstritten auf jeden Fall Verbesserung des Mundgeruchs, macht den Mund kussfrisch; Karies kann obendrein vermindert werden, sofern natürlich der ohne Zucker verwendet wird. Allerdings kann Kaugummi nicht die Zahnbürste ersetzen. Zwar fördert er die Speichelproduktion, aber das reicht nicht, um die Speisereste aus dem Mund zu spülen. Viel Wert wird auf die Entspannungsfunktion gelegt: Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit heißt das Zauberwort – Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn (Alfred Hitchcock). Gestresste kommen zur Ruhe. Im Flieger kann Kaugummi beim Druckausgleich zweckdienlich sein, Bonbons tun es natürlich auch, sofern heute überhaupt noch erforderlich.

Vor dem Abflug verteilt die Stewardess Kaugummi. Das ist gut für die Ohren – für den Druckausgleich, wird ein hochbetagter Fluggast belehrt. Nach einer Zeit klingelt er nach der Stewardess und der alte Mann fährt sie an:
Und wie kriegt man das verdammte Zeugs wieder aus den Ohren raus, he?

Überdies: Raucher werden vom Rauchen abgehalten oder haben Sie schon jemand gesehen, der beides gleichzeitig kann? Wer Kaugummi kaut, kann auch nicht zugleich essen, nimmt folglich ab. „Amerikanische Wissenschaftler haben nach entsprechenden Studien errechnet: wer den ganzen Tag Kaugummi kaut, verbrennt übers Jahr fünf Kilogramm Körperfett. Aber das ist reine Statistik: wer hat schon 365 Tage im Jahr von morgens bis abends Kaugummi zwischen den Zähnen?“ (http://www.faz.net/aktuell/sport/genuss-schlanker-und-schlauer-mit-kaugummi-150132.html)
Bei dieser Rechnung wäre zudem zu bedenken: Wer ständig kaut, ohne jedoch etwas zu essen, regt die Produktion von Magensäure an, die ins Leere fällt und so Unheil anrichten kann.

Ob sich übrigens der jetzige Fußballtrainer von Borussia Dortmund, Thomas Tuchel, den ganzen Tag über am Kaugummi festhält? Möglich wäre es schon. Jedenfalls dünn genug schaut er aus. Wenn es nicht den überaus erfolgreichen Trainer von Manchester United, Sir Alex Ferguson, gäbe und neuerdings Zidane, den Trainer von Real Madrid, den ‚champions league sieger‘ von 2016, würde ich die These aufstellen, wer als Fußballtrainer so auf den Gummi angewiesen ist, dass er während des gesamten Spiels katschen muss, wird gewiss nicht die großen Titel holen, die es im Fußball zu holen gibt. Wer sich als Trainer nicht ohne Kaugummi konzentrieren kann und seinen Stress für jedermann und jedefrau sichtbar, unansehlich abbauen muss, ist irgendwie arm dran. Wenn es aber nur Imponiergehabe oder einfach ein Nachäffen von Sir Alex Ferguson ist, wäre dies auch nicht gerade ein Zeichen von Souveränität. Kaute Jupp Heinckes, der Gewinner des begehrten Tripels, unaufhörlich coram publico, geschweige denn ein Pep Guardiola, der 3 Jahre erfolgreicher Trainer bei FC Bayern war? Von mir aus gesehen sollte sich Tuchel seinen Tormann Roman Bürki zum Vorbild nehmen, der soll vor Beginn eines jeden Spiels seinen Kaugummi über die eigene Torlinie spucken und sich sagen: Das ist das einzige, was heute reingeht.

Allein bei allen Wirkungssignalen, die auf uns kommen, muss man bedenken, dass Wissenschaftler in den USA und anderswo erst später die aufgezählten und andere Leistungen herausfanden, was womöglich Walt Disney zum Spruch führte: „Eine auf dem Profit beruhende Industrie ist bestrebt, Menschen für den Kaugummi und nicht Kaugummi für die Menschen hervorzubringen.“ Und nicht alles, was dem Kaugummi in den Mund gelegt wird, trifft auch zu. So liest man immer wieder, Kaugummikauen steigere die Leistungsfähigkeit – gewissermaßen die Pille, die uns zu Höchstleistungen führt. In England, fällt mir ein, wurde von einem Experiment berichtet, bei dem nachgewiesen wird, dass die Gruppe der Nicht-Kauer signifikant mehr Fehler gemacht hatte als die Gruppe der Kaugummikauer.
Dagegen konnte Siefried Lehrl von der Universität Erlangen bei Kindern keine signifikanten Unterschied-Effekte des Kaugummikauens auf das kognitive Leistungsvermögen beobachten.
(http://psychologie-news.stangl.eu/1307/im-urlaub-sinkt-die-intelligenz-kaugummikauen-steigert-geistige-leistungsfahigkeit)

Es gibt also genügend Gründe, skeptisch zu sein, zumal wir in keinem Fall von reproduzierten Versuchsanordnungen hören. Erst sie könnten einen in die Lage versetzen, sich in die eine oder andere Richtung festzulegen. Freilich, wer kaugummi_cartoonbild_kostenlos_clipart_20120312_1185905176fest an das Bubble Gum und an alle die anderen Kaugummis und ihre Wunder-Wirkungen glaubt, mag mit dem Kaugummi den einen oder anderen Berg versetzen. Meine Glaubenszweifel habe ich angedeutet. Doch einen Trost haben wir: „Man ist so lange jung, wie man den Kaugummi aus seinen Zähnen entfernen kann“. kaugummi-wand-seattle-105~_v-videowebl
Kaugummiwand in Seattle

Nun kommen sie wieder

2016 3. Mai
Schlagwörter:
von Martin Löschmann

die Flüchtlinge über und aus Libyen

Es war ein eigener Titel, „Libyer kommen“, der mich zur obigen Überschrift anregte. Er ist im herderblog nachzulesen und kündigt einen Text an, der einige Bedenken, nein eher Zweifel am ‚arabischen Frühling‘ in Libyen verlautete. Dass mich Libyen seinerzeit, also vor fünf Jahren, beschäftigte, war eine Reminiszenz an libysche Studierende, die in den letzten Jahren der DDR auf kommerzieller Basis ans Herder-Institut gekommen waren. Ein (erdöl-)reiches Land bezahlte die Ausbildung zukünftiger Elite im Ausland.

Im Eintrag „Libyer kommen“ wird u.a. kurz angeführt, was Gaddafi seinem Land bot. So erhielten Absolventen, die nicht gleich Arbeit auf ihrem Fachgebiet fanden, vom Vater Staat, meinetwegen auch vom Gaddafi-Clan, das durchschnittliche Gehalt der jeweiligen Berufssparte. Keine Frage, für die Bildung wurde in diesem Land viel getan. Die Alphabetisierungsrate stieg auf 88% von rund 20 %, nachdem Gaddafi sich an die Macht gebracht hatte. Weitere Stichworte: Höchstes Prokopfeinkommen in Afrika, eine relative hohe Lebenserwartung (mit rund 77 Jahren immerhin Position 57 in der Welt), geringe Arbeitslosigkeit, ein Wirtschaftswachstum zwischen 5-6%, keine Zinsen auf Kredite, kostenloser Strom, Garantie eines Daches über dem Kopf, finanzielle Unterstützung von Frischvermählten in Höhe von 50 000 Dollar, unentgeltliche medizinische Behandlung, kostenlose Bereitstellung von Ackerland plus Bauernhaus, Geräte, Saatgut und Vieh als Startbonus, Subvention eines Autokaufs zu 50 %. Kurzum es ging den meisten Menschen im Lande mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 12000 Dollar ziemlich gut. Keine triftigen Gründe also, aus Not nach Europa zu fliehen, sieht man hier mal von denjenigen ab, die unter Gaddafi unterdrückt und drangsaliert wurden. Niemand wird bestreiten können, dass Machthaber Gaddafi diktatorisch agierte.

Nur muss sich die Politik doch auch von Laien fragen lassen, warum man sich nicht die sog. Opposition genauer angesehen hat, bevor man sie militärisch unterstützte oder gar ihr Geschäft besorgte. Demokraten waren darin auf jeden Fall in der Unterzahl, um es vorsichtig auszudrücken und nicht von ‚Demokratie-Mumpitz‘ im Kontext Libyens zu sprechen. Im Nachhinein ist es für jedermann und jedefrau sichtbar, dass man Rivalen, Benachteiligte, weil unterdrückte Stämme, Milizen, ausländische Söldner unterstützte, mit deren Hilfe neue Kräfte an die Macht kommen wollten und kamen. Doch Gewalt erzeugt Gegengewalt, wie man gut weiß, Stammeskriege setzten ein, an deren vorläufigem Ende bekanntlich zwei Regierungen entstanden – eine international anerkannte mit Sitz in Tobruk und die nicht anerkannte in Tripolis. Sie streiten seither um die Macht. Durch das Machtvakuum konnte sich der IS obendrein im Land festsetzen. So versank das relativ reiche Land immer mehr in Not und Elend. Ich vermeide das handelsübliche Wort ‚Chaos‘, das von Journalisten gern gebraucht wird, weil es mir abgegriffen scheint und z.B. nicht konkret den Hunger signalisiert, worunter über eine Million Libyer leiden, nicht die Vertreibung aus Dörfern (mehr als 500.000 Libyer sollen aus ihren Dörfern verjagt worden sein), nicht die Halbierung der Ölförderung, nicht die Aufzehrung der beachtlichen Währungsreserven. Die Londoner Wochenzeitung The Economist sieht Libyen schon als das „Land mit der 2016 weltweit am schnellsten schrumpfenden Wirtschaft“. Libyen könnte „ein zweites Somalia“ werden, warnte vor einem Jahr ein libyscher Ölminister und der von SPD-Chef und Merkel-Stellvertreter Gabriel so geschätzte Präsident Ägyptens As-Sisi sieht auf Europa eine verdoppelte und verdreifachte Migrationswelle zukommen, wie dem Le Figaro zu entnehmen war. Es besteht schon die Befürchtung: Nun kommen sie wieder, die Flüchtlinge.Vorerst wird aber noch so getan, als ob die Flucht aus, vor allem die von Menschen aus südlich gelegenen afrikanischen Staaten über Libyen aufzuhalten sei wie einst durch Gaddafi, wenn auch nicht mit gleicher Konsequenz, doch immerhin. Jetzt soll es die mit Hilfe der UNO von außen geschmiedete Einheitsregierung, die ihren Sitz nunmehr in Tripolis eingenommen hat, richten. Man darf seine Zweifel hegen und pflegen, zu sehr scheint das Land zerrüttet.

Doch wir können es nicht wissen. Womöglich greift jetzt der ‚Plan B‘, den Obama nicht hatte. Warum eigentlich nicht? Am 11.4.16 erklärte er nämlich: „Wahrscheinlich, dass ich nicht für den Tag nach der Intervention in Libyen geplant habe, die mir damals als richtige Entscheidung erschien.“ Unterstützt eine Intervention und hat keinen Plan B, was immer darunter zu verstehen ist? Unfassbar oder? Und wie ist zu begreifen, dass Obama überhaupt einen Plan A für ein anderes Land hatte, fernab von den USA, der offensichtlich den Sturz der Regierung Gaddafi und den Einsatz einer USA-genehmen Regierung vorsah. Zudem ließ sich Obama die internationale Intervention auch noch von Russland bestätigen. Allerdings nicht von Putin, sondern vom damaligen Präsidenten Medwedew. Jedenfalls konnte und kann im gegebenen Fall Russland mal nicht verantwortlich gemacht werden für das Scheitern ‚der Revolution im Namen der Demokratie‘. Das Libyen-Debakel mag sogar Russland dazu bewogen haben, nicht mehr so schnell und letztlich artig A- und B-Plänen der USA zum Sturz von funktionierenden Herrschaftssystemen zuzustimmen. Es ist wohl schwerlich zu übersehen, dort, wo die USA in den letzten Jahren Demokratie mit den Mitteln des Krieges durchsetzen wollten, wurden Tore, meinetwegen auch nur Schlupflöcher für den IS geöffnet, der Unheil über die Länder brachte, in denen er Fuß fasste.
Ich kann mich noch gut an Gespräche mit russischen Hochschullehrerinnen und -lehrern in Sibirien erinnern, die damals wenig Verständnis für Medwedews Haltung aufbrachten. Später erfuhr ich, dass 78% der Befragten die 2011 verabschiedete UN-Resolution und die Bombardierung Libyens durch die NATO ablehnten.

Den Schluss möchte ich gern Fabrice Leggeri, dem Leiter der EU-Grenzkontrollagentur Frontex, überlassen. Er warnte bereits im März des vergangenen Jahres vor der Eskalation: „Wir müssen bereit sein für eine schwierigere Situation als 2014. Unsere Quellen sagen uns, dass zwischen 500.000 und einer Million Menschen bereit sind, Libyen zu verlassen.“ (Spiegel Online, Mittwoch, 22.04.2015 – 09:39, der aus einem Interview der italienischen Nachrichtenagentur „Ansa“ zitiert ).
Warum das u.a. so ist, weiß natürlich Spiegel Online auch: „Diktator Muammar al-Gaddafi hat einen kaum funktionsfähigen Staat hinterlassen.“ Hauptmedienkonformer geht es nicht: Gaddafis Machapparat, sein ‚Staatsgefüge‘ wurde zerschlagen und wird für das Flüchtlingsdesaster nach seinem Tode mitverantwortlich gemacht. Zynischer geht’s nimmer.

Wie es auch sei: Je weitgehender ich mich in die Materie einlasse, so klarer wird mir: Weitere Flüchtlingen aus, aber vor allem über Libyen kommen – bestimmt.

