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Das hat Büchner nicht verdient

2019 29. Oktober
von Martin Löschmann

Gewiss, aktuelle Adaptionen von literarischen Werken vergangener Jahrhunderte sind oft problematisch, man sollte Transformationen in die Gegenwart deshalb aber nicht von vornherein in Frage stellen, aber man wünschte sich schon, dass sie irgendwie angemessen, plausibel, redlich in die Neuzeit, zeitgemäß transformiert werden, was immer man darunter verstehen will oder kann.

Mir will scheinen, dass die Neuverfilmung von Büchners „Woyzeck“ aus dem Jahre 2013 im hohen Grade misslungen ist, auch wenn das Feuilleton es weitgehend anders sieht. Ich schreibe vom Woyzeck-Film des Regisseurs Nuran David Calis, den ich allerdings erst vor gut einer Woche bei 3sat (also am 19. Oktober 2019) gesehen habe. Gewissermaßen Schnee von gestern, der in unserer schnelllebigen Welt längst aufgetaut ist und sich verflüchtigt hat.

Indes, offensichtlich hatte sich meine Enttäuschung über die Verfilmung von Wedekinds „Frühlingserwachen“ (2009), die ich vor Jahr und Tag zur rechten Zeit gesehen hatte, nicht ein für alle Mal – mich lähmend – über den Namen des Regisseurs gelegt.

In dem so oft gespielten fragmentarischen revolutionären Theaterstück geht es bekanntlich um den geschundenen armen Soldaten Franz Woyzeck, der – einer der Ärmsten unter den Armen – von seinem Hauptmann, dem er als Laufbursche dient, und erst recht vom schneidigen Tambourmajor, der seine Marie verführt, bis ins Mark gedemütigt und erschüttert wird. Von Wahnvorstellungen, Peinigungen und von der Enge seines kasernierten Lebens getrieben, bringt er, im höchsten Grade verzweifelt, seine Marie um. Sein bedauerlicher Gemütszustand rührt von den wissenschaftlichen Untersuchungen her, denen er sich in seiner Not als Versuchsobjekt unterwirft und die dazu dienen herauszufinden, ob und welche unerwünschten Nebenwirkungen eine Ernährung ausschließlich mit Erbsen hat.

Wenn nun diese Figur – erstmalig in der deutschen Literatur – ins Berliner, genauer ins vermeintlich heutige Wedding-Milieu versetzt wird und seine große Not durch den Verlust seiner Gaststätte entsteht, die er Moslems überlassen musste, gerät die Handlung zwangsläufig in eine mehr als zweifelhafte Schieflage. Die wird durch den Ersatz des feschen Tambourmajors durch einen Gangleader mit mäßigem Hollywood-Zuschnitt verstärkt. Gerade durch ihn ist Woyzeck seinen Besitz losgeworden und musste erleben, wie ein muslimischer Zuwanderer nebst Clique sein ehemaliges Restaurant als eine arabische gastronomische Einrichtung betreibt. Woyzeck will sein Schicksal nicht hinnehmen, sich zurückarbeiten und seiner Marie mit ihrem gemeinsamen Kinde finanzielle Sicherheit geben und vor allem ein Häuschen für sie erwerben. Dafür schuftet er unter Tage als Müllarbeiter, Gleisreiniger und schluckt überdies undefinierbare Pillen für eine zweifelhafte Studie, die ihn vorübergehend impotent und schlaflos machen, muss sich zudem noch in seiner einstigen Gaststätte verdingen und scheitert letztendlich trotz all seiner redlichen Bemühungen.

Bei solcher Gemengelage kann man sich über weite Strecken nicht des Gedankens erwehren: Es sind die bösen Moslems, die Migranten, eine Migrantenoberschicht, die sich ein gutes Stück von Berlin erobert und die Woyzeck ins Elend gestützt haben und denen er, einer mit Nicht-Migrationshintergrund, letztlich schmerzlich unterliegt. Man ist entfernt an Houellebecqs „Unterwerfung“ erinnert, aber nur sehr weit entfernt. Kein Vergleich! „Mich interessieren ethnische und religiöse Konflikte. Ich brauchte einen Menschen, der eine Minderheit in einer Minderheit darstellt“, sagt der Regisseur. Mag sein, aber Büchners Theaterfragment „Woyzeck“ ist dafür völlig ungeeignet. „Man würde dem Film Woyzeck sicher nicht gerecht, wenn man ihm unterstellen würde, Fremdenfeindlichkeit zu provozieren“, heißt es in einem  „Pädagogischen Begleitmaterial zum Film WOYZECK“: (http://www.materialserver.filmwerk.de/arbeitshilfen/Begleitmaterial-Woyzeck_v2.pdf). Aber genau diese Provokation bricht sich in der Theaterverfilmung von Herrn Nuran David Calis Bahn.

Ich weiß nicht, ob sich jemand von der AfD zu dieser Verfilmung geäußert hat, würde es aber gerne wissen, denn eines ist sicher, der Film ist eine Vorlage, wenn nicht so abgegriffen, hätte ich geschrieben: Steilvorlage, für diese rechtsradikale Partei. Der arme deutsche junge Mann wird aus seinem ihm angestammten Bereich von Migranten, die zu Kriminellen, Kleinkriminellen geworden sind, vertrieben, ins Elend getrieben.

Sag ich doch, sagen wir doch. Schaut, so kann es jetzt schon gehen. Das darf doch nicht sein. Das kann doch nicht sein. Das muss doch nicht sein. Das wird so sein, wenn nicht …

Der letzte Prominente ist tot.

2019 15. August
von Martin Löschmann

Er starb am Sonntag, dem 25. Juli, mit 92 Jahren und hinterlässt ein Werk, das in rund 20 Sprachen übersetzt und durch etliche Preise gewürdigt worden ist; darunter der Heinrich-Mann-Preis (1969), der Kunstpreis der Stadt Leipzig (1970), der Alex-Wedding-Preis 1988, das Bundesverdienstkreuz am Band (1999).

In nicht wenigen Nachrufen, die ich einsehen konnte (11), nicht im Wikipedia-Eintrag wird erwähnt, dass Werner Heiduczek als „Dozent am Herder-Institut“ gearbeitet habe. Das ist in diesem Fall völlig korrekt, denn zu jener Zeit wurden die Sprach- und Fachlehrer als Dozenten bzw. Dozentinnen am Herder-Institut der Karl-Marx-Universität bezeichnet. Mir will es indes so scheinen, als hätte er selbst auf seine Zeit am Herder-Institut wenig Wert gelegt. Und dafür mag es verschiedene Gründe gegeben haben:

Ein schlichter Grund könnte sein, dass er ja nur eine kurze Zeit am Institut verweilte. Wenn ich mich recht erinnere, kam er 1961 zusammen mit seiner Dorle, wie sie auch von vielen am Institut genannt wurde, nach einem Einsatz als Deutschlehrer am Fremdspracheninstitut in Burgas (Bulgarien) zu uns. Frau Heiduczek wurde hier heimisch und machte sich u.a. als Bereichsleiterin verdient. Über sie, die durch kritisches Auftreten auffiel, erhielt sich ein lockerer Kontakt zu dem sich ab Mitte der 60er Jahre etablierenden freien Schriftsteller Werner Heiduczek. Als „unter Mitarbeit von Dorothea Heiduczek“ 1982 „Die schönsten Sagen aus Firdausis Königsbuch neu erzählt“ im Kinderbuchverlag erschienen, wurde hier und da vermutet, sie würde irgendwie in die Fußstapfen ihres Mannes treten.

Ein weiterer Grund mag die Anfang der 60er Jahre noch relativ starke Verschulung des Sprachunterrichts Deutsch als Fremdsprache gewesen sein. Es gab zu seiner Zeit noch keine Forschungsabteilung, keine wissenschaftlich begründete Landeskunde und noch keine gezielte sprachliche und fachliche Vorbereitung ausländischer Studierender auf ein Hochschulstudium in der DDR. Doch, was schreibe ich da. Um es salopp zu formulieren, schon mit der Schule, der Volksbildung hatte er letztlich wenig am Hute, obwohl er in den 50er Jahren nach einer Qualifizierung als Neulehrer, nach einem Studium der Pädagogik und Germanistik schnell Karriere machte: zwei Monate Dorfschullehrer, Lehrer für Latein und Geschichte an einer Oberschule, wo er bereits nach einem Jahr stellvertretender Direktor wurde, Referent für Oberschulen im Ministerium für Volksbildung des Landes Sachsen-Anhalt mit 24 Jahren, 1952 Kreisschulrat in Merseburg, danach (1953/54) noch einmal ein Erweiterungsstudium für Germanistik in Potsdam. Bevor er 1961 als Deutschlehrer nach Burgas an die Fremdsprachenschule ging, hatte er an der Kinder- und Jugendsportschule Friedrich Engels in Halle vier Jahre als Lehrer für Geschichte und Deutsch gewirkt. Alles in allem: beste Empfehlungen fürs Herder-Institut. Ein nicht geringer Teil der Lehrkräfte kam aus der Volksbildung ans Institut, der Schreiber übrigens auch.

Der entscheidende Grund für seine kurze Stippvisite 1962 bis 65 am Herder-Institut jedoch liegt auf der Hand: Er wollte unbedingt Schriftsteller werden, hatte bis dahin dies und jenes versucht, schon als Student „wie ein Besessener“ geschrieben und brauchte gerade noch die kurze Zeit am Herder-Institut, um sich klar darüber zu werden, ob er den Sprung ins freie Schriftstellerdasein wagen sollte bzw. konnte. Er hat ihn gewagt und sich zu einem beachteten und geachteten Schriftsteller entwickelt, der gelegentlich schon mal bei uns aus seinen Werken las, z.B. im Rahmen von Hochschulferienkursen für Deutschlehrer und Germanisten aus aller Welt im Sommer. 1972 zog Familie Heiduczek von Halle nach Leipzig, also an den Ort, wo seine Frau erfolgreich wirkte und Geld verdiente. Auch wenn er immer wieder als Grund angab, dem „ungeliebten Lehrerberuf entfliehen“ zu wollen, sein unerschütterliche Antrieb war unübersehbar der Schreibwille. Noch 2016 äußerte er sich ganz in diesem Sinne: „Ich hatte von diesem ganzen Lehrerkram, von dem Funktionärsdasein die Nase voll. Ich wollte da raus, ich wollte schreiben.“ Seine penetrante Abneigung dem Lehrerberuf gegenüber sei ihm verziehen.

So richtig bekannt machte ihn der Roman Tod am Meer, der 1977 erschien und in der DDR verboten wurde, weil der damalige Botschafter der UdSSR Pjotr Andrejewitsch Abrassimov stur und steif die angeblich antisowjetische Darstellung in einige Passagen beanstandet hatte. Es ging dabei vor allem um den Tabubruch: die Vergewaltigung durch Angehörige der sowjetischen Armee beim Einmarsch in Deutschland. „Habt ihr vergewaltigt?“, wird im Roman gefragt, die treffende Antwort des sowjetischen Offiziers:

„Ob Griechen oder Römer, Osmanen oder Chinesen, Amerikaner oder Russen, schick sie in den Krieg, und es wird Mord geben, Raub, Plünderung und Vergewaltigung. Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.“

In meinen Unerhörten ‚Erinnerungen eines Sonstigen schreibe ich zu dieser heiklen Problematik, die mich mit zehn Jahren als Augenzeuge einwob: „Kein Geringerer als der bekannte sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg (1891-1967) hatte es in seinem Tagebuch bereits bestätigt. Gut ein Jahr vor Heiduczek hatte Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster das Tabu-Thema gewissermaßen gestreift, indem sie von einem jungen russischen Offizier erzählt, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Heiner Müller gab dem Thema in seinem letzten dramatischen Text Germania 3 Gespenster am toten Mann zudem eine neue Perspektive:

„Schlafzimmer mit Doppelbett. Ein russischer Soldat vergewaltigt eine deutsche Frau. Auftritt ein Mann in der gestreiften Uniform des Konzentrationslagers mit dem roten Winkel des politischen Häftlings. Er sieht eine Weile zu, dann erschlägt er den Soldaten. Hier beginnt die Befreiung, der Frieden mit einem Mord.“ Christa Wolfs Kindheitsmuster, durchaus kritisch aufgenommen, wurde nicht aus dem Verkehr gezogen, Heiduczeks Roman, als nach einem Jahr die 2. Auflage anstand. Das Verdikt trug natürlich nicht unwesentlich zum Bekanntwerden seines herausragenden Werkes bei. Rund 10 Jahre später durfte es zwar wieder erscheinen, was allerdings nur in einem der Nachrufe erwähnt wird. Freilich die dogmatische Kulturpolitik war damit nicht ungeschehen zu machen, sie signalisierte indes aber Aufweichungen ideologischer Tatbestände, Bewertungsveränderungen, Bewegungen zum Aufbruch.