Ein schmerzlicher Nachtrag: Kaum geschrieben schnellt die Zahl der Flüchtlinge nach oben, die von Libyen aus über das Mittelmeer Europa, vor allem zuerst Italien erreichen wollen. Die Zahlen sind erschreckend, erst recht die der vielen Toten. Kaum vorstellbar, doch leider wahr. Man kann sich darüber in den verschiedensten Medien informieren, nur befriedigende humane Lösungen scheinen nicht in Sicht.

Zwischenbilanz IV: Wohin nun des Wegs?

2016 9. April
von Martin Löschmann

Wenn Du nicht fliegen kannst, dann lauf,
wenn Du nicht laufen kannst, dann geh,
wenn Du nicht gehen kannst, dann kriech,
aber was immer du auch tust,
Du musst weitergehen. (Martin Luther King, Jr.)

Lassen wir das mit dem nun endlich, es wird höchste Zeit usw. In der Tat der vierte Zwischenbericht ist lange schon angekündigt und überfällig Doch der Herderblog hat nie unter Zeitdruck gelitten, sieht man vielleicht davon ab, dass die, die sich noch erinnern konnten und können, immer rarer werden, weil der Tod sie von der Herderbühne abrief und abruft.
Umso erfreulicher, dass sich unter dem Pseudonym Astrid Zeven eine ehemalige Mitarbeiterin mit einem autobiografischen Roman Die Mitläuferin, in dem das Herder-Institut als ‚Institut‘ eine mitteilenswerte Rolle spielt, in Erinnerung gebracht hat. Selbstredend nicht gedacht für den herderblog, aber doch dankbar von ihm aufgegriffen und in Gestalt zweiter Rezensionen entsprechend gewürdigt. Vgl. auch Gerhard Wazel „Memoiren und DaF – neue Facetten“.
Es lohnt sich, da mal hineinzuschauen. Als E-Book übrigens auch preiswert zu haben. Das gilt auch für Löschmanns Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen, in denen das Herder-Institut einen verhältnismäßig breiten Raum einnimmt, und die in mehreren Beiträgen so oder so reflektiert worden sind.
In beiden Fällen stellen sich gewissermaßen ehemalige Mitarbeitende aus, wenn auch im unterschiedlichen Maße und mit unterschiedlichen Vorgehensweisen. Beide ertrinken nicht im „Paradies der Erinnerungen“. Mit beiden Erinnerungsbänden aus dem vergangenen Jahr sind es jetzt insgesamt DREI. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser an den Beitrag: „Ein ehemaliger Kommilitone und späterer Kollege des Herder-Instituts legt seine Memoiren vor“ zu Peter Zimmermanns Geschichte wird uns zugefügt. Ein Ostdeutscher erinnert sich an das 20. Jahrhundert aus dem Jahre 2005.

Das aus der Sicht des Herderblogs bilanzierte Jahr 2015 kann überhaupt von mindestens zwei Projekt-Abschlüssen berichten. So wurde im vergangenen Jahr der Sammelband Humor im Fremdsprachenunterricht beendet, der u.a. Aspekte aufgreift, die im Blog-Beitrag „Ach ja, ach nein, ach wirklich – am Herder-Institut wurde auch gelacht?“ thematisiert sind. Im genannten Buch, von Martin Löschmann herausgegeben, sind Beiträger und Beiträgerinnen aus verschiedenen Ländern aufgenommen, darunter zwei weitere ehemalige Mitarbeiter des Herder-Instituts. Marianne Löschmann und Peter Ecke (USA). Ein kleines Jubiläum obendrein: Der 10. Band schließt die Reihe Deutsch als Fremdsprache in der Diskussion/Peter Lang-Verlag zunächst ab. Leider hat sich bis jetzt niemand gefunden, die Reihe fortzusetzen. Der Verlag wäre daran interessiert. Um die ‚freie Stelle‘ auch hier im Blog an- und auszupreisen: Diese Reihe soll – verkürzt formuliert – der wissenschaftlichen Fundierung des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache dienen. (Dies für meinen Schulfreund Erhard, der sich für diese Reihe interessierte.)

Landmannneu Ein zweites Projekt, das der Blog im Auge hatte, ist ganz gewiss der Band Memories of Kahira are Memories of RDG von Bernd Landmann, erschienen im Hausverlag. Der Titel wird verständlich, wenn man das Geleitwort des Geschäftsführers der Rahn Dittrich Group (RDG) liest. Gotthard Dittrich beginnt sein Geleitwort so: “Klappern gehört zum Handwerk. Diese alte Müllerweisheit gilt heute nicht weniger als zu ihrer Entstehungszeit, eher mehr. Wer am Markt dauerhaft erfolgreich sein will, muss Werbung betreiben. Die Texte, die in diesem Buch versammelt sind, haben mit einer ganz besonderen Variante der Werbung zu tun“ So wurde Dr. Bernd Landmann gebeten für die deutschsprachige Zeitschrift Papyrus Magazin in Ägypten zu schreiben und dabei für die RDG geschickt zu werben. Das konnte und musste ihm gelingen, denn „er und seine Frau Sigrid sind von 1968 bis 1971 im Auftrag von DDR-Institutionen in Kairo beruflich tätig gewesen, er als Lektor für Deutsch als Fremdsprache an ägyptischen Hochschulen, sie als Sekretärin eines Technischen Kundendienstbüros im DDR-Außenhandel. Die Jahre in Ägypten haben beide nachhaltig beeindruckt“, sodass er aus einem schier unendlichen interkulturellen Erlebnis-Born schöpfen konnte. Warum hier über diesen Band geschrieben wird? Ein Teil der versammelten Beiträge sind in der einen oder anderen Form auch in diesem Blog über Jahre hinweg veröffentlicht worden, zuletzt: „Es wächst zusammen, was zusammengehört. Nachdenken über ein Politikerwort mit Blick auf die Deutschen in Kairo“ (09.0915).
Viele Beiträge fanden Interessenten, was an den Klicks zu erkennen war. Die haben übrigens im Vergleich zur Bilanz III zugenommen. Es kann schon mal passieren, dass sich rund 50 Personen pro Tag einklicken. Sicherlich sind darunter auch ‚Klicker‘, die sich nur verklickt haben.Vermutlich hängt die Zahl auch mit der Erweiterung des Themenspektrums und dem Ausbau bestimmter aktueller Themen. Vgl. z.B. „Russland ist noch nicht abgehakt“ zusammen. Immerhin sind seit Bilanz III 36 Beiträge der verschiedensten Art hinzugekommen.

Doch zurück zu Landmann und weg von schnöder Statistik. Sofern sich Bezüge, so weitläufig auch immer, zum Herder-Institut ergaben, wurde er gebeten, seine ‚Offenbarungen‘ auch dem herderblog anzuvertrauen. Dank seiner Großzügigkeit partizipiert nunmehr der Blog am Glanz des Bandes. Ich bin sicher, der eine oder andere Ägyptenfreund wird sich das Büchlein besorgen wollen. In diesem Falle sollte man sich an die Europäische Stiftung der Dittrich Group für Bildung und Kultur. Markt 10, 04109 Leipzig wenden. Ich selbst bin besonders gespannt, welche Aufmerksamkeit Landmanns Beitrag „Luther und der Islam. Nachdenken über die Entstehungsgeschichte eines Buches, das dem Dialog zwischen Luthertum und Islam gewidmet ist“, im kommenden Jahr, im Lutherjahr 2017 also, erreichen wird. Ach ja, wäre es nicht ein lohnendes Projekt Luther am Herder-Institut?
Mit diesem Ausblick wird schon klar, dass es mit dem Blog weiter gehen kann und soll, selbst wenn es wohl keine Beiträge mehr direkt zum Herder-Institut der Karl-Marx-Universität geben wird. Aber Veröffentlichungen im Verständnis des Instituts werden nicht auf sich warten lassen. Oder doch?
Jedenfalls verstehe ich meine beiden Beiträge zu Lehr- und Lern-Materialien für die sprachliche Integrierung von Flüchtlingen in diesem Sinne, auch wenn sich das Herder-Institut nicht mit dieser Klientel einst befasste. Die kritische Auseinandersetzung mit einem kürzlich erschienenen Buch Alphabetisierung in der Fremdsprache Deutsch. Lehrmethoden auf dem Prüfstand in der Polemik „Im Anspruch wissenschaftlich, im Vollzug wohl eher nicht“ atmet den Geist der Forschungsabteilung des Herder-Instituts. Allerdings gilt jetzt das dort gegebene Wort: Löschmann wird sich zu aktuellen wissenschaftlichen Publikationen auf dem Gebiet DaF und DaZ nicht mehr äußern. Aber vielleicht raffen sich ja andere, jüngere DaZ- und DaF-Enthusiasten jenseits der landläufigen gelegentlich ideologisierten DaF- und DaZ-Glaubenssätze auf.

Schließlich möchte ich noch auf eine Frage kurz eingehen. Wie oft bin ich von nicht regelmäßigen Blog-Lesern und -Leserinnen gefragt worden, ob sich denn vor Jahr und Tag Angesprochene aus Zeiten der Wende zu Wort gemeldet haben. (Vgl. z.B. „Nur noch eine Frage an Frau Fix und Frau Wotjak sowie an Herrn Wenzel“ aus dem Jahre 2012) Auch im vierten Zwischenbericht muss die Frage leider verneint werden. Allerdings hat es, über x-Ecken erfahren, womöglich doch eine Reaktion gegeben. Indes wissend, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, habe ich dennoch das Gerücht aufgegriffen und es in „Endlich eine hoffnungsvolle menschliche Reaktion“ verarbeitet.

Ansonsten fällt mir nur noch Schopenhauer ein: „Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen.“

Im Anspruch wissenschaftlich, im Vollzug wohl eher nicht

2016 27. März
von Martin Löschmann

PrüfstandRuth Albert, Anne Heyn, Christiane Rokitzki, Frauke Teepker, Alphabetisierung in der Fremdsprache Deutsch. Lehrmethoden auf dem Prüfstand, Tectum Verlag 2015

Ja, ich gebe zu, ein mit Bedacht gegebenes Wort mit der folgenden Kritik zu brechen. In meinem Beitrag „Plädoyer für Deutschunterricht für Asylbewerber, nicht aber für den ‚Deutschkurs für Asylbewerber‘“ versprach ich, mich nicht mehr kritisch zu irgendwelchen Publikationen auf dem DaZ/DaF-Gebiet zu äußern. Doch das oben genannte Werk kommt so haarsträubend, so widerspruchsvoll, so irreführend daher, dass es mich einfach übermannt hat, noch einmal zur Tastatur zu greifen, auch deshalb, weil es mir wie eine ‚Irreführung der Behörden‘ vorkommt.

Es ist wohl keine Frage mehr, dass der Spracherwerb entscheidende Bedeutung für die Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft hat. Sprachunterricht ist umso mehr gefor-dert, wenn in seinem Rahmen Alphabetisierung gefordert ist. Das dreijährige Forschungsprojekt „Alphamar“, das „mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ durchgeführt wurde, nimmt sich dieser speziellen Aufgabenstellung an und verdient allein dafür Anerkennung, zumal es zu wenig wissenschaftliche Untersuchungen auf diesem Gebiet gibt. Im Rahmen des Forschungsprojekts sind das Lehrwerk „Alphamar“, dazu ein Handbuch sowie Materialien, die im Internet zu finden sind, und vieles andere mehr entstanden. Die genannten Arbeiten und Materialien sind gewiss dazu angetan, die Alphabetisierung von Flüchtlingen zu unterstützen, solange wir es nicht besser wissen. Doch um diese unverzichtbaren Handreichungen der verschiedensten Art geht es hier nicht, sondern einzig und allein um das Buch „Alphabetisierung in der Fremdsprache Deutsch. Lehrmethoden auf dem Prüfstand“, das das erklärte Ziel verfolgt, Lehrmethoden für die Alphabetisierung auf den „Prüfstand“ zu stellen und „Empfehlungen zum Einsatz von geeigneten Methoden für eine besonders schwierige Unterrichtssituation auf einer empirisch abgesicherten Basis zu entwickeln.“ (S. 129) Schlussendlich wird festgestellt, dass das Ziel erreicht sei. Mitnichten. Weder werden die Methoden prüfbar beschrieben, noch ist der Prüfstand ordentlich geeicht.