Duplizität der Fälle: In Tod am Meer erleidet der Leipziger Schriftsteller Jablonski, der wie Heiduczek aus Oberschlesien  stammt, in Leipzig lebt, während einer Vortragsreise in Bulgarien einen Schlaganfall und stirbt Wochen später an den Folgen – wie viele Jahre danach Heiduczek selbst. Im Bezirkskrankenhaus in Burgas überschaut er sein bisheriges Leben und muss sich eingestehen, dass er als Künstler versagt hat, weil er zu einem Auftragsschriftsteller geworden ist, zu sehr fremdbestimmt geschrieben hat und so der Wahrheit gelegentlich ins Gesicht schlug. Seine erschütternde, zu Herzen gehende Beichte gegenüber einem Mitpatienten verbindet sich zugleich mit einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Partei, deren Fehlentwicklungen er an den Pranger stellt – ganz im Sinne von Heinrich Mann, der in seinem Essay Geist und Tat feststellt: „Ein Intellektueller, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist.“

Ich muss gestehen, ich bin bei diesem und einem zweiten Werk, nämlich Abschied von den Engeln (1968), stehengeblieben, das bei weitem noch nicht das Niveau des hier kurz umrissenen Romans erreicht. Als ich von dem Tod des ehemaligen Mitarbeiters des Herder-Instituts hörte, stellte sich sofort ein Lesezwang ein, was kann dem verstorbenen Schriftsteller Besseres passieren: Bei meinen Lesenotizen, die immer weiter steigen, findet sich schnell Heiduczeks Lebenserinnerungen Im Schatten meiner Toten (2005), seine letzte große Arbeit. Hoffentlich komme ich noch dazu, sie nun endlich zu lesen.

Auf zum Dorotheenstädtischen Friedhof – ein zweites und letztes Mal

2019 2. August
von Martin Löschmann

Bei Aufräumarbeiten – sie nehmen kein Ende! – fallen mir Memoiren-Entwürfe von H.Z. in buchstäblich in meine Hände, die vor vielen Jahren ins Haus geflattert waren. Auf einer Seite ist von mir vermerkt: Prof. Hans Mayer zum Vergleich. Die Notiz samt der Beschreibung meines geschätzten Lehrers, der in den „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ an verschiedenen Stellen zu Wort kommt, kann ich doch nicht unreflektiert entsorgen. Im gegebenen Fall hätten dies die Zurückgelassenen tun müssen.

 
Hier der Auszug von H.Z., der von 1957 bis 1962 in Leipzig Slawistik und Germanistik studierte und in den 80er Jahren ans Herder-Institut kam, und wie andere Studierende zu Mayers Zeit nicht umhinkonnte, dessen Vorlesungen zu besuchen. In seinen Memoirenentwürfen findet sich die Begeisterung, die allenthalben schon an anderen Stellen kundgetan wurde, aber eben nicht in der individuellen Ausprägung. Solche Erinnerungen können helfen Prof. Hans Mayer ins rechte Licht zu rücken, denn was hat man nicht alles unternommen, ihn zu denunzieren, mundtot zu machen, ihn zu verleumden (vgl. auch Christioph Hein).

„ … Die Vorlesungen von Hans Mayer im berühmten Hörsaal 40 im alten Universitätsgebäude, vor dessen Hintereingang damals das heute an der Moritzbastei aufgestellte Leibnizdenkmal stand, waren Kult. Von allen Fakultäten kamen Studenten herbeigeströmt: Mediziner, Physiker, Chemiker, man musste sehr zeitig kommen, um noch einen Platz zu ergattern, die Studenten saßen z.T. auf dem Fußboden vor dem Katheder oder auf den Treppenstufen. Auch der unter dem Hörsaal 40 befindliche Senatssaal mit dem schönen Blick auf das steile Dach der Universitätskirche war überfüllt. Mayers Vorlesung wurde in den Senatssaal übertragen. Mayer war sehr temperamentvoll, mit Schwung kam er in den Hörsaal, begrüßt vom hundertfüßigen Getrampel der Studenten, knallte seine Tasche oder Mappe auf den Tisch und begann frei zu sprechen, rhetorisch hervorragend, mit geschliffenen Formulierungen, interessant, druckreif, mit Witz und Ironie, Hintersinn und Sprachgewalt auf hohem wissenschaftlichen Niveau. Ich habe nie wieder jemanden in dieser beeindruckenden Weise fast zwei Stunden frei, sehr lebendig, sprechen, eine lange Vorlesung, einen Vortrag halten hören. Er ging vor dem Pult auf und ab, unterstrich seine Ausführungen mit lebhafter Körpersprache.
Um Mayer kreisten verschiedene Anekdoten, er war ein gefürchteter Prüfer, ein ‚sehr gut’ bei ihm war fast ein Ding der Unmöglichkeit, ein ‚Gut‘ ein Ritterschlag, eine Erhebung in den literaturwissenschaftlichen, germanistischen Adelsstand. Als ein Student ihm mal ein Thema für die Diplomarbeit vorschlug, soll er gesagt haben: „Sie wollen wohl ein Pol.Ök.-Arbeit bei mir schreiben?“ und als ein Student in der mündlichen Prüfung bei ihm eine ‚Vier‘ bekam und der nächste Prüfling auf Mayers Frage, wie er sich den vorbereitet habe, antwortete dieser, er habe sich gemeinsam mit dem Vorgänger auf die Prüfung vorbereitet, soll Mayer gesagt haben: „Sie können gehen. Sie haben auch eine ‚Vier‘…

Es mag schon etwas dran sein, denn ich fühle mich durch H.Z. geadelt. Wer meine Erinnerungen gelesen hat, wird mitbekommen haben, dass mich meine ‚Zwei plus‘ für die Examensarbeit „Brechts Stellung zur deutschen Klassik“ schon gewurmt haben. In meinem Text heißt es: „Mayer bewertete die Arbeit mit einer ZWEI plus Sternchen. Doch das Sternchen wurde nicht auf der Urkunde abgebildet.“

Beim Lesen dieser Notiz beschleicht mich noch ein ganz anderer Gedanke. Mensch du wolltest doch deinen Professor auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof besuchen. Du bist zwar kein Friedhofsgänger, aber im Falle von Prof. Hans Mayer und bei dem Ruf, den dieser Friedhof genießt, wird es höchste Zeit. Eine Art Selbstverpflichtung, seit wir in Berlin leben, will endlich erfüllt werden. Gerichtsnotorisch ist meine Verpflichtung indes nicht. In meinen „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ ist sie nicht zu finden. Dort heißt es nur lapidar: „Von seiner Bedeutung überzeugt, ließ sich der große Mayer auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zur letzten Ruhe betten, neben Fichte und Hegel, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Helene Weigel, Günter Gaus, Hans Eisler, John Heartfield, Herbert Marcuse, Heiner Müller, Anna Seghers, Christa Wolf und vielen anderen Persönlichkeiten.“

Mit meinem Klapprad auf dem Wege und es als Stütze während des Friedhofs benutzend, frage ich mich, was meinen Professor Hans Mayer bewogen haben mag, sich auf dem berühmten Dorotheenstädtischen Friedhof bestatten zu lassen? Berlin war ja alles andere als seine Wirkungsstätte, sieht man mal von seinem Studium 1926/27 und seiner Flucht zum zweiten Staatsexamen nach Berlin ab. 

Obwohl er schon daran gearbeitet hat, dass ihm die Nachwelt Kränze flicht. Eine Benennung einer Straße in Hannover ein Jahr nach seinem Tod wäre ihm womöglich zu wenig gewesen, wennschon sich der Hans-Mayer-Weg unweit von der Universität befindet.

Der Lehrstuhl in Hannover, von dessen Vergabe der Verfassungsschutz nachdrücklich abgeraten hatte, war nicht sein Zielort, eher schon Tübingen, genauer die Eberhard-Karls-Universität Tübingen, die sich heute als Universität mit Exzellenzstatus immer noch bestens empfiehlt. Nicht ohne Grund zog es ihn als Emeritus und Honorarprofessor dorthin. Doch Tübingen war ihm offensichtlich – ganz im Gegensatz zu Ernst Bloch, dem weltbekannten Philosophen aus Leipzig –, nicht Ort genug, sich dort zur letzten Ruhe betten zu lassen. Sein Freund Ernst Bloch wählte den Bergfriedhof in Tübingen – nahe der Universität gelegen, an der er seit seinem Weggang aus Leipzig 1961 gelehrt hatte.

Dagegen nimmt sich Mayers Allerwelts-Grabstein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof konventionell, irgendwie angepasst, eingerahmt aus. Hans Mayer muss man bis in alle Ewigkeit kennen, ist es das? Auf jeden Fall wollte er zugeordnet werden. So findet man seine Gedenkstätte nicht weit von Hegels Grab, auch nicht weit entfernt von Bertolt Brecht. Mayer soll irgendwann am Ende seines Lebens, fast erblindet, gesagt haben, dass er sich auf ein Wiedersehen mit Brecht freue.

Irgendeine Führung, von denen es etliche gibt, endet am Grab von Christa Wolf und Hans Mayer. Er scheint hier angekommen und integriert zu sein.

Eine geborgte Zusammenfassung über das Ende der Welt

2019 17. Juli
von Martin Löschmann

Vor ein paar Tagen ereignete sich wie aus heiterem Himmel ein Gespräch mit einem jungen Mann über die allerorten heraufbeschworene Klimakatastrophe und das mögliche Ende der Welt. Ich wehre ab und höre mich sagen: „Sie sind zu jung, um so pessimistisch zu sein. Alte Leute dürfen sich schon mal in Endzeitgedanken verlieren, aber Sie doch nicht.“ Und ich hole zwei, drei Gedanken hervor, die begründen sollen, warum alte Leute ihr absehbares bevorstehendes Ende mit dem unserer Welt verbinden.

Zu Hause angekommen, lese ich das letzte Kapitel aus Carlos Rovellis „Sieben kurze Lektionen über Physik“ und finde ganz am Ende – welch ein Zufall! – eine aufschlussreiche, klar formulierte, bewunderungswürdige bündige Zusammenfassung unserer kurzen, dahingestolperten Gedankengänge

Um Missverständnissen vorzubeugen, in diesem Buch geht es nicht vordergründig um diese heiter-düstere Perspektive, sondern eher um die großen Entdeckungen der modernen Physik des 20. Jahrhunderts: die Relativitätstheorie von Einstein,die Quantenmechanik von Max Planck, die weiterführenden Einsichten in die Entstehung des Universums, die Elementarteilchen-Theorie, die Loop-Theorie (Schleifen-Quantengravitation), des Autors Kernbeackerungsfeld.

„Ich denke, unsere Spezies wird nicht lange überleben. Sie scheint aus anderem Stoff gemacht als die Schildkröten, die immer gleichbleibend über Hunderte Millionen von Jahren fortexistiert haben, Hunderte Male länger als wir. Wir gehören einer eher kurzlebigen Spezies an. Unsere Vettern sind bereits alle ausgestorben. Und wir richten Schaden an. Die Klima- und Umweltveränderungen, die wir ausgelöst haben, sind brutal und werden uns schwerlich verschonen. Für die Erde wird es nur ein belangloser kurzer Augenblick sein, wir aber werden die Folgen wohl nicht unbeschadet überstehen; zumal die öffentliche Meinung und die Politik es vorziehen, die drohenden Gefahren zu ignorieren und den Kopf in den Sand zu stecken. Vielleicht sind wir die einzige Spezies auf der Erde, die sich der Unausweichlichkeit ihres individuellen Todes bewusst ist. Ich fürchte, wir werden bald auch die Spezies sein, die bewusst ihr eigenes Ende kommen sieht oder doch zumindest das Ende ihrer Zivilisation.

So wie wir uns mehr oder weniger gut unserem eigenen Tod stellen, so werden wir auch dem Zusammenbruch unserer Zivilisation begegnen. Da gibt es keinen großen Unterschied. Und es ist ja auch nicht die erste Zivilisation, die zusammenbricht. Schon die Maya und die Kreter haben das durchgemacht. Wir werden geboren und sterben, ebenso wie die Sterne geboren werden und sterben, sowohl individuell als auch kollektiv. Das ist unsere Realität. Gerade wegen seiner Vergänglichkeit ist uns das Leben kostbar. Denn, wie Lukrez sagt:

«… immer gleicher Durst nach Leben beherrscht uns, ständig steht uns der Mund begehrend offen.» (De rerum natura, III, 1084)

Aber in dieser Natur, die uns geschaffen hat und uns erhält, sind wir keine unbehausten Wesen, die zwischen zwei Welten hängen, nur teilweise Teil der Natur mit der Sehnsucht nach etwas anderem. Nein. Wir sind zu Hause.