Im Grunde genommen werden in diesem Buch noch einmal die sieben Methoden beschrieben, die wir aus dem 2013 erschienenen hilfreichen Methodenhandbuch zum Lehrwerk “Alphamar“ bereits kennen und sich neben anderen ( z. B. dem Spracherfahrungsansatz) bereits bewährt haben. Sie werden lediglich etwas anders arrangiert und sollen nun erprobt werden: „Phonetische Methoden“, der „Methodische Ansatz nach Maria Montessori“, „Lesen durch Schreiben“, „Silbenmethode“, „Morphemmethode“, „Rückgriff auf die Muttersprache“, „Spielerisches Lernen“.
Schon die bloße Aufzählung macht deutlich, dass hier ganz Unterschiedliches, gelegentlich auch unterschiedlich Reduziertes erprobt wird. Auf der einen Seiten erkennt man Methoden, die sprachlich, also durch den fachlichen Gegenstand, determiniert sind (z.B. „Phonetische Methoden“, „Silbenmethode“), auf der anderen Methoden allgemeiner Art („Spielerisches Lernen“, „Rückgriffe auf die Muttersprache“), die zunächst nicht spezifisch sind, bestenfalls insofern, als sie in Alphakursen spezifisch realisiert werden. Und dann haben wir noch den Ansatz/das Konzept von Montessori, das völlig herausfällt, allein schon deshalb, weil darin bestimmte Einzelmethoden integriert sind, z.B. die sogenannten „Phonetischen Methoden“. Wie also ließe sich der relativ komplexe Ansatz von Montessori mit den „Phonetischen Methoden“ vergleichen?
Diese werden überdies einseitig als synthetische Methoden bezeichnet. Im laufenden Text wird dann schnell klar, dass es sich dabei auch um analytische Methoden handeln muss. „In den Projektkursen wurde beim Einsatz der Phonetischen Methoden in verschiedenen Schritten das differenzierte Wahrnehmen (Geräusche, Laute, Interjektionen) geübt, das Zusammenset-zen und Unterteilen von Wörtern in lautliche Bestandteile, das Erkennen des Gleichklangs einzelner Wortteile…“. (S. 19f) Die analytischen Bestandteile sind unverkennbar. Es wäre hier folglich angebracht von synthetisch-analytischen bzw. analytisch-synthetischen phonetischen Methoden zu sprechen und sie als solche zu erproben. Wieso dann obendrein zu den phonetischen Übungen auch „schriftliche Übungen“ gehören, mag sich erklären, wer will. Auf jeden Fall sind gerade die eher analytisch orientiert. (Vgl. S. 23) Hier nun soll auf keinen Fall ein Streit um Begriffe entfacht werden, aber wenn man ein Untersuchungsdesign begründen und beschreiben will, sind Eindeutigkeit und größtmögliche Klarheit gefordert.
Hinzu kommt, dass ja keine der sieben Methoden, Montessori vielleicht ausgenommen, für sich genommen allein gültige Vorgehensweisen, keine „kurstragenden Methoden‘ darstellen können. Die Verfasserinnen allerdings tun so, als ginge es generell um solche allein selig machenden Methoden, die sie vergleichbar machen wollen im Dienste ihrer Untersuchungen. Wie anders ist zu verstehen, wenn bezogen auf das „Spielerische Lernen“ frappierend festgestellt wird: „Das Spielerische Lernen – per se ein methodischer Ansatz, der nur punktuell einsetzbar ist, – musste z.B. sehr stark um Elemente aus anderen Methoden erweitert werden, da man niemanden einen Unterricht zumuten kann, in dem nur gespielt wird. (Traun fürwahr!! – ML) Damit ein Vergleich der Wirkungsweisen überhaupt möglich war, wurde in anderen Methoden weitestgehend auf spielerische Elemente verzichtet, auch wenn sie der Methode entsprachen.“ (S. 15f.) Meine Güte, wer käme denn sonst wohl auf die Idee, das Spielen zu einer kurstragenden Methode aufzubauen. Wozu diese Zwangsjacke, und was wird nun beim „Spielerischen Lernen“ realiter untersucht bzw. erprobt? Dies darzustellen wäre umso dringlicher gewesen, als es in der Vergangenheit „in empirischen Studien“ nur „ansatzweise“ gelungen sei, „die Effektivität von Lernspielen nachzuweisen“, worauf die Autorinnen dankenswerter-weise selbst hinweisen (S.73). Und wie kann man „Spielerisches Lernen“ in der Darstellung des Lernfortschritts (vgl. Abb. 75, S 105) z.B. mit der Silbenmethode vergleichen, die auf jeden Fall eine Menge Spielpotential in sich trägt. Aber gut, das wurde ja zu Gunsten des „Spielerischen Lernens“ offensichtlich bewusst bei der Anwendung dieser Methode herausgeschnitten. Die Silbenmethode ohne spielerische Elemente scheint mir jedoch irgendwie ruiniert, amputiert. Offensichtlich sind den Autorinnen beim Einsatz des „Spielerischen Lernens“ selbst Zweifel über ihr Vorgehen gekommen. Die werden aber schnell überwunden, indem gewissermaßen aus dem Nichts festgehalten wird, was quasi jedermann, sprich: Fremdsprachenlehrer und -lehrerin, weiß: „Die Erfahrungen … haben zumindest gezeigt, dass die Teilnehmer sehr viel Freude beim Spielen hatten und sich diese positiven Erlebnisse ins-gesamt günstig auf die Lernbereitschaft, die Lernmotivation, die Lernfreude, die Aktivität und das Kursklima auswirkten.“ (S.72) Bravo: Mehr geht nun wirklich nicht, auch wenn der konkrete sprachliche Ertrag unerwähnt bleibt.

Ähnlich problematisch verhält es sich mit dem „Rückgriff auf die Muttersprache“, die nicht als Methode, sondern als „methodisches Element“ geführt wird. (Vgl. S. 64) Im Reigen des undefinierten Untersuchungsinventars gibt es also auch ein Weiteres, ein methodisches Element, was immer das ist. Problematisch nur, weil es ja als Vergleichsgröße auftritt. (Vgl. dazu nur die Abb. 75) Zudem: Möchte man schon wissen, wie die Wirkung, der Effekt dieses „methodischen Elements“ ermittelt ist, wenn es nur sporadisch eingesetzt wurde, und überhaupt: wie sollen Erfolge des Rückgriffs auf die Muttersprache ermittelt werden? Ganz abgesehen davon, dass heute kaum jemand auf den Gedanke käme, den lernfördernden Bezug zur Muttersprache in Frage zu stellen.

Aber es wird noch bedenklicher, denn der Einsatz von Methoden erfolgt offensichtlich unabhängig von der Beschaffenheit des Lernstoffes. Der Inhalt scheint beliebig austauschbar. „In den zwei parallel laufenden Kursen wurde zum selben Zeitpunkt derselbe Lernstoff unterrichtet, doch wurde dafür jeweils eine andere Methode verwendet (latin square). Somit dienten die parallel laufenden Kurse einander jeweils als Vergleichskurse.“ (S. 16) Wie soll das nur gehen? „Latin square“ kann das Ungemach nicht wegzaubern, so hoch man mit diesem Verfahren in die Methodologie auch greift. Gewiss kann man einem Lernstoff mit unterschiedlichen Methoden beikommen, doch es gibt auf der anderen Seite Lernstoff, der ganz bestimmte Methoden erfordert. Klar: Silben, Rhythmusgefühl, lautes Lesen mit der Silbenmethode, aber Silben, lautes Lesen etwa mit der Morphemmethode? Funktioniert eher nicht. Überdies: Wenn der Montessori-Ansatz „auf den Lernstoff Deutsch als Fremdsprache für erwachsene Lerner sowie auf den für diesen Zeitraum vorgesehenen Lernstoff reduziert“ wird, (S.16), dann fragt man sich doch, was da von Montessori übrigbleibt. Und was genau wird vom gegebenen Ansatz erfasst und dann später kontrolliert und bewertet? Auf die bedeutende Rolle der Lerner bei der Wahl einer Methode will ich hier nur hinweisen, um Missverständnissen vorzubeugen.

Und die Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit bei der Erprobung geht weiter. „Diese methodischen Ansätze mussten so methodenrein wie möglich im Unterricht durchgeführt werden. Nicht immer war eine methodenreine Umsetzung möglich, da sonst bestimmte Elemente den nötigen Ablauf des Unterrichts und das Erreichen seiner Ziele gefährdet hätten“. (S. 15) Lassen wir ruhig dahingestellt sein, dass hier Ansätze mit Methoden gleichgesetzt werden, fragt man sich doch, wozu eigentlich sollte die jeweilige Methode ‚lupenrein‘ bzw. ‚methodenrein‘ erprobt werden? Die Erprobung von Methoden an sich ginge ja ohnehin nur unter Laborbedingungen, die aber mit Recht nicht intendiert sind. Man kommt indes nicht aus dem Staunen heraus, wenn man zugleich lesen muss, was dem Streben nach dem ‚Reinheitsgebot‘ ins Gesicht schlägt: „Für jede Methode stand eine Projektmitarbeiterin zu Verfügung, die sich in die Hintergründe und den Kern der Methode einarbeitete, die Methode für die Zielgruppe adaptierte und einen Leitfaden für den Kursleiter sowie die Konzepte für den Kurs schrieb.“ (S.17) Widerspruchsvoller geht’s nimmer, und man möchte schon wissen, was denn nun eigentlich bei der jeweiligen Methode erprobt und bewertet wird. Das umso mehr, als wir erfahren müssen, dass „eine der Lehrpersonen trotz mehrfacher Mahnungen nicht genau nach unseren Vorgaben methodenrein unterrichtete“ (S.119). Die Ärmste, womöglich hatte sie gespürt, welcher lupenreine Murks da von ihr verlangt wurde.

Das wissenschaftliche Projekt Alphamar stellt sich aber nicht nur durch das Vergleichen von zum Teil Unvergleichbarem in Frage, sondern auch durch die Rahmenbedingungen selbst. Da sind die vier kleinen Gruppen mit hoher Fluktuation und anderen Unwägbarkeiten, auf die die Autoren selbst ausführlich eingehen. Über einen so langen Untersuchungszeitraum (rund 16 Monate!) wechselten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, sodass sich auf diese Weise das Ausgangsniveau ständig änderte, auch die Kenntnis bestimmter Methoden und die Verarbeitungsstufe. Wahrscheinlich galt das auch für die weitgehend ins Dunkle gehüllte Vergleichsgruppe, bei der die Lehrpersonen „das Projekt und seine Materialien nicht kannten“ (S.16). Wenn man einen solchen ‚unabhängigen Kurs‘/Vergleichskurs heranziehen will, muss man zumindest mitteilen, wie dort unterrichtet wurde bzw. wird. Der Hinweis, dass in dieser Gruppe so „unterrichtet wurde“, „wie es an der VHS Frankfurt üblich war“, kann doch bestenfalls als salomonisch bezeichnet werden. Allerdings eine Bezugsgröße wird mitgeteilt: die „vergleichbare Zusammensetzung der Teilnehmer“ (S.17), und die ist ja bunt genug.
Die Buntheit der Zusammensetzung der Gruppen darf nicht ignoriert werden: „Einige Teilnehmer hatten bereits gute mündliche Kenntnisse, weil sie schon lange in Deutschland lebten und die Sprache regelmäßig anwendeten“ (S.13), „Einige Teilnehmer hatten in der Heimat bereits die Schule in einem normalen Umfang besucht, sodass sie die Schrift ihrer Muttersprache gut beherrschten.“ (S.14) Ebenfalls noch auf dieser Seite: „Andere Teilnehmer sind bereits über das Englische und Französische mit dem lateinischen Schrifttum in Kontakt gekommen.“ Kurzum, die Devise kann nur lauten: Hände weg von solcherart Untersuchungen, die den generellen Nutzen von bestimmten Methoden/Elementen anhand derart heterogener Gruppen ermitteln wollen und sollen. Homogenisierte Kleinstgruppen und entschieden kürzerer Untersuchungsdauer könnten ggf. eine ergiebigere Möglichkeit sein.

Denn selbst der zeitliche Einsatz der Erprobung scheint mir bedenklich. „Von der Stufe Alpha 3 an wurden in diesen Experimentkursen die o.a. sieben Methoden erprobt.“ (S. 13) Die sogenannten ‚Experimentkurse‘ setzen also ein, nachdem schon in den vorausgehenden Unterrichtsstunden (ca. 200) ein beachtlicher Teil der Alphabetisierungsarbeit erledigt worden war, Methoden wie die Phonetischen, auch die Silbenmethoden werden ja als Anfängermethoden geführt. Es ist also gut möglich/wahrscheinlich, dass die Erhebungen von dem Vorausgegangenen mitprofitierten.

Weil das Untersuchungs- bzw. Erprobungsdesign so vage und widersprüchlich formuliert ist, erspare ich mir, auf die Forschungsinstrumente im Einzelnen einzugehen, die für sich ge-nommen durchaus zielführend sein könnten, wenn exakt bestimmt worden wäre, worauf sie zielen und was genau gemessen wird. Allerdings will ich auf die folgende Bemerkung zu den Hospitationen nicht verzichten. Wer sein Leben lang, Hospitationen in der Aus- und Weiterbildung sowie zu Forschungszwecken begleitet hat, spürt, dass die auf den Seiten 98 ff. aufgeführten Schwerpunkte beim besten Willen nicht von noch so geschulten Hospitanten und Hospitantinnen bewältigt werden können, selbst wenn man einkalkuliert, dass heute multitasking angesagt ist. Ich nenne nur mal die Schwerpunkte, die bereits zeigen, dass Beobachtungskriterien zu applizieren sind, die überdies mit der Methodenerprobung nur zum Teil etwas zu tun haben: „Verhalten der Lehrperson“, „Verhalten der Teilnehmer“, „Spezifische Unterrichtsaspekte“, „Allgemeine Aspekte der Unterrichtsorganisation“, „Intervenierende Aspekte“, „Unterrichtselemente“. Ich habe die Kriterien nicht gezählt, wäre auch schwer machbar bei den allgemeinen Angaben, aber ich bin sicher, dass die Zahl 50 schnell zusammenkommt. Wenn man dazu in Betracht zieht, dass die Hospitation von „Hilfskräften, Praktikanten und Studierenden des Projekts“ durchgeführt wurden (S.17), müssen sich die Zweifel verstärken. Glauben die Verfasserinnen wirklich, dass von den Hilfskräften z.B. „der sichere Umgang der Lehrperson mit einer Methode“ festgestellt werden kann? Dazu gehört nicht nur Methoden-Kenntnis, sondern vor allem psychologisches Einfühlungsvermögen.
Es ist ebenso konsequent, wenn ich nicht näher auf Ermittlung und Messung des Lernfortschritts eingehe, Aber eine Probe soll nicht fehlen: „Lernzuwachs in der Orthografie“. Er war nach den Angaben am deutlichsten nach dem Einsatz der „Silbenmethode“ (+ 0.68) zu erkennen. Mit Abstand folgten die Methode nach Maria Montessori (+18) sowie das „Spielerische Lernen“ (+0,07).“ (S.103). Hier möchte man schon erfahren, wie oben schon angedeutet, was da von der Orthographie spielerisch vermittelt und geübt worden ist. Kaum vorstellbar, dass die Silbenmethode einen derart hohen Stellenwert bei der Orthographie einnimmt, wenn man im Auge behält, dass ein beträchtlicher Teil des Schreibwortschatzes einsilbig ist. Aber geschenkt, womöglich ist sie gezielt zur Überwindung der Skelettschreibungen (apikse), die allenthalben bei der Alphabetisierung festgestellt werden können, eingesetzt worden.
Die Autorinnen müssen wohl irgendwann selbst gespürt haben, dass sie weit übers Ziel schießen und relativierten ihr Ermittlungsergebnis, indem sie vor der falschen Schlussfolgerung aus ihrem Untersuchungsergebnis warnen, „dass man mit der Silbenmethode allein den erfolgreichsten denkbaren Unterricht gestalten kann“ (S.126). Doch wer käme auf einen solchen Gedanken, wo sich längst herumgesprochen hat, dass nur Vielfalt der verschiedenen Methoden in der Alphabetisierung zum Erfolg führt.