Die Natur ist unser Zuhause, und in der Natur sind wir zu Hause. Diese sonderbare, bunte, erstaunliche Welt, die wir erforschen, wo der Raum zerbröselt, die Zeit nicht existiert und die Dinge zuweilen nirgends sind, ist nichts, was uns von uns selbst entfernt. Es ist nur das, was unsere natürliche Neugier uns von unserem Zuhause zeigt, von dem Stoff, aus dem auch wir gemacht sind. Wir bestehen aus dem gleichen Sternenstaub wie alle Dinge, und ob wir in Schmerz versinken oder lachen und vor Freude strahlen, wir sind immer nur das, was wir einzig und allein sein können: ein Teil unserer Welt.

Lukrez sagt es in wunderbaren Worten:

«Letztlich sind wir doch alle himmlischen Samen entsprossen, alle haben wir den gleichen Vater, von ihm empfängt die gütige Mutter die feuchten Tropfen des Regens, sie nimmt die Erde auf und bringt aufblühend schimmernde Früchte hervor, üppige Bäume, auch der Menschen Geschlecht, gibt Lebenskraft den wilden Tieren aller Arten, stillt, für Nahrung sorgend und für Futter, den Hunger aller, lässt sie ein wohl ausgestattetes Leben führen und ihren Nachwuchs aufziehen …» (II, 991–997)

Von Natur aus lieben wir und sind ehrlich und anständig. Von Natur aus wollen wir immer mehr wissen und immer weiter lernen. Unser Wissen über die Welt wächst. Uns treibt der Drang nach Erkenntnis, und lernend stoßen wir an Grenzen. In den tiefsten Tiefen des Raumgewebes, im Ursprung des Kosmos, im Wesen der Zeit, im Schicksal der Schwarzen Löcher und im Funktionieren unseres eigenen Denkens.

Hier, an den Grenzen unseres Wissens, wo sich das Meer unseres Nichtwissens vor uns auftut, leuchten das Geheimnis der Welt, die Schönheit der Welt, und es verschlägt uns den Atem.“

(Die italienische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Sette brevi lezioni di fisica» bei Adelphi Edizioni, Mailand.), in Deutschland veröffentlicht in deutscher Sprache im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2015)

Beim Lesen von Christoph Hein: Gegen-Lauschangriff, Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. (Berlin: Suhrkamp 2018)

2019 12. Mai
von Martin Löschmann

Von Christoph Hein habe ich im Laufe der Jahre verschiedene Romane gelesen, den einen oder an-deren auch nur durchgeblättert. „Der fremde Freund“ hat sich im Gedächtnis besonders fest eingegraben, auch „Horns Ende“.
Nach der Wende verlor ich den Hein aus dem Auge, auch weil sich in dieser Zeit ein Bauchgefühl in den Vordergrund schob, das schwer zu orten sich nicht an einem bestimmten Text festzurren ließ. Auf der anderen Seite war das vage Gefühl dennoch schon in Worte zu fassen: ein exzellenter, mutiger Kritiker des DDR-Systems gewiss, seine Rede 1987 wider die Zensur in der DDR ein Meisterstück (vgl. die Anekdote ABSICHERUNG DER LINIE SCHRIFTSTELLER), die prophetische Warnung vor zu viel Euphorie über die Wende 1989, zugleich schien er dem bundesrepublikanischen Mainstream der Nachwendezeit nahezustehen: die DDR ein Unglücksfall der Geschichte, eine Diktatur. Pfui Teufel, ein Land ohne Geschichte, das Leben der Menschen im Hoheitsgebiet unwert, denn es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Doch dann machte mich vor ein paar Tagen jemand, der von meinem ambivalenten Verhältnis zu Hein wusste, auf sein neuestes Werk, ein leserfreundliches schmales Bändchen, aufmerksam. Den Namen des Aufmerksammachers werde ich nicht nennen, Hein gibt auch nur ganz wenige Namen in seinen Anekdoten preis – sicher nicht nur aus ästhetischen Gründen. Wer indes in der DDR-Kulturszene umhergewandert, nicht umherstolziert ist, kommt schon bei dieser und jener Unkenntlichkeit dahinter, wer gemeint sein könnte. Im Übrigen braucht man die Namen auch nicht, um die Texte zu genießen.

Als ‚Ostergeschenk‘, das es in meinem hohen Alter eigentlich nicht mehr gibt, ich bin noch fast zehn Jahre älter als Hein, wird es zu meiner Osterlektüre 2019 erklärt und damit zu einem singulären Ereignis. Auch deshalb, weil der Germanist in mir aufgerufen ist: Bei Hein sind es „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ – in Kleists Anekdotensammlung findet sich eine „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“. Der literarische Bezug ist gewollt und provozierend zugleich, vom Feuilleton entweder ignoriert oder unter Verharmlosung der DDR verbucht, nur weil der DDR eine Entwicklung gewährt wird, die DDR der 60er Jahre ist nicht die DDR der 80er Jahre, und Hein wagt sich, den Oscar prämiierten Film „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donners-mark als wenig authentisch zu charakterisieren, um es vorsichtig auszudrücken, tatsächlich wird der Film ins Reich der Hollywood-Fantasie verwiesen (Vgl. MEIN LEBEN, LEICHT ÜBERARBEITET).
Der Geleitwort des Verlages macht mich, voreingenommen, wie ich vermutlich noch immer bin, erst einmal stutzig: Der „fulminante Geschichtenerzäh-ler“ „erzählt hier von seinen persönlichen Erlebnissen, von Zensur und Reise(un)freiheit – und schließlich davon, wie all das Geschichte wurde“. Bloß nicht irgendetwas vom Felde des „deutsch-deutschen Krieges“ benennen. DDR indes geht immer. Dazu steht mit Recht genügend drin, wenn natürlich auch nicht alles. Allein schon die Anekdotenform führt zu strenger Beschränkung. Aber gut, der Vorspann muss einen nicht interessieren, wer liest solche Vorboten. Überhaupt, wie dumm muss einer sein, der diese liest! Suhrkamp schützt vor Torheit nicht. Das Feuilleton hält sich dran und tut sich mit dem Genre Anekdote schwer, kann sich so gar nicht an den Pointen, die nicht nur am Ende stehen, erfreuen. „Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.“ (Zitat von Shakespeare in DASS EINER LÄCHELN KANN UND LÄCHELN). Oder die Pointe aus der kauzigen Geschichte EINE SCHROTGEWEHR-HEIRAT, in der es um die Vereinigung von Parallelinstitutionen, z.B. der Schriftstellverbände PEN Ost und PEN West, auch der beiden Anglerverbände geht, und Heiner Müller nach einer ‚Vereinigungssitzung‘ zu Hein sagt: „Hast du gehört, Christoph? … wir haben Bewährung bekommen.“.

Also gut, das Buch aufgeschlagen, die erste Geschichte lesen: NACH MOSKAU; NACH MOSKAU. Die Abwesenheit von Reisefreiheit in der DDR in eine Anekdote kongenial überführt, die Sehnsucht nach unbeschwertem Reisen, die sich erst nach der Wende erfüllen konnte. Hier sind es die drei Schauspielerinnen, die in Tschechows „Drei Schwestern“ im Rahmen eines Gastspieles des Maxim Gorki Theaters zu Berlin in Düsseldorf auftreten und sich nacheinander beim Chefdramaturgen des Düsseldorfer Theaters erkundigen, ob und wie sie am aufführungsfreien Tage ohne Visum nach Paris gelangen könnten. Das Mögliche wird möglich gemacht, die drei kommen zurück von ihrem Tagesausflug nach Paris. Und „am darauffolgenden Tag, in der letzten Aufführung der ‘Drei Schwestern‘ hätten die Schauspielerinnen ihr ‚Nach Moskau, nach Moskau!‘ viel inniger, eindringlicher und ergreifender geseufzt als in den ersten Aufführungen … hatten sie doch endlich die Stadt ihrer Träume und ihrer Sehnsucht gesehen.“ Den drei Schwestern allerdings blieb ihr Sehnsuchtsort Moskau verschlossen.
Das leidige Reisethema taucht noch an anderer Stelle auf, in einer Anekdote, in der beschrieben wird, wie persönliche Reiseangebote aus dem Westen abgewiegelt werden mussten: aus gesundheitlichen Gründen, bin schwer erkrankt, bin ans Bett gefesselt usw.
Scham steigt auf, als ich die Geschichte EIN SEHR KRANKER MANN lese und daran erinnert werde, wie ich meinem Schwager mein Nichtkommen zur Beerdigung meiner Schwester in Dortmund begründe. Als Verwandter ersten Grades hätte mir die Teilnahme an der Bestattung zugestanden, doch im Sterbejahr meiner Schwester Renate waren mir als Nichtoppositionellem Reisen „ins nichtsozialistische Ausland“ von der Stasi untersagt. Ich hätte meinem Schwager den wahren Grund meiner Abwesenheit mitteilen können, ja müssen, habe es aber nicht getan, weil ich doch irgendwann mal wieder in den Westen reisen wollte. Nach dem strikten Westreiseverbot von über zehn Jahren erfuhr ich dann auch in der Tat die Gnade, wieder ins NSW reisen zu dürfen.