Fazit
Es sollte nicht Aufgabe dieses Beitrages sein, alle Widersprüche, Vagheiten und Ungereimtheiten der genannten Arbeit aufzuzeigen. Vielmehr konzentrierte ich mich auf eine kritische Betrachtung des Erprobungsdesigns einerseits und der Rahmenbedingungen für die Untersuchungen andererseits. Dabei kam ich zu der Erkenntnis, dass die erfolgreiche Anwendung der sieben Methoden aus „Alphamar“ durch die in dem Buch Alphabetisierung in der Fremdsprache Deutsch dargestellten Untersuchungen keineswegs empirisch abgesichert wird. Eine nachvollziehbare Absicherung scheitert vor allem (1) an einer machbaren präzisen Ziel- und Aufgabenstellung, (2) einer exakten Bestimmung der Vergleichsgrößen und (3) an den der jeweiligen Methode angepassten Messpunkten. Eingedenk dieser Schwachpunkte überrascht die umwerfende Erkenntnis der Autorinnen nicht, wonach „keine der Methoden sich“ in der „Erprobung als hilfreich für jeden Kursteilnehmer“ „und keine der Methoden sich als nutzlos für jeden Teilnehmer“ erwies. Soll die Botschaft heißen: Weiter so, und zwar mit „Alphamar“, weil nun Lehrwerk und Handbuch wissenschaftlich fundiert sind?

Weiter so? JA. Aber weniger aufgrund des hier kritisch betrachteten Werkes.

Bald nun ist wieder Jubiläumszeit

2016 2. März
von Martin Löschmann

Acht Hinweise zum Verfassen von Jubelreden aus Anlass kommender Jubiläen zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik und zur Feier blühender Landschaften im Osten Deutschlands

Erst kürzlich las ich in einem autobiografischem Roman, dass sich die DDR durch „eine ständige Erhöhung der Auslandsschulden verkauft“ habe, „was man allerdings so den regelmäßig erscheinenden statistischen Jahrbüchern nicht entnehmen konnte.“ Seit der Wende wird die These in Medien (ich schreibe nicht in den Medien!) kolportiert und von vielen Menschen auch so hingenommen. Steter Tropfen höhlt halt den Stein. Lange Zeit bin ich dieser falschen Behauptung selbst aufgesessen. Inzwischen weiß man es aber besser, die Auslandsverschuldung der DDR hielt sich in Grenzen. Durch die anregende, wenngleich gelegentlich zu ambitionierte Arbeit von Wolfgang Kühn und Klaus Blessing, Die zementierte Spaltung. (Originalausgabe edition Berolina, 2014) bin ich in vielerlei Hinsicht, was die DDR-Wirtschaft angeht, eines bedingt Besseren belehrt worden. Die Lektüre bestärkte mich darin, meine schon länger ins Auge gefassten Hinweise für künftige Artikel, Reden, besonders Jubiläumsreden, Polemiken, Essays, Erzählungen, Romane usw. über die DDR und ihren Anschluss an die Bundesrepublik aufzuschreiben. Es sind acht an der Zahl geworden.
Doch um nicht sofort in die Ecke der alten Unverbesserlichen, Besserwissenden, womöglich der Nostalgiker gesteckt zu werden, schicke ich voraus, dass meine Hinweise keineswegs die großen Schwächen der DDR-Wirtschaft verdecken wollen: die geringe Produktivität, die im Vergleich zu den alten Bundesländern in den neuen Bundesländern heute immer noch nur 75% erreicht, die ineffektive Wirtschaftsführung, vor allem die Planungsschwächen, die zu geringen Investitionen, der sinkende Außenhandelsumsatz in den letzten Jahren u.a.m. Kurzum, die DDR hatte keine Chance, aber sie nutzte sie. Die sie trotz alledem nutzen wollten, verdienen größte Anerkennung.
Hier nun meine Hinweise:

Vielleicht und zunächst mal ganz locker positiv herangehen, die Ausgangslage für Gründung und Entwicklung der DDR bedenken und so u.a. die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zwischen West- und Ostdeutschland ins Kalkül ziehen. (1)
Man mag über die schwierigen Ausgangsbedingungen im Osten lächeln, aber die DDR verfügte nun mal über so gut wie keine Schwerindustrie auf ihrem Gebiet, sie konnte nur im beschränkten Maße die unabdingbare internationalen Arbeitsteilung nutzen, die Energieträgerstruktur war mehr als bedenklich. Und bitte nicht den historischen Aspekt vernachlässigen, z.B. das Thema Reparationen aufrufen. Wie im Potsdamer Abkommen festgelegt, musste die DDR an die Sowjetunion viele Jahre (bis 1953) ‚zahlen‘. Damit meine ich auch die Demontage, besonders schwerwiegend für die Infrastruktur der Abbau von 6300 km zweiter Gleise. Die Westmächte hatten auf solcherart Reparationen früher verzichten können, nicht die Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges getragen hatte. Während die Bundesrepublik pro Person 23 Reichsmark aufbringen musste, betrug die Summe in der DDR je Einwohner 1.349. Um es einfach auszudrücken, die DDR trug die Hauptreparationslast für Gesamtdeutschland (zu mehr als 90 Prozent!). Einfach mal eine Dankeschön an die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -bürger einflechten.

Warum nicht mal zugeben, dass die Wirtschaft der DDR durchaus bemerkenswerte Leistungen erbrachte, die sich sehen lassen konnten, dass sie nicht durchweg marode bzw. bankrott war. (2)
Die DDR produzierte nicht bloß Meißener Porzellan und Klaviere, sondern auch Maschinen, die durchaus konkurrenzfähig waren: Werkzeugmaschinen, Walzwerk- wie Polygrafische Ausrüstungen, Reisezugwagen, Kräne, Chemieprodukte.
Nach einem Bericht des „Zentrum für Sozialökonomische Forschung Köln – Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950-89“ (2009) stieg das DDR-BIP auf das 6,5-fache je Einwohner, das der BRD dagegen nur auf das 4,5-fache (S.23f.) – trotz schlechterer Ausgangsbedingungen, hoher Reparationskosten, offener Grenzen, Wirtschaftsembargo, Währungsspekulationen usw. Dabei stieg das BIP der DDR kontinuierlich, wenn auch zu wenig. 1989 erreichte das Produktionsniveau in der DDR 12.700 Euro pro Kopf, in der BRD 22.500. Damit lag die DDR in diesem Punkte immerhin so etwa an 14. Stelle, vergleichbar mit Großbritannien, Italien, auf jeden Fall besser als Spanien, Griechenland, Portugal. (Vgl. S.36) Wie oben bereits klargestellt, die Arbeitsproduktivität blieb weit zurück. Da muss ein Generalverdacht der Marodisierung der DDR-Wirtschaft doch zu denken geben, zumal wenn man in einem Buch eines bekannten Professors der Harvard-Universität Folgendes liest: „On the basis of studies from consulting firms, including Arthur D. Little and McKinsey, the Ministries of Finance and Economics estimated in May that about 30% percent of the property would be profitable, about a half might be brought to profitability, and about 20 percent was too obsolete and non-competitive to rescue.“ (Charles S. Maier, Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany. Princeton University Press 1997, 293)
Also bitte nicht die üblichen Stereotypen aufwärmen, sondern sich umfassend informieren und ein differenziertes Bild der DDR-Wirtschaft entwerfen.

Warum nicht mal der Verschuldung der DDR nachgehen, um festzustellen, dass sie eigentlich relativ gering war. (3)
Verglichen mit der Verschuldung westlicher Staaten, die Bundesrepublik einbezogen, nimmt sich die Verschuldung der DDR geradezu armselig aus. Ein Beleg der Bundesbank widerlegt die Mär von der katastrophalen Verschuldung. Laut dieser Bank betrugen die Netto-Auslandschulden 19,9 Mill. VM, was von den Gläubigern nicht kritisch gesehen wurde, denn die Banken haben 88 und 89 der DDR Geld noch munter geliehen, aus welchen Gründen auch immer. Praktisch hatte die DDR 1989 keine Auslandschulden, denn den Schulden in den kapitalistischen Ländern in Höhe von 19,9 VM standen Schulden der sozialistischen Länder bei der DDR in Höhe von 23,3 Milliarden VM gegenüber. Keine Frage, die DDR war bis zum Schluss zahlungsfähig, also nicht pleite. (Vgl. S. 50) Nebenbei vermerkt, die Auslandsverschuldung Kubas beträgt gegenwärtig 12 Milliarden Dollar.
Natürlich darf man die Innenverschuldung nicht ausklammern. Sie betrug nach Aussage des damaligen Bundesfinanzministers Waigel 13% des Bruttosozialprodukts, in der BRD war sie sehr viel höher, heute beträgt sie bekanntlich über 80%. (Vgl. ebenda) Angesichts solcher nachprüfbaren Fakten empfiehlt sich schon eine ausgewogene Zurückhaltung bei diesem Thema.

Warum nicht mal darüber schreiben, in welchem Maße die Bundesrepublik die DDR-Wirtschaft gebremst hat, um die Boykott- und Embargopolitik euphemistisch zu umschreiben (4)
Man sollte nicht so tun, als habe die Bundesrepublik nicht zum Untergang der DDR beigetragen und das Leben der DDR nach Möglichkeit schwer gemacht – mit welcher Begründung auch immer. Ich führe hier nur ein Beispiel an, weil es mich auch persönlich betrifft, denn ich gehörte zu denen, die der Entwicklung mikroelektronischer Bauelemente in der DDR nur mit bitterem Galgenhumor begegneten. Damit reihte ich mich in die Gruppe derjenigen ein, von der es im oben angeführten Buch heißt: „Wer die Anstrengungen der DDR-Wirtschaft auf dem Gebiet der Mikroelektrik belächelt oder diskreditiert, sollte sich über die streng gehandhabten Embargo-Bestimmungen der Westmächte und besonders den USA sachkundig machen.“ (S. 40) Das eben hatte ich nicht getan, deshalb schrieb in noch im Entwurf meiner Memoiren: „Als Honecker kurz vor der Wende anlässlich der Herstellung eines 32-bit-Chips den vielzitierten und nicht nur von Kabarettisten immer wieder mit Recht aufgespießten Slogan zelebrierte: Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf, lautete mein Kommentar zu dieser ‚Großtat des Sozialismus‘: „In Hongkong spielen Kinder mit solchen Chips auf der Straße, jedenfalls behauptete ich das. Und fügte hinzu: Wie merkt man sich am besten den ersten PC der DDR? Indem man sich die Bezeichnung 1715 als Herstellungsdatum einprägt.“ Wenn die Passage schließlich auch der notwendigen Kürzung der Memoiren zum Opfer fiel, macht sie mir Sorgen. Wieso hatte ich nicht bedacht, dass die DDR zu kostspieligen Eigenentwicklungen gezwungen war, weil es ja die Embargolisten der CoCom gab? Liste I enthielt neben einem totalen Exportverbot für Waffen, Munition, Atomenergie auch die Computertechnik der neuesten Generation und Ausrüstungen für die Entwicklung und Produktion solcher Computer.
Meinetwegen sollen sich doch die Reden-, Artikelschreiber usw. über den aussichtslosen Kampf der DDR lustig machen, Anschluss an das westliche Entwicklungsniveau zu gewinnen. Das Bild vom Kampf gegen Windmühlen bietet sich dafür an, aber schon ein kleiner Hinweis auf die Zwänge, auf die Embargopolitik wäre ein Schritt in die richtige Richtung, um es neudeutsch auszudrücken.

Warum nicht einfach statt von Wiedervereinigung von Anschluss sprechen. (5)
1989 gab sich die Bundesrepublik völlig überrascht und sah sich vor eine ungeheure Heraus-forderung gestellt (ein heute noch strapazierter und deshalb völlig abgegriffener Begriff!). Dabei gab es ein „Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen“, 69 umbenannt in „BM für innerdeutsche Beziehungen“. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort haben doch nicht nur Däumchen gedreht. Eine Aufgabe war denen ins Stammbuch geschrieben, nämlich den Tag X vorzubereiten. Wie anders soll man das ungeheuerliche Zitat des ersten Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser 1951 verstehen? „Ein wahres Europa kann nur gebildet werden, wenn die deutsche Einheit wiederhergestellt wird. Sie umfasst, ich erinnere Sie da-ran, außer Deutschland (in den Grenzen von 1937) auch Österreich, einen Teil der Schweiz, die Saar und Elsaß-Lothringen.“ (Neue Zürcher Zeitung, 26. Januar 1952, Fernausgabe, Blatt 5, gefunden in Wikipedia). Natürlich wurde die Entgleisung später korrigiert, nicht jedoch das Ziel der Herstellung der deutschen Einheit im Rahmen einer „Roll-Back-Strategie“. Ein Dokument des Forschungsbeirates aus dem Jahre 60 zeigt, wie konkret man die Übernahme vor-bereitete: „Empfehlungen zur Einfügung der volkseigenen Industriebetriebe der SBZ in die nach der Wiedervereinigung zu schaffende im Grundsatz marktwirtschaftlicher Ordnung“. Dort ist beispielsweise bereits „Rückgabe vor Entschädigung“ festgeschrieben, was wohl eher für den Begriff Anschluss plädiert. Kein Geringerer als Schäuble hat das ganz klar ausgesprochen. „Ich musste Herrn de Maziere immer wieder darauf hinweisen, dass es sich um einen Anschluss handelt.“ (S. 144) In England notierte ich mir aus dem oben bereits zitierten Buch von Charles S. Maier eine Kapitelüberschrift „Anschluss and Melancholy“. Ich weiß, den Anschluss Anschluss zu nennen, ist eigentlich ein Tabubruch, aber wie anders soll man die faktische ‚Überstülpung‘ der politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR beschreiben? Na, ja, man könnte ja wenigstens mal über diesen Begriff laut nachdenken.

Warum nicht mal eingestehen, dass die Treuhand und die Währungsreform der DDR-Wirtschaft, die zweifelsfrei angeschlagen war, den Garaus machten. (6)
Es waren rund 8000 planwirtschaftliche Betriebe durch die Treuhandanstalt zu verkaufen. Deren Mitarbeiter waren gar nicht in der Lage, die Betriebe angemessen zu bewerten. Man frage doch mal nach, nach welchen Kriterien der Verkaufspreis damals ermittelt wurde. Da war es schon einfacher, die gesamte DDR-Wirtschaft für marode zu erklären und zu verramschen.
Man darf ja nicht vergessen, dass die DDR auch über Maschinen und Anlagen aus dem Westen verfügte, ganz abgesehen davon, dass Barbara Ostendorf in „Produktionsstrukturen des ostdeutschen Maschinenbaus in der Transformation“ (Opladen 1998: Leske + Budrich) zumindest den Werkzeugmaschinen der DDR ein bestimmtes Niveau bescheinigt. (S. 36)
Die Treuhand war auch nicht genügend in der Lage, die Solidität der Käufer zu beurteilen. So feierte die Vereinigungskriminalität Urständ im Osten. Es sei nur an den Investor Bremer Vulkan AG erinnert. Sie kaufte die Schiffsbauanlagen in Wismar und Stralsund sowie das Dieselmotorwerk in Rostock, erhielt obendrein EU-Geld in Höhe von 850 Millionen DM. Und was kam endlich heraus? Die AG wollte sich mit den Geldern sanieren, nichts wurde in die ehemaligen DDR-Betriebe investiert. Dennoch ging der ganze Konzern am Ende bankrott. Auf diese und andere Weise gingen der deutschen Wirtschaft schätzungsweise drei bis zehn Milliarden verloren.
Dass die Währungsunion ihren Anteil am Ruin der DDR-Wirtschaft hatte, wird niemand bestreiten. Gewissermaßen über Nacht wurden ihre Produkte so teuer, dass viele Betriebe ihre Waren nicht mehr loswurden. Hier hätte es gewissermaßen zum Anschub von Modernisierungen und Innovationen finanzieller Unterstützung bedurft. Die aber wurde u.a. aus Konkurrenzgründen nicht gewährt.
Wenn es die Spatzen jetzt nun schon von den Dächern pfeifen, dass die DDR-Wirtschaft nicht durchweg marode war und genug Bereicherungspotential für westdeutsche und ausländische Unternehmen bot, sollte man doch schon aus Anstand, die Dinge ein wenig komplexer und differenzierter betrachten. Genug Literatur dazu gibt es ja. Der Artikel aus der Welt vom 2.10.2010 „Wende in den Ruin“ ist in diesem Zusammenhang durchaus aufschlussreich. Man kann dort lesen: „Und bei der Privatisierung des ostdeutschen Volkseigentums witterten windige Unternehmer aus dem Westen das große Geschäft. Es gab viel zu erobern.“

Warum in seinen Reden nicht mal durchblicken lassen, dass man sich im Westen so richtig ins Fäustchen lachen konnte, weil die alten Bundesländer von dem Wiedervereinigung unter Anschlussbedingungen in Größenordnung profitiert haben. (7)
Wer hat nicht alles von der Vereinigung profitiert: Hauptgewinner natürlich die Konzerne, die 89 bis 92 den größten Vermögenszuwachs verzeichnen konnten, Handelsketten, Finanzinstitute, Aktiengesellschaften, Topmanager, Aufsichtsräte, höhere Beamte usw. Nach einer Untersuchung der Goethe-Uni in Frankfurt explodierte das Vermögen westdeutscher Haushalte in dieser Zeit auffällig. (Vgl. S. 65) Sie alle waren nicht darauf eingestellt, den ehemaligen DDR-Bürgern und -Bürgerinnen von ihrem Eigentum – denn wem gehörte das Volkseigentum wenn nicht ihnen? – etwas zukommen zu lassen. Der entsprechende Passus im „Einigungsgesetz“ las sich dagegen ganz hoffnungsvoll: „Nach Maßgabe des Artikels 10 Absatz 6 des Vertrages vom 18. Mai 1990 sind Möglichkeiten vorzusehen, dass den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung 2:1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann.“ (zitiert nach oben, S. 64, überprüft am Bundesgesetzblatt Teil, 1990/Nr. 35)
Meinem leider verstorbenen Schulfreund Rainer hatte ich meinen Anspruch, wie ich zugeben muss an einem abwegigen Beispiel demonstriert:
„Als wir an einem noch nicht rekultivierten Tagebau vorbeifahren, überrasche ich ihn mit der Frage: Weißt du, dass man beim Abbau Bernstein gefunden hat? Wie vieles andere hielt man in der DDR vor dem Volk geheim, dass man im Braunkohltagebau Goitsche bei Bitterfeld auf Bernstein gestoßen war und ihn seit den 70er Jahren systematisch abbaute. Nach der Wende wurde erstmals darüber berichtet. Ich wusste es lange davor. Ein Bergbauingenieur, mit dem wir gut bekannt waren und manche Fete durchstanden, glänzte mit seinem Wissen zu vorgerückter Stunde. In den Achtzigern hat man rund 50 Tonnen pro Jahr gewonnen. Die DDR-Pikanterie bestand nun darin, dass der sächsische bzw. mitteldeutsche Bernstein als Ostsee- oder Baltischer Bernstein vermarktet wurde, der war eingeführt, geschätzt, nachgefragt. Wenn es in Diskussionen um die DDR-Wirtschaft ging und geht, an der man sich angeblich nicht bereichern konnte, habe ich immer mit meinem Bernstein-Beispiel dagegengehalten. Bei der Übernahme muss doch ein großes Lager mit Bernstein ‚erobert‘ worden sein. Wo ist er geblieben, wer hat ihn sich angeeignet, wer hat ihn beiseite geschafft?“
Nachzulesen in meinen Memoiren. Nicht aufgeschrieben habe ich meine Forderung: Hätte nicht jeder DDR-Bürger wenigstens ein Stück Bernstein bekommen müssen? Bis heute bin ich der Meinung, es war nicht fair, das ‚DDR-Volk“ kurzerhand zu enteignen. Dabei will ich nicht verhehlen, dass die Vereinigung den ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern einiges an Lebensqualität gebracht hat und bringt, Demokratie und Freiheit obendrein. Wer wollte auch die Transferleistungen übersehen, die dem Osten zugutekamen und -kommen. Nach Tagesspiegel vom 8./9. April 2007 müssen die Transferleistungen allerdings relativiert werden:
„Die Schätzungen über den Gesamttransfer seit der Wende von West nach Ost reichen von 1,1 Billionen bis 1,5 Billionen Euro. Diese Zahlen sind zu hoch, weil darin Geldströme in die Sozialkassen berücksichtigt sind. Denn die Menschen im Osten sind häufiger arbeitslos oder krank, und der Anteil der Rentner ist höher. Zugleich gibt es weniger Jobs als im Westen.“ Hinzu kommt, dass nach dem DIW 1992 errechnet wurde: „Von 100 Millionen DM, die in die neuen Bundesländer für Ausrüstungen und Anlagen ausgeben werden, landeten fast 78% in den alten Ländern und im westlichen Ausland.“
Trotz aller dieser Umstände gibt es heute kaum jemand, der sich DDR-Verhältnisse insgesamt zurückwünscht. Nur im Vergleich zum Westen zeigen sich halt gravierende Unterschiede, die man nicht verschweigen sollte. So kann wohl nicht abgestritten werden, dass in Bezug auf die Industrieproduktion der Osten Deutschlands „nach 23 Jahren Aufbau Ost etwa das Niveau des Endjahres der DDR“ erreicht (Kühn/Blessing s.o., S. 61) Für die nach wie vor bestehenden Unterschiede (Wirtschaftskraft pro Einwohner, Löhne und Gehälter, Arbeitslosigkeit, Steueraufkommen u.a.m.) können wohl kaum noch das Volkseigentum und die generelle Misswirtschaft der DDR verantwortlich gemacht werden. Soll ich’s wagen und zum Vergleich auf China, Südkorea u.a. Staaten verweisen, die in diesem Zeitraum realiter ‚blühende Landschaften‘ entwickelt haben.

Wenn es um die Abwanderung von Millionen Arbeitskräften, von Fachkräften geht, sollte man nicht wenigstens aufzeigen, wem es nutzt und wem es schadet. (8)
Obwohl das Thema „Flüchtlinge“ in den Medien gegenwärtig überstrapaziert wird, kann ich nicht umhin, das ‚zweischneidige Schwert‘ zu sehen. Die vielen jungen Arbeitskräfte, die jetzt nach Deutschland kommen, fehlen doch in den Herkunftsländern. Das gilt erst recht für diejenigen, die in Deutschland und anderen entwickelten Ländern studieren und eben häufig nicht in ihre Heimatländer zurückkehren, besonders die nicht, die sich auf Grund ihrer Leistungen relativ leicht in Deutschland zu integrieren vermögen. Deshalb schreibe ich in meinen Memoiren, dass für mich am Herder-Institut der „Unterstützungsgedanke wesentlich“ war, der sich in der Verpflichtung zeigte, die ausgebildeten Fachkräfte möglichst schnell und gut aus-gebildet in ihre Heimatländer zurückkehren zu lassen. Damit widersetzte sich die DDR dem ‚Brain Drain westlicher Länder‘. Ich weiß, dass es heute nicht durchzusetzen ist, doch wenn man die ‚unterentwickelten‘ Länder wirklich entwickeln und den Flüchtlingsstrom eindämmen will, muss man sich etwas einfallen lassen, damit das Brain Drain gestoppt werden kann. Da kommt man wahrscheinlich nicht umhin, sich mit den Herkunftsländern zu verständigen. Es kann doch nicht sein, dass sich der Westen der wie auch immer Ausgebildeten einfach bedient, ohne wenigstens die Ausbildungskosten in den jeweiligen Herkunftsländern zu begleichen. Natürlich ist es ein humaner Gedanke, z.B. syrische Flüchtlinge in Deutschland zu qualifizieren mit dem Ziel, sie auf den Aufbau ihres zerstörten Landes vorzubereiten. Doch die wenigstens werden zurückkehren, weil für sie in Syrien in den meisten Fällen der Weg viel steiniger sein würde.
Der Verlust von gut ausgebildeten jungen Arbeitskräften war auch für die DDR ein schwer wiegendes Problem, worauf die Bundeszentrale für politische Bildung vom 30.3 2010 „Zug nach Westen – Anhaltende Abwanderung“ aufmerksam macht: „Für Staat und Gesellschaft der DDR war die soziale Zusammensetzung der DDR-Flüchtlinge ungünstig: Bevorzugt jüngere, gut ausgebildete Menschen, darunter viele Spezialisten wie Ärzte und Ingenieure, kehrten dem Land den Rücken. Diese soziale Ausdünnung durch Migration führte langfristig zu einer Überalterung der DDR-Bevölkerung … Ungefähr die Hälfte der Auswanderer – laut offizieller Sprachregelung des Regimes handelte es sich überwiegend um ‚Republikflüchtlinge‘ – war jünger als 25 Jahre. Es wird geschätzt, dass die DDR in den 50er Jahren etwa ein Drittel ihrer Akademiker verlor. (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47253/zug-nach-westen?p=all. Sicherlich ist es unter den Bedingungen der Konfrontation, des kalten Krieges verwegen zu denken, irgendwie hätte die Bundessre-publik die DDR für die auf deren Kosten ausgebildeten Fachkräfte zu entschädigen. Gut, die DDR ist Geschichte, aber die Flüchtlinge aus zu entwickelnden Ländern sind Gegenwart, bittere Gegenwart.
Überdies: Die 1,3 Millionen Menschen, die nach der Wende die neuen Bundesländer in Richtung Westen verlassen haben, darunter viele junge, fehlen selbstredend bei der Angleichung der neuen an die alten Bundesländer.
Acht Hinweise waren versprochen, acht habe ich geliefert. Gut denkbar, dass sich der eine oder andere Leser, die eine oder andere Leserin fragt, warum werden hier nur 8, nicht 10 Hinweise in Assoziation zu den 10 Geboten geboten. Zwei Antworten könnten sich gegebenenfalls einstellen: Zum einen ist dem Autor halt nicht mehr eingefallen, zum anderen könnte die ACHT als Aufforderung verstanden werden, die magische Zahl ZEHN zu erreichen. Welche Hinweise würden Sie denn potentiellen Jubiläumsschreibern an die Hand geben?