Angetan von der ersten wird die zweite Anekdote EINE ENTZWEIUNG zugleich gelesen. (Keine Angst, es werden nicht alle 28 Geschichten einzeln besprochen!) Doch, oh Schreck und Weh!, mein bereits umrissenes Bauchgefühl drängt sich wieder nach vorn.
Der Aufstieg des dumpfen Gefühls beginnt mit dem Pfarrerssohn, der er ist, und der „keinesfalls auf eine Oberschule des sozialistischen deutschen Imperiums gehen durfte“. Nicht, dass es in seinem Fall und in vielen anderen Fällen so war, wer wollte diese Ungerechtigkeit bestreiten, aber gab es keine Gegenbeispiele? Frau Dr. Merkel? Richtig, doch bloß hier kein Autoritätsbeweis! Schon deshalb nicht, weil sie eh ihre Raute je nach Bedarf dorthin lenkt, wohin der Wind gerade weht. Als es opportun war, bezeichnete sie positive Äußerungen über die DDR als Nostalgie, heute kann sie den „Frust der Ostdeutschen“ verstehen.
Und wurde die Ungerechtigkeit nicht später gemildert? Wie erstaunt war ich, als ich, schon in Berlin lebend, erfuhr, dass in den 80er Jahren an der Berliner Musikhochschule in Ostberlin fast 30 % der Studierenden Pfarrerskinder waren.
Ganz nebenbei: Großbauernsöhnen, von denen ich einer in der DDR war, wenn auch aus Hinterpommern Ausgesiedelter ohne Haus und Hof, ging es wie Pfarrerskindern. Und dennoch gelang es mir, das Abitur ohne jedwede Beziehungen zu erwerben und zu studieren. Aber gut, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ich will beileibe – bescheiden wie ich bin – kein Gegenbeweis sein. Vielleicht habe ich auch einfach nur mein aufsteigendes Bauchgefühl falsch gedeutet, das sich in Wahrheit erst so richtig bei der dritten Geschichte ES WAR ALLES GANZ ANDERS schmerzhaft entfaltet.
Hein stammt aus Schlesien, ich Umsiedler, Neubürger, Vertriebener wie er. „Ich wurde in Schlesien geboren, und viele in meiner Familie und unter den Freunden meiner Eltern trauerten ihrer Heimat nach, hatten viele Jahre gehofft, in die Städte und Dörfer zurückkehren zu dürfen, in denen sie einst gelebt hatten.“ Und ich zitiere den Verursacher meines schmerzenden Bauchgefühls weiter: „Doch die Regierung der DDR hatte die Vertreibung durch Russen und Polen sanktioniert, bezeichnete die Grenze zu Polen als Oder-Neiße-Friedensgrenze und die aus Pommern und Schlesien Vertriebenen wurden unter der neutraleren Bezeichnung Umsiedler registriert.“ Wenn ich nicht vor kurzem die Bedeutung der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ einem guten Freund, der sein Leben am Beispiel Deutsch-Ossig nachzeichnet, erklärt hätte, wäre vielleicht mein Unbehagen nicht so grenzüberschreitend ausgefallen. Wie kann man so etwas unbesorgt hinschreiben, als existierten die Verträge der Großmächte, der Siegermächte nicht. Auch wenn die DDR zu den drei größten Ländern mit U gehörte – UdSSR, USA und Unsere Republik –, sie hatte nichts zu sanktionieren, was schon im Potsdamer Abkommen festgelegt worden war.
Ich muss keine Rücksicht nehmen auf irgendwelche Leserklientel und kann daher unbeschwert bekennen: Die DDR war gut beraten, einen Schlussstrich unter den 2. Weltkrieg zu ziehen, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, auch wenn es dem ersten Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, und anderen nicht gefallen haben mochte, wie in der besagten Geschichte nachzulesen ist. Nicht weniger bemerkenswert, dass diese Friedensgrenze auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland vom Anfang der Existenz der DDR an zu verteidigen war. Ich bleibe dabei, zu den Positiva der Einvernahme der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland, um mich der kühnen Terminologie Heins frei zu bedienen, gehört die Verankerung der östlichen Grenze im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990. Ihre Nichtanerkennung hätte doch Tür und Tor für Rückeroberungsversuche offengehalten. Auf einem ganz anderen Blatt steht natürlich, dass es sich die DDR leichtmachte und die Verluste, den Verlust von Heimat, das Elend der Vertriebenen ignorierte, ein unmenschliches ‘Tabula Rasa‘ setzte, jegliche Entschädigungsforderung von sich wies. Seien wir doch mal ehrlich, Herr Hein, die wenigsten wollten später wieder zurück, jedenfalls meine vom Krieg geschundene Mutter und Bauersfrau nicht, meine Geschwister nicht, unsere ehemaligen Deputatsleute nicht, aber eine Entschädigung für Haus und Hof, für Erspartes und Gesammeltes schon.
Wie um Himmels willen soll ich meinen Enkeln und Enkelinnen erklären, warum die Schlesier und Schlesierinnen, die Hinterpommeraner und die Hinterpommeranerinnen, die Ostpreußen und Ostpreußinnen die Kriegsschuld allein tragen mussten. Und sollten sich die vom 2. Weltkrieg, was Haus und Hof anging, Verschonten nicht fragen, was sie berechtigte, die schon einmal „Vertriebenen“ in der Ostzone, der späteren DDR, ein zweites Mal von Haus und Hof, aus Festanstellungen, mühselig errichteten Existenzen zu verjagen. Wie anders soll man denn den Elitenaustausch, die Abwicklung der DDR-Institutionen, die volkseigenen Betriebe eingeschlossen, begreifen. Und wieder alles fast entschädigungslos. Dieses FAST muss ich der Wahrheit halber hinschreiben, denn ich erhielt als habilitierter Professor für Deutsch als Fremdsprache an der Karl-Marx-Universität in Leipzig – allerdings erst nach Gerichtsbeschluss – die allen entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Uni Leipzig gewährten10.000 DM – nach fast 30jähriger erfolgreicher Berufstätigkeit. Ein vermeintlicher Treppenwitz der Wendegeschichte, oder muss ich mich bloß dafür schämen, dass ich das Almosen angenommen habe, oder wen müsste dieser mit Zynismus gespickter Vorgang beschämen?
In einem Interview mit Cornelia Geißler, Die Ostdeutschen akzeptieren sich heute mehr als Ostdeutsche (Berliner Zeitung v. 9./10. März 2019) spricht Hein in dieser Frage unumwunden Klartext, der mein Bauchgefühl nunmehr endgültig schwinden ließ, für unfehlbar hatte ich es ohnehin nicht gehalten. „Tausende Hochschullehrer wurden entlassen, und ein Nachwuchs, der eben noch chancenlos war, kam auf hohe und höchste Positionen. Einen solchen Elitewechsel gab es in der Bundesrepublik 1945 nicht, das hatte man vermieden. Der letzte Elitenwechsel, der Tausende und Zehntausende Hochschullehrer betraf, erfolgte im Januar 1935, als das ‚Gesetz zum Neuaufbau des deutschen Hochschulwesens‘ wirksam wurde und Juden, Sozialisten und Kommunisten aus den Universitäten entfernt wurden.“ Und er schließt an, mir zeigend, wie man zumeist hinkende historische Vergleiche schlüssig bemühen kann: „Diesen Elitewechsel von 1935 kann man überhaupt nicht mit dem von 1990 gleichsetzen, das wäre Geschichtsklitterung. Vergleichbar ist freilich der völlige Mangel an Empathie für die Ausgewechselten in diesen Jahren: Man ließ die Hinausgeworfenen gehen, verhöhnte sie und erfreute sich der sich plötzlich auftuenden Aufstiegschancen.“ Vgl. auch!
Im herderblog.net, in dem Sie sich gerade befinden, erfährt diese Kälte sogar mehrmals namentliche Personifizierung: Prof. G. Neuner (Kassel) z.B. hielt sich vornehm aus der Bewertung der Vorgänge im Osten heraus und schrieb mir so nebenbei, dass mein Problem darin bestände, dass ich „vom Herder-Institut und meiner Arbeit nicht loslassen“ könne. Die Kriminalisierungsversuche eines Professors von der Universität Hamburg, der später nach Wien ging, will ich an dieser Stelle – womöglich fahrlässig – unterschlagen.
Christoph Hein bekennt in dem besagten Interview, dass es ihm besser ergangen sei als vielen seiner Kollegen. „Viele Autoren verloren mit der Wende ihre Verlage, die standen auf der Straße – so wie die Arbeiter, deren Betriebe zumachten.“ Volker Braun stellt sich ein: „Das Volk gab sein Eigentum ab und ließ sich die Freiheit aushändigen.“
Auch wenn der Schriftsteller Hein nicht „arbeitslos“ wurde, musste er wie auch Freunde von ihm erfahren, wie versucht wurde, sein / ihr Wirken nach der Wende zu diskreditieren, in Frage zu stellen, zu verdächtigen, zu relativieren, einzugrenzen. Besonders eindrucksvoll nachzulesen in der ziemlich ausführlichen Schilderung seiner Ausbootung bei der Intendanz-Übernahme am Deutschen Theater, das er nach wie vor für eine exzellente Institution hält. Die weitgehend emotionsfrei erzählte Geschichte zeigt, dass der „deutsch-deutsche Krieg“ nicht mit der offiziellen Einverleibung am 4. Oktober 1990 beendet worden ist. Thomas Flierl, Berlins damaliger linker Kultursenator, will den Dramatiker Hein ins Amt bringen, doch der westdeutsche Kulturbetrieb verhindert es, zielsicher zig-zag-schlagend. Sie können halt das Siegen nicht aufgeben. Hein erwägt, das Gericht zu bemühen, um zu seinem Recht zu kommen, fühlt aber eine gewisse Aussichtslosigkeit und lässt es mit sich geschehen – in dieser Anekdote, überschrieben mit dem sarkastischen Titel DER NEGER.