Die Mitläuferin

2016 2. Februar
von Martin Löschmann

Maschkecover1Sind nun wirklich aller guten Dinge DREI? Der autobiografische Roman „Die Mitläuferin“ könnte auch eine Antwort darauf sein. Jedenfalls liegt mit dieser Veröffentlichung aus dem Jahre 2015 eine dritte Arbeit vor, die sich mit dem Herder-Institut beschäftigt bzw. in der das Institut so oder so eine Rolle spielt. Im Blog findet sich unter der Überschrift „Ein ehemaliger Kommilitone und späterer Kollege des Herder-Instituts legt seine Memoiren vor“ eine Rezension zu Peter Zimmermann, Geschichte wird uns zugefügt. Ein Ostdeutscher erinnert sich an das 20. Jahrhundert. 10 Jahre später legte ich selbst als ein langjähriger Mitarbeiter des Herder-Instituts meine Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ vor. Kurz darauf oder doch schon vorher – auf jeden Fall im gleichen Jahr – kam der autobiografische Roman „Die Mitläuferin – Ein Leben in zwei Deutschländern“ von Astrid Zeven beim Verlag Tredition Hamburg heraus.

Während es sich bei Zimmermann und Löschmann um ausgemachte Memoiren handelt, kleidet Astrid Zeven (ein Pseudonym) ihr Leben in einen Roman, wählt den Weg der Fiktionalisierung ihres Lebens, das ihr das Schreiben einerseits leichter macht, andererseits schwerer, weil ästhetisch-literarische Überlegungen im Schreibprozess berücksichtigt werden müssen.

Dörte, die Protagonistin des Buches, gerät in eine lebensentscheidende Konfliktsituation, die zu einem Wendepunkt ihres Lebens wird und zugleich einen Spannungsbogen schafft. Sie verlässt – nicht mehr so weit vor der Wende – die DDR und kommt über Ungarn in die Bundesrepublik, entsprechend eines mit ihrem Ehemann bestens ausgeklügelten Planes, unbeschadet an. Ihr Gatte hatte als Invalide bereits mit Sohn Felix über einen legalen Weg die Republik verlassen können. Im Westen angekommen, besteht sie nach merklichen Anlaufschwierigkeiten, wie sie letztlich auch in der DDR bestanden hat, will schreiben, dass sie auf einem langen, durchaus spannenden Wege durch die zwei Deutschländer zu sich findet und sich eigenständig in der Bundesrepublik Deutschland einrichtet – übrigens auch deshalb, weil sie eine ähnlich gelagerte Arbeit wie in der DDR findet.
Den Großteil ihres Lebens allerdings verbrachte sie in der DDR, in der sie trotz aller schwierigen Lebensumstände zurechtgekommen war. Doch zunehmend wurde für sie und ihre Familie das Leben in diesem Teil Deutschlands aus den verschiedensten Gründen unerträglich, so dass letztlich der Knoten platzt.

Damit reiht sich der Roman ein in die Fülle der Erzählwerke, die Biografien, Schicksale, Konflikte zwischen Ost und West gestalten. Während in nicht wenigen dieser Werke Schwarz-Weiß-Malereien, die Ungleichverteilung von Gut und Böse darin unübersehbar sind, bemüht sich Astrid Zeven um eine möglichst unverstellte Darstellung ihrer Protagonistin sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik. So wird die Bundesrepublik als Sieger in Bezug auf den ‘Anschluss der DDR‘ bezeichnet und vom ‚Raubtierkapitalismus‘ gesprochen. Gerade weil die Heldin Problemlagen offen und nicht einseitig anspricht, gewinnt sie an Authentizität. Dass sie den Ostteil Deutschlands letztlich verlässt, muss natürlich zwangsläufig zu einer kritischeren und gelegentlich undifferenzierten, pauschalierenden Betrachtung der auf das Ende zulaufenden DDR und zur Idealisierung der Bundesrepublik als dem Land der Freiheit führen. Diese in vollen Zügen genießend, lässt sie sich allerdings nicht daran hindern, neben beglückenden auch bittere Erlebnisse und Erfahrungen in der neuen bayrischen Heimat mitzuteilen. Vielleicht zu umreißen mit den Stichpunkten: ein zu beobachtendes erlöschendes Desinteresse an den ‚Brüdern und Schwestern im Osten‘, eine gewisse soziale Kälte, vor allem aber die Wiederbegegnung mit einem überwunden geglaubten Frauenbild.

Für den Rezenten gewinnt dieser Roman insofern zusätzlich Brisanz, als die Heldin Dörte einen Teil ihrer Arbeitsjahre an einem Sprachinstitut in Leipzig verbringt, das trotz einiger kaum merklicher Verwischungen für mich unverkennbar das Herder-Institut sein soll. Da es von ihr nicht so benannt wird, hat sie natürlich alle Freiheit der Welt, ganz im Sinne Georges Simenons Feststellung, wonach er seinen autobiografischen Roman als ein Genre bezeichnet, in dem «alles wahr ist, ohne dass irgendetwas genau stimmt». Ganz so krass verfährt die Autorin nicht, denn die meisten Details stimmen schon.

Dörte wird also, von einer Fachhochschule kommend, am Sprachinstitut, im Klartext am Herder-Institut der Karl-Marx-Universität, mit dem Ziel eingestellt, in der Abteilung Ausbildung zu unterrichten. Da sie Germanistik und Anglistik studiert und bereits Erfahrungen in der Arbeit mit ausländischen Studierenden gesammelt hat, ist sie geradezu prädestiniert dafür. Am Institut, das in dieser Zeit enorm expandierte, kann sie sich mit den Zielstellungen identifizieren und setzt sich folglich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Verwirklichung der explizit benannten Ziele engagiert ein. Dass sich Dörte niemals mit dem Erreichten zufrieden gibt, zeigt z.B. ihr Mitwirken in den Internationalen Hochschulferienkursen für Germanistik, die von der Forschungsabteilung des Herder-Instituts im Auftrage der Universität jeweils im Sommer ausgerichtet wurden und an denen Germanisten und Deutschlehrer aus aller Welt teilnahmen. Nur die fachlich Besten aus der Ausbildungsabteilung wurden dazu ausgewählt, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsabteilung nicht ausreichten, die sprachpraktischen Übungen zu bewältigen. Eine anerkannte Position zu erklimmen, ist für Dörte Lebenselixier.
„Hauptsächlich in den Sommermonaten fanden die Internationalen Hochschulferienkurse für ausländische Germanisten und Deutschlehrer statt. Während in der Studienvorbereitung vorwiegend Studenten aus Entwicklungsländern ausgebildet wurden, trafen sich in den Sommerkursen Menschen aus der ganzen Welt, besonders aus den USA und Schweden, an der Universität. Das vor allem anderen machte die Arbeit so spannend und ließ die dort arbeitenden Hochschullehrer das Eingesperrtsein nicht so krass empfinden wie viele ihrer Landsleute. Man konnte andere Kulturen, andere Lebensweisen kennenlernen, was den Horizont über den in der DDR erlebbaren ungeheuer erweiterte.“
Sehen wir mal von dem Detail ab, dass statistisch gesehen Germanisten und Deutschlehrer aus den USA keineswegs eine Spitzenposition einnahmen, fehlt aus meiner Sicht die wesentliche Information, dass es in diesen Kursen um Fortbildung vor allem auf den Gebieten: Landeskunde, Linguistik, Literatur, Didaktik ging. Ich vermute mal, dass die Protagonistin die Sparte Literatur und Landeskunde vertrat. Außerdem stimmt auch nicht, dass Hochschullehrer, das waren und sind auch heute Professoren und Dozenten, dort tätig waren, sondern vor allem waren das Sprachlektoren, Lehrer im Hochschuldienst u.a., die zum akademischen Mittelbau gerechnet werden. Nicht zu übersehen überdies, dass nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich „eingesperrt“ fühlten, weil ja ein wenn auch geringer Teil von ihnen zu wissenschaftlichen Veranstaltungen, als Gastdozenten und Auslandslektoren auch ins NSW, also ins ‚nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet‘ reisen durfte. Dörte, nicht promoviert, konnte nicht Hochschullehrerin sein, jedenfalls nicht in der realen Universitätswelt früher wie heute.
So manches, was über das Sprachinstitut im Roman mitgeteilt wird, deckt sich mit dem, was z.B. in den „Unerhörten Erinnerungen“ zum Herder-Institut und in diesem Blog dargestellt ist: die humane Aufgabenstellung in ihrer Vielseitigkeit, der offene Geist, die Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit der Ausbildungsbestrebungen, die Kollegialität:
„Die Tätigkeit an diesem Institut bedeutete für Dörte viel mehr als ein Karrieresprung. Toleranz, etwas Weltoffenheit und Gelassenheit erzwangen sich hier, vor allem auch deshalb, weil die vielfältigen Kontakte mit Kollegen aus dem anderen Deutschland es nicht zuließen, eine allzu primitive Ideologisierung, wie ansonsten im DDR-Alltag üblich.“
Traun fürwahr! Was allerdings die „vielfältigen Kontakte mit Kollegen aus dem anderen Deutschland“ betraf, könnte dieses Zitat einen falschen Eindruck vermitteln; denn gerade sie waren fast bis ans Ende der DDR unsinnigerweise äußerst eingeschränkt. Geradezu manisch das offizielle Gebot: nur keine deutsch-deutsche Zusammenarbeit. Dänische, finnische, englische, französische, italienische Kolleginnen und Kollegen genossen da schon offiziell einen höheren Grad der toleranten Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Der Roman versprachlicht natürlich nicht nur einige bekannte Gegebenheiten im Institut, sondern gewährt neue kritische Einblicke aus Dörtes Romanperspektive: Beispielsweise die Arbeitseinsätze von Kolleginnen und Kollegen in den Internaten für ausländische Studierende. Keine Erfindung der Verfasserin. Die Wohnstätten, die Internate in Leipzig waren in der Tat ein großes Sorgenkind. Da vonseiten der Universitätsleitung zu wenig getan wurde bzw. getan werden konnte, organisierte die Institutsleitung eine Selbsthilfe, die Dörte schon an ihrem ersten Arbeitstage kennen lernte und relativ gelassen, fast heiter hinnahm.
„Im Internat angekommen, wurde sie sogleich einem Kollegen an die Seite gestellt, der die Zimmer neu tapezierte. Nun hatte Dörte zwar früher schon ihrem Vater beim Tapezieren geholfen, war bei ihm jedoch immer nur Hilfsarbeiterin gewesen. Von dem Kollegen lernte sie perfekt tapezieren, was sich bei der Renovierung der eigenen Wohnung als sehr nützlich herausstellte.“
Das Beispiel verdeutlicht, wie zupackend Dörte ist. Was sein muss, muss sein, ganz gleich in welchem Gesellschaftssystem. Und sei es der Eintritt in die SED. Was sie aus Sicht der Autorin offensichtlich zur Mitläuferin macht. Das Tapezieren von Internatszimmern durch Lehrkräfte hätte eigentlich nicht sein müssen, aber so war nun mal die DDR-Realität, die ungeschönt ins Visier genommen wird. Dörte steht also ihre Frau, wo auch immer sie ist. Energisch, zielstrebig, entschlossen begegnet sie uns. Im heutigen Sprachgebrauch: eine ‚Power-Frau‘, die schon mal „20 doppelte Korn“ verträgt! Sie weiß fast immer, was sie will, emanzipiert wie sie ist. Dabei kann es schon passieren, dass sich das Ego vordrängt und die Sache und die agierenden Menschen in den Hintergrund geraten, zumindest recht undifferenziert betrachtet werden. Sie bleiben namenlos.
So könnte man sich fragen, wieso sie bei ihrem Anspruch an das Leben, ihrem Wissensdrang und ihrer Wertschätzung der Bildung anderer nicht an ihrem Sprachinstitut die einst beabsichtigte Promotion ernsthaft in Angriff nimmt. Um sie herum gab es doch realiter durchaus nachstrebenswerte Beispiele, zumal Promotionen besonders von Mitarbeiterinnen im Rahmen von Aspiranturen und Freistellungen energisch gefördert wurden. Im gegebenen Fall wäre sie möglicherweise in der Forschungsabteilung gelandet und hätte nicht die für sie bitteren Erfahrungen im sogenannten ‚Libyerkurs‘ machen müssen, die offensichtlich wesentlich ihren Fluchtgedanken bestärkten. Na gut, das wäre ein anderer Roman geworden!
„Mitte der achtziger Jahre sollte eine Gruppe aus Libyen am Institut eine Ausbildung in der deutschen Sprache erhalten. Der Kurs wurde sehr gut bezahlt. Geld spielte für Gaddafi keine Rolle, und so wurde ein extra Bereich für diese Teilnehmer eingerichtet, in dem Dörte eingesetzt wurde.“
Um möglichst viele Valuta-Zahler möglichst lange bei der Stange zu halten, wurden die betreffenden Lehrkräfte offensichtlich angehalten, besonders bei älteren Teilnehmern, die große Schwierigkeiten beim Spracherwerb hatten, ein oder gar zwei Augen zuzudrücken. Mit Recht ist Dörte „konsterniert“ und lehnt dieses Ansinnen innerlich ab, nach außen hin sieht sie sich jedoch gezwungen, „die Kursanten von Stund an nicht mehr korrekt“ zu benoten, sondern „mehr oder weniger nach deren Wünschen.“ Wiederum ein Beweis ihrer Mitläuferschaft.

Noch einmal: Die Tatsache, dass in dieser Rezension die Betrachtung des Sprachinstituts alias Herder-Institut einen relativ breiten Raum einnimmt, darf nicht dazu führen zu glauben, Dörtes Arbeit und Arbeitsstätten seien im Romangeschehen zentral. Im Gegenteil die jeweiligen Arbeitsfelder werden kaum beschrieben, gegebenenfalls aber auch mal erweitert. So hat ihr Sprachinstitut z.B. im Ausland Dependancen und das Recht, direkt Auslandslektoren und -lektorinnen ins Ausland zu delegieren, vergleichbar mit dem Goetheinstitut. Das nun war beim Herder-Institut nicht der Fall, solches wurde durch die entsprechenden Stellen im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen erledigt.

Das Stilmittel der Realitätsverwischung zeigt sich auch bei der Beschreibung des Wirkens ihres Ehemannes an der Uni Leipzig. Auch hier bleibt einiges abstrakt nebulös, womöglich aus der bangen Erkenntnis heraus, wen interessiert schon die geisteswissenschaftliche Arbeit eines angehenden Wissenschaftlers. So erfährt der Leser, Götz beschäftigt sich mit Lateinamerika, löckt politisch-ideologisch wider den Stachel, weicht von den Vorstellungen seines Betreuers vehement ab, was seinem Bleiben abträglich ist. Im Gegensatz zu Dörte kein Mitläufer, sondern eher ein ‚Gegenläufer‘, wenn es dieses Wort gäbe. Trotzdem findet er dann ‚im Westen‘ keine ihm angemessene Arbeit, geschweige denn die Möglichkeit, seine wissenschaftlichen Untersuchungen fortzusetzen. Oder hatte er sich mit seinem Weggang auch von seinen wissenschaftlichen Ambitionen verabschiedet? Götz Weseloh, ehemals Schmied, ist nun der Mann, der endlich Dörtes hohen geistigen, lebenspraktischen, sexuellen Ansprüchen und Anforderungen an Männer entspricht und zunehmend ihr Leben mitbestimmt, so dass besonders in dem Teil, der in den alten Bundesländern spielt, das WIR deutlich hervortritt, beginnend vielleicht mit dem DDR-Abkopplungsprozess Mitte der 80er Jahre.
Da kommt auch die Schilderung seines Treppensturzes, hier lassen wir uns unbemerkt in einen ‚Action-Film‘ hineinziehen. Götz greift nach reiflicher Beratung mit seinem Freund zu einem letzten Mittel, „dem Umstand, dass er aus dem Verkehr gezogen werden sollte, zuvorzukommen. Deshalb sollte er sich am Ende seiner Vorlesung die Treppe hinabstürzen und würde aufgrund dieses UNFALLS nicht für die Abstrafung durch die Partei zur Verfügung stehen. Zeit gewinnen war die Devise!“ Wie vermag eine liebende Frau zuzustimmen, dass sich ihr Mann bestenfalls absichtsvoll zum Krüppel stürzt, um der Bestrafung durch die Partei zu entgehen, die letztlich „nur“ den Parteiausschluss und damit den Verlust der Arbeitsstelle nach sich ziehen kann. Schlimm genug, aber rechtfertigt dies sein Leben aufs Spiel zu setzen, zumal ja auf keinen Fall gar mit einer Verhaftung gerechnet wird. Immerhin muss er drei Wochen im Krankenhaus bleiben. Da hätte doch einiges schiefgehen können. Auf andere Ungereimtheiten dieses Vorfalls will ich gar nicht verweisen: doch noch auf den Hochschulwechsel danach. Was will ein Lateinamerika-Experte, allerdings ohne abgeschlossene Promotion, an einer der Pädagogischen Hochschulen, die, ich möchte hier kein Klischee bedienen, doch keineswegs weniger ideologisch verkrustet in der DDR-Realität daherkamen. Und die neuen „freundlichen Kollegen, die auch des Öfteren Krankenbesuche bei ihrem neuen Mitarbeiter zu Hause machen.“ Obwohl sie ihn doch höchstwahrscheinlich gar nicht kennen. Was für eine schöne heile DDR-Welt!

Astrid Zeven erzählt ihre Geschichte unaufgeregt und auch weitgehend die ihres Mannes, immerhin wird sein Vorname über 400mal erwähnt, und natürlich die ihrer drei Kinder, die sich in den bewegten Zeiten auch durchzusetzen wissen. Letztlich alles Erfolgsgeschichten. Gelegentlich ausufernde Beschreibungen und Reflexionen werden meistens wieder durch den gewählten Erzählmodus eingefangen.(Vgl. z.B. die an sich lesenswerte Beschreibungen der bizarren Insel Hiddensee) Sprachlich liest sich der Roman gefällig, auch deshalb, weil sich die Autorin um eine klare, den beiden Haupt-Protagonisten angemessene Sprachgestaltung bemüht. Den heiteren Grundton spürt man allenthalben und ist erfreut. An manchen Stellen allerdings wäre eine differenziertere Sprachgestaltung angebracht. Was ist zum Beispiel nicht alles nett oder schön? (ein Mann, den Dörte nett fand, eine Ehefrau, die lieb und nett ist, ein schönes Zimmer bei einer netten Frau, der Verantwortliche war sehr nett, der Arzt war ausgesprochen nett, ein netter, anständiger junger Mann, das war vergleichsweise sehr nett, sie hatte sehr nette Kollegen, es ergab sich ein nettes Gespräch usw. Das Wort schön kommt allerdings noch öfter vor, wunderschön eingeschlossen.)

Fazit: Wer an charakteristischen Biografien, wie sie in den letzten 50 Jahren in Deutschland gelebt und nach der Wende geschrieben wurden, interessiert ist, dem kann man den Roman „Die Mitläuferin“ nur empfehlen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Autorin einen modernen autobiografischen Roman geschrieben hat, der reflexive und kritische, epische und autobiografische Passagen vereint und obendrein eine eigene Interpretation des allgemein pejorativ verwendeten Begriffes ‚Mitläuferin‘ gestaltet. Eine liebenswerte Mitläuferin. Der Rezensent hat den autobiografischen Roman jedenfalls mit großem Interesse gelesen. Wenn man dem durchaus erfolgreichen amerikanischen Schriftsteller David Shields vertrauen darf, ist unsere Kultur heute von einer Sehnsucht nach Authentizität geprägt. Astrid Zeven liefert sie.

(Vorletzter Absatz am 4. Februar 2016 geändert – ML)

Leseprobe

Opa, du bist doch gar kein richtiger Doktor!

2016 27. Januar
von Martin Löschmann

Zu den in letzter Zeit häufig angeklickten Beiträgen gehören solche, die sich mit Plagiaten in Dissertationen von Politikern befassen: „Martin, hast du bei deiner Doktorarbeit auch was abgeschrieben“ und „Besten Dank, Frau Dr. Schavan“. Könnte es sein, dass Surfer oder Surferinnen erkunden wollten, ob im Blog etwas zu dem letzten prominenten Fall geschrieben wurde.
Ja, es wurde, aber nur in Gestalt eines Kommentars vom 27. Sept. des vergangenen Jahres. Doch um zu dem Fall der Bundesministerin von der Leyen zu gelangen, muss man sich durch eine Vielzahl von Kommentaren durchrangeln. Ich bezog mich dabei auf SpiegelOnline vom Samstag, dem 26. Sept. 2015. Inzwischen habe ich auch den ausführlichen Spiegel-Beitrag „Der Röschenkrieg“ (Nr. 41/2.10.15) gelesen, der mich zu drei Überlegungen führte:
1) Offensichtlich ist kein Ende der Plagiatsvorwürfe und der Aberkennung von Doktortiteln besonders von Politikern abzusehen, auch wenn von der Leyen ihren behalten sollte. Aber wenn die von Vroni Plag beanstandeten Stellen wirklich „44 Prozent der gesamten Arbeit“ ausmachen, wäre das für mich ein ausreichender Grund, die Doktorarbeit in Frage zu stellen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass Frau Dr. von der Leyen in ihrer Arbeit einen selbständig erarbeiteten experimentellen Teil aufzuweisen hat.

2) Man kommt schon ins Staunen, wenn man erfährt, dass die Arbeit nur 62 Seiten umfasst. Das ist ja bestenfalls der Umfang von Master-, früher Diplomarbeiten. Im Vergleich zur Universität Würzburg, wo lange Zeit eine Maximallänge von nur 40 Seiten für medizinische Doktorarbeiten gefordert war, ist Frau von der Leyens Arbeit geradezu opulent. Dort bekam zum Beispiel eine Zahnmedizinerin 2002 mit einer gerademal 24 Seiten langen Dissertation den Titel. (Vgl. SpiegelOnlineUnispiegel). So etwas ist nun in der Tat nur bei den Medizinern möglich. Mein Leben lang habe ich mich gefragt, wie es möglich sein kann, dass so viele Medizinstudenten den Doktortitel in kürzester Zeit erwerben. Nicht selten werden die Dissertationen in wenigen Monaten ‚zusammengestoppelt. Das war in der DDR nicht anders. Während sich Doktoranden in der Germanistik, Anglistik, Geschichte, Psychologie und anderen sog. Geisteswissenschaften 3,4,5 Jahre schinden müssen, schaffen die Mediziner ihren Doktor innerhalb eines Jahres, nicht selten sogar parallel zum Studium. Rund 80% der Medizinstudierenden promoviert. Ich denke, es ist nicht so unfair, wenn man in akademischen Kreisen von ‚Dünnbrettbohrern‘, ‚Flachbohrern‘, ‚Doktor Schmalspur‘, ‚Türschildforschung‘ usw. spricht. Was im Rückschluss natürlich keineswegs heißt, dass der Vorwurf alle promovierten Mediziner beträfe.
Die Misere mit dem medizinischen Doktor in Deutschland ist sogar dem Europäischen Forschungsrat (European Research Council) aufgefallen. Danach ist der Dr. med. nicht mit Promotionen anderer Länder gleichzustellen: „Deutsche Mediziner, die sich um Fördergeld der EU-Institution bewerben, müssen deshalb ihre wissenschaftliche Eignung gesondert nachweisen. Für alle anderen reicht die Promotion.“ (SpiegelOnlineUnispiegel)

3) Und jetzt kommt mein Enkel ins Spiel. Eines Tages sagt er doch zu mir: „Opa, du bist doch gar kein richtiger Doktor.“ Für ihn war nur der ‚Onkel Doktor‘ ein richtiger Doktor. In der alltäglichen Kommunikation ist die Gleichsetzung von Doktor und Arzt einfach gegeben. Der Arzt wird mit Doktor angesprochen: „Der Doktor ist im Moment beschäftigt“, sagt die Krankenschwester. Der Doktor wird als Titel weniger als akademischer Grad, was er ja ist, aufgefasst. Wer im Krankenhaus einen weißen Kittel trägt, wird mit Herr Doktor angesprochen. Einem Arzt, der keinen Doktortitel trägt, begegnen Patienten nicht selten skeptisch, weil eben der Titel in der Medizin enorm prestigesteigernd ist. Können Sie sich einen Chefarzt oder gar eine Chefärztin ohne Doktortitel vorstellen? Da der Doktorgrad in der Medizin seit Jahrhunderten so stark verwurzelt ist, wird man ihn schwerlich abrupt abschaffen und ihn nur in dem Fall verleihen können, wo eine wissenschaftliche Arbeit wie in den anderen Disziplinen auch vorliegt. Dahin muss aber die Reise gehen. Nur diejenigen, die die Schmalspur verlassen, erhalten den Titel Dr. med., die anderen und dazu zählte auch Dr. von der Leyen, hätte sie nicht so arg plagiiert, bekämen für ihre über den normalen Medizin-Abschluss hinausgehende Arbeit den sogenannten medizinischen Doktor (MD) wie an angelsächsischen Universitäten, natürlich nicht für hingeschluderte Arbeiten.

Das Perfekt nicht perfekt

2016 14. Januar
von Martin Löschmann

Nach langer Zeit habe ich selbst mal wieder unterrichtet – vertretungsweise fünf Stunden, denn die Personalnot war an dem Tage groß am Institut, bedingt durch Willkommenskurse für Syrer.

Einzuführen in dem Integrationskurs X war u.a. das Tempus: Perfekt – eine recht komplexe Struktur, zu deren Einführung und Einübung vor Jahr und Tag hier und da von mir schon didaktisch-methodische Überlegungen theoretischer wie auch ganz praktischer Natur angestellt worden waren.
Bisher bewegten sich die Lernenden der zu unterrichtenden Gruppe sprachlich in der Gegenwart: Ich bin krank, ich gehe zum Arzt. Endlich wird gelernt – und aus gutem Grund hier schon relativ früh – Vergangenes, Zurückliegendes auszudrücken. Das Perfekt macht’s möglich. Auch das Präteritum kann dazu dienen: Ich kam 2014 nach Deutschland. In der mündlichen, der dialogischen Kommunikation verwenden wir (außer bei den Hilfs- und den Modalverben) jedoch vorrangig das Perfekt: Ich habe gestern endlich einen Termin bei der Ausländerbehörde bekommen. Und die kommunikative Orientierung bleibt richtungsweisend, erst recht in Integrationskursen, so dass nicht die strukturell einfachere Vergangenheitsform, das Präteritum, sondern das Perfekt gelernt wird.
Die übermittelten Angaben zur Gruppenlernsituation (erreichtes Sprachniveau, Muttersprachen der Lernenden usw.) im Kopf schlage ich das verwendete Deutschlehrbuch auf: Schritte plus 1, Kursbuch + Arbeitsbuch, Niveau A2/1, Lektion 7, letzte Lektion. Ismaning: Hueber, 2010. Obwohl ich das Lehrbuch in Umrissen kenne, erlebe ich bei der Vorbereitung eine didaktisch-methodisch motivierte Überraschung: Die komplexe grammatische Struktur Perfekt ist in einer Lektion weitgehend zusammengepfercht. Das kann doch nicht wahr sein, haben die (gemeint sind die Lehrbuchautoren und -autorinnen) nichts von lernpsychologen, linguistischen, kommunikativen Progressionen, von Proportionierung der Lernschwierigkeiten, vom Prinzip der einzigen Schwierigkeit gar, vom Leichten zum Schwierigen gehört? Oder gilt das alles nicht mehr? Gibt es womöglich neuere und neueste Erkenntnisse, belastbare Untersuchungsergebnisse, die Progressionen in Lehrwerken als vernachlässigbar erscheinen lassen?

Was ist in dieser Lektion an Grammatik alles zu lernen? Neben den Modalverben können und wollen das Perfekt im fast vollen Umfange. Dabei in Präsentations- und Übungsaufwand beides nahezu gleichgestellt, obwohl leicht zu erkennen, dass der Lernaufwand schon auf den ersten Blick hin recht unterschiedlich ist. Aber gut, das mag bei den Modalverben noch hingehen, keinesfalls jedoch beim Perfekt, denn da wird verlangt, erst einmal die neue Zeitform mit ihrer Funktion und dann die Bildungsweise: haben + Partizip (II) zu erfassen (1). Da die Bildung der Partizipien bekanntlich nach einer vielköpfigen Regel erfolgt, je nachdem, ob es sich um sog. starke oder schwache Verben handelt, sodann diese Regeln (2): Sie hat gut geschlafen – Er hat Radio gehört. Und zu guter Letzt werden ja die Verben der Bewegung nicht mit ‚haben‘, sondern mit entsprechenden Formen von ’sein‘ gebildet (3): Ich bin gestern zum Arzt gegangen. Die Rahmenkonstruktion nicht vergessen: Ich bin gestern spät ins Bett gegangen (4). Im Grammatikteil aufgeführt unter „Das Perfekt im Satz“, wo anders sollte es auch realisiert werden?!

Man könnte entgegenhalten: Das Lehrbuch ist das eine, der Unterricht das andere. Und es gibt kein perfektes Deutschlehrbuch. Jede Lehrkraft ist angehalten, das jeweilige Buch in der jeweiligen Gruppe angemessen umzusetzen und die lerngünstige Abfolge der Lernschritte, also die möglichst optimalen Progressionen binnendifferenziert zu finden. Keine Frage, mit objektivierten, d.h. ohne das lernende Subjekt berücksichtigende Progressionen kommt man nicht weiter. Wenn sich nun aber in der ersten Lehrbuchübung (S. 76, C1) gleich mehrere Lernschwierigkeiten (geschlafen – gelernt) häufen, scheint mir das Lernmaß unvertretbar weit überzogen. Ich entschied deshalb, auf das Lehrbuch in diesem Punkt fast ganz zu verzichten. Meine Verwunderung über eine derart krasse pädagogische, genauer: didaktisch-methodische Fehlentscheidung bei der Darstellung und Einübung des Perfekts im Lehrbuch bleibt natürlich bestehen. Sie wird indes noch insofern verstärkt, als es im Folgeband (Bd. 2 – von insgesamt 6) in der Lektion 1 so gut wie keine gezielten Wiederholungsübungen zum Perfekt gibt und dann aber erst zu Beginn von Bd. 3 (!) das Perfekt der trennbar zusammengesetzten Verben (umziehen – umgezogen) und die Verben mit der Endung -ieren (studieren – studiert) erscheint. Kaum zu glauben.

Ich gebe meine Entscheidung bekannt. Überall und zu jedem Thema melden sich doch heute Experten, weniger Expertinnen zu Wort. Die Inflation der Bezeichnung ist offensichtlich. Wer wird in Talkshows nicht alles als Experte bezeichnet, ganz abgesehen davon, dass man sich ja selbst zum Experte ernennen kann, oder hat sich schon mal ein Experte mit einer Urkunde ausgewiesen? Ist Experte-Sein heute nicht oft eine fatale Zuschreibung. Hätte ich sie denn wirklich nötig? Also bitte: Warum sollte gerade ich den sogenannten Experten-Status anstreben?

Experten

Klar, ich bin Experte.
Du bist doch auch Experte.
Er/sie ist auf jeden Fall Experte.
Wir sind erst recht Experten.
Ihr seid unsere Experten.
Sie sind fraglos Experten.

Wir leben im Zeitalter der Experten.

Ich kann lesen und schreiben. Also bin ich Experte.
Du hast etwas Kluges gesagt. Also bist du …
Er/sie kommt gerade aus der Talkshow. Also ist …
Wir haben zusammen ein Buch geschrieben. Also …
Ihr habt euch wacker geschlagen. Also …
Sie …

Viele Experten verderben den Brei.

Das Thema Russland ist noch nicht abgehakt

2016 3. Januar
von Martin Löschmann

Auch wenn es mich sehr stört, muss ich eine große Hemmung überwinden, um ein Insekt zu töten.
Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist. Ich glaube nicht, nein.
Vielleicht einfach ein Sichgewöhnen an Zusammenhänge.
Und ein Versuch, sich einzufügen in Zusammenhänge, die existieren, Einverständnis.
(Heiner Müller)

Für die Lesung von Corinna Harfouch in Leipzig gab es vereinzelt Vorschläge, was gegebenenfalls gelesen werden könnte. Zu meiner eigenen Verwunderung gehörte das Russlandkapitel dazu: Wenn Russland für deutsche Kleingeister zu groß bleibt. Warum war und bin ich eigentlich verwundert, frage ich mich. Höchstwahrscheinlich doch wohl deshalb, weil ich resignativ im Unterbewusstsein von dem Eindringen eines einseitigen und vereinfachten Russlandbildes in die Köpfe vieler Menschen ausging bzw. ausgehe. Um nicht in den Verdacht zu geraten, ein verzerrtes Bild zu malen, will ich auch die eine Stimme nicht verschweigen, die sich vehement von dem im Kapitel Beschriebenen distanzierte, und zwar in dem Sinne, dass man mit Russland und seinen Menschen nichts gemein hätte und auch nichts haben könne. Ich erspare mir hier die mitgeteilten Argumente.
Günter Markstein (Parchim) verband seine Fürsprache für das Kapitel mit einer Kritik an meiner Feststellung, dass Putin mit der Eingliederung der über Jahrhunderte hinweg zu Russland gehörenden Krim in das russische Reich das Völkerrecht verletzt habe. Ich solle doch mal das neueste Buch von Gabriele Krone-Schmalz Russland verstehen lesen, da würde ich eines Besseren belehrt werden, darin fände ich eine überzeugende Beweisführung. Um mir die Sucharbeit zu erleichtern, schickte er mir gleich die entsprechenden Seiten mit von ihm unterstrichenen Wörtern, Wortgruppen und Sätzen. (C.H. Beck, Paperback,13. Auflage 2015, S. 26 – 33)
Neidlos muss ich selbstredend zugeben, dass ich nicht über die Kenntnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen verfügen, die sich Frau Krone-Schmalz in ihrer Russlandzeit als Korrespondentin der ARD, als Mitglied im Petersburger Dialog und nicht zuletzt als Professorin für TV und Journalistik an der Hochschule Iserlohn erarbeitet hat. Abgesehen davon, atmet mein Russland-Kapitel nicht desto weniger einen ähnlichen Geist. So wie ich das Buch von Krone-Schmalz verstehe, geht es ihr, ohne dass sie den Boden durchaus kritischer Einschätzung verließe, um eine Auseinandersetzung mit antirussischen Vorbehalten, Vorurteilen, eindimensionale Sichtweisen auf das aktuelle Geschehen in Russland, der Schwarz-Weiß-Malerei: hier die Guten, dort die Bösen, der Ungleichbehandlung ähnlich gelagerter Problematiken im Westen und in Russland (vgl. zum Beispiel unterschiedlichen Sichtweisen auf die Olympiaden in Sotschi und in Brasilien), dem Messen mit zweierlei Maß, wie es im Herderblog auch von Helmut König auf dem Gebiet des Dopings angeprangert wird, der Dämonisierung Putins.
Im Nachhinein kann man sich ärgern, dass man die ‚Mainstream‘-Auffassung von der Verletzung des Völkerrechts so unbesehen übernommen hat, ich maßte mir sogar an, meine Zustimmung mit „zweifelsohne“ zu verstärken, indem ich schrieb: „Mit der Gleichsetzung von Russland mit Putin einerseits und der Aufblähung der Opposition im Lande andererseits macht ein Teil der Journalisten das Riesenland für sich überschaubar, anklagbar, angreifbar. Verborgene Ressentiments werden sichtbar. Unerhört, wie Putin das Land vergrößert, indem er den Volkswillen der überwiegend russischen Bevölkerung auf der Krim (rund 60 Prozent) realisiert, unter Verletzung des Völkerrechts zweifelsohne, aber wie oft haben die USA und ihre Verbündeten dieses Recht in den letzten Jahrzehnten verletzt?“
Jetzt frage ich mich dank der Leseempfehlung von Markstein, wie konnte ich als „Sonstiger“ ein derart komplexes Geschehen überhaupt beurteilen. Doch mir kam und kommt es darauf an, der so offensichtlichen Ungleichbehandlung entgegenzutreten. Nicht desto weniger wäre es einfach kühn, geradezu genial gewesen, wenn ich die weithin bis dato unwidersprochene Setzung ‚Verletzung des Völkerrechts‘ angezweifelt oder überhaupt vermieden hätte. Frau Krone-Schmalz dagegen hat sich bei Völkerrechtlern kundig gemacht und kommt zu dem Ergebnis: „Hat Russland völkerrechtliche Ansprüche der Ukraine verletzt? Ja. Zu diesem Schluss ist der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel gekommen (FAZ vom 7.4.14). Doch die Sachlage ist, wie er in beeindruckender Weise darlegt, kompliziert: ‚Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechts-widrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt zur Krim nicht ablehnen müssen. Nein‘. Denn was hat Russland mit der ukrainischen Verfassung zu tun?“
Interessant für die Blog-Leserinnen und –Leser könnte überdies noch sein, dass Frau Krone-Schmalz einige ihrer bedenkenswerten Ausführungen zum Völkerrecht in Bezug auf die Krim im Rahmen eines Interviews für eine „große deutsche Zeitung“ gemacht hatte, das aber „nach Intervention des Chefredakteurs“ (S.29) nicht veröffentlicht wurde. (Sic!)
Nachdem ich das Buch von Krone-Schmalz von Anfang bis Ende gelesen habe, kann ich nur Marksteins Empfehlung weiterreichen. Die Lektüre wird sich lohnen. So wird meine Behauptung belegt, die USA und ihre Verbündeten hätte das Völkerrecht, so wie ich es bisher verstanden habe, nicht minder verletzt: „Für das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen kann die Bedeutung des Kosovokrieges gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Russland musste die Erfahrung machen, dass der UN-Sicherheitsrat komplett übergangen wurde und sich in der westlichen Staatengemeinschaft kaum jemand darüber aufregte. Die völkerrechtliche Legitimation stand auf mehr als wackligen Füßen. Für Moskau hieß das: Der Westen hält sich selbst nicht an die Regeln, an denen er uns misst.“
Für mich war zudem besonders das Kapitel interessant, in dem der Krieg Russland – Georgien beleuchtet wird. Kaum jemand wird sich noch an den Krieg im Kaukasus 2008 erinnern. Ich schon, weil ich im September des Jahres zur Weiterbildung russischer Deutschkräfte an sibirischen Universitäten in Tomsk weilte und ich bereits im ersten Seminar, was ungewöhnlich war, nach meiner Meinung zu dem Krieg gefragt wurde. Vor allem wollte man wissen, wie ich zu der Verurteilung Russlands als Aggressor im Westen stünde. Was das Interesse in Deutschland an diesem Kriegsgeschehen im Kaukasus anlangt, so kam ich den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern erst einmal mit Goethe: „Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn-und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen.“ Da ich mich auf meinen Einsatz in Tomsk vorbereitet hatte und mit Fragen zum aktuellen Geschehen auch rechnete, war ich einigermaßen in der Lage, mich von der in deutschen Medien fast unisono Verurteilung Russlands als Aggressor zu distanzieren, ohne die Komplexität der Krise zu ignorieren. Ich maßte mir damals nicht an, die Komplexität des Kriegsgeschehens zu durchschauen, aber eines wusste ich dank englischer Quellen, Georgien hat gezielt die südossetische Hauptstadt Zchinwali angegriffen. „Die georgische Behauptung, man habe lediglich auf russische Angriffe reagieren müssen, wies die OSZE nach entsprechenden Untersuchungen zurück.“ (Krone-Schmalz) Dies wissend, fragt man sich schon, warum lange Zeit Russland als Aggressor diffamiert wurde. Bei Krone-Schmalz habe ich mir nun nachträglich Klarheit verschafft und dabei erfahren, dass Stalin gewissermaßen Vorbild für Chrustchows Schenkung der Krim an die Ukraine war, denn nach der Buchautorin ist Stalin verantwortlich für die Teilung Ossetiens in Nord- und Südossetien. Kurzerhand schenkte er Südossetien seinem Heimatland Georgien. Sollte man nicht zumindest Verständnis dafür aufbringen, dass sich dieses Land von Georgien befreien und selbstständig werden will?