Welche Anekdote ich auch lese, es stellen sich Assoziationen mit meinem Leben und Wirken ein. Nehmen wir nur mal die Geschichte mit der Vereinigung der Parallel-Institutionen, die nach der Wende zusammengefügt werden mussten. Zuletzt kam der Anglerverband dran. Der Vorsitzende des DDR-Anglervereins ist ein Freund von uns. Befreundet sind wir auch mit einem Paar, das während des Studiums die Aufführung des Furore machenden Stückes von Heiner Müller „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“ erlebt hatte. Die Internationale Studenten-Theaterwoche an der Hochschule für Ökonomie in Berlin Karlshorst bildete dafür einen würdigen Rahmen. „Die Uraufführung wurde ein Erfolg, der Autor und der Regisseur wurden umjubelt und das Ensemble feierte – nach den Monaten der Ungewissheit und der Furcht vor einem Verbot der Aufführung – ausgelassen und sehr erleichtert.
In der gleichen Nacht wurden jedoch alle Studenten, die in der Inszenierung auf der Bühne gestanden hatten, einbestellt, sie wurden genötigt, Selbstkritik zu äußern, sich von Autor und Regisseur zu distanzieren und das Stück als konterrevolutionär und antikommunistisch einzuschätzen. Die Parteiführung, wurde ihnen gesagt, vermute eine antisozialistische Verschwörung, der Autor ein Agent des Westens.“

Ach, und das immer wieder von Hein beobachtete Desinteresse am Osten, das ich erst kürzlich wieder in Dresden beobachten konnte: Ein Student aus Schwaben hat offensichtlich seine Eltern zu Besuch nach Dresden eingeladen. Er gibt sich redlich Mühe, ihnen Dresden näherzubringen. Es gelingt ihm nicht. Einfach uninteressiert. Wo werden wir Mittag essen?
In der letzten Anekdote VERWACHSEN werden zwei Damen beschrieben, die „bei jeder Mahlzeit über Autoren und Bücher sprechen“. Befragt, „ob sie auch ostdeutsche Autoren lesen würden, erwiderte eine von ihnen: „Nein, so etwas interessiert uns nicht.“ Und Heins bissiger Kommentar folgt zugleich: „Treffender lässt sich der gegenwärtige Zustand des deutsch-deutsch Verhältnisses – dreißig Jahre nach der Vereinigung – kaum auf den Punkt bringen.“
Die Ignoranz und Arroganz gegenüber ostdeutschen Bürgern, Intellektuellen, kirchlichen Würdenträgern, zeigt sich auch in der Geschichte DER DIAKON UNTER DEN BISCHÖFEN; in dem Gottfried Forck, Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, ein Erinnerungsmal gesetzt wird, „ein unerschrockener Mann, der den staatlichen Organen die Stirn bot“. Dieser Mann, ein Kenner der DDR und erst recht ihrer Menschen, hielt die drakonische Einführung der Kirchensteuer in den neuen Bundesländern nicht für ein probates Mittel, weil er mit Recht befürchtete, dass dieses Gesetz dazu führen würde, dass viele Gläubige oder auch Nichtgläubige in der ehemaligen DDR aus der Kirche austreten würden, weil sie sich von keinem Staat mehr vorschreiben lassen wollten, ob und wie die Kirche finanziell zu unterstützen sei. Es kam, wie vom Bischof prophezeit: „Am meisten schmerzte Forck die nachlassende und dahinschwindende Bindung zwischen Kirche und Gemeinde, die Verbundenheit mit den Gläubigen und der gesamten Bevölkerung, die einst stark war und nun verblasst.“

Zu oft musste ich lesen, dass Hein ein Chronist der deutsch-deutschen Verhältnisse oder so was Ähnliches sei. Ein Dichter, ein Schriftsteller jedoch ist niemals ein Chronist, ja, wenn er sich als Stadtschreiber verdingte oder verdingen müsste, dann schon eher. Und Anekdoten eignen sich überhaupt nicht als Ausweis eines Chronisten, auch wenn sie aus unterschiedlichen Zeiträumen DDR – Wende-, Nachwendezeit – stammen. Liegt mit dieser Attribuierung womöglich eine Herabstufung des Dichters, des Schriftstellers vor? Hein als Person, als sein eigener Biograf, als Zeitgenosse, als Zeitzeuge wären für mich treffendere Dichter-als-Konstruktionen, wenn man nun mal nicht ohne sie auskommen mag. Wie immer man auch Christoph Hein bezeichnet, als Dichter, als Schriftsteller, als Zeitgenosse hat er das Zeug, den großen, immer noch ausstehenden deutsch-deutschen Roman zu schreiben. Die Anekdoten als Vorboten dieses Unterfangens. Freilich fehlen da noch einige, z.B. eine, die die DDR-Vorteilsnehmer ins Anekdotenmaß presst.

Schon an zwei Details könnt ihr sie erkennen

2019 7. April
von Martin Löschmann

Ich gestehe, auf das Dokudrama, den Zweiteiler über Brecht Die Liebe dauert oder dauert nicht und Das Einfache, das schwer zu machen ist, von Heinrich Breloer erst durch die Rezension in Spiegel Online aufmerksam geworden zu sein. Allein schon die deftig formulierte Überschrift: Misslungener Brecht-Zweiteiler Dichter, Denker, Schwein von Wolfgang Höbel (21.03.2019) musste einen, der sich im Studium intensiv mit Brecht beschäftigt hatte und der ihn seither nicht mehr losließ, stutzig machen.

Das letzte Wort im Dreierklang – Schwein – initiierte, ohne die Rezension überhaupt gelesen zu haben, eine bestimmte Assoziation. Wie oft habe ich nicht in meinem Leben gehört: Goethe ein großer Dichter gewiss, wer wollte das bestreiten, aber als Mensch – ein Schwein. Ich dächte, ich hätte auch in meinen Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen (2016) über diese Erfahrung geschrieben. Doch Fehlanzeige. Assoziationen stellen sich weiter unkontrolliert ein, durch bestimmte Reizwörter, bestimmte Kommunikationssituationen. Nach Goethe kommt Heinrich Heine – gewiss ein großer Dichter, nicht zu vergleichen mit Goethe natürlich, aber dennoch auch ein Dichter und Schwein, das an seiner Syphilis elendig – selber schuld – zugrunde ging. Um keine üble Kolportage zu betreiben: Die bösartige Nachrede hält ernsthafter Nachforschung nicht stand, ganz abgesehen davon ist sie in meinem Zusammenhang auch unwichtig, will ich doch einfach nur schreiben, wohin mich die Überschrift der zitierten Rezension treibt:
Mit Breloers Dokudrama scheint das deutsche Dichter-Schwein des 20. Jahrhunderts Bertolt Brecht ausgemacht zu sein. Nachdem ich die beiden Teile gesehen habe, erhärtet sich der über die bloße Kritik gewonnene Eindruck. Der Dichter, der Stückeschreiber, der Regisseur kommen in Breloers Werken eindeutig zu kurz, man könnte fast sagen: so gut wie kaum/nur äußerst fragmentarisch vor. Während indes solche und ähnliche despektierliche Äußerungen von Vertretern des Bildungsbürgertums auf ihre Weise das dichterische Werk anerkennen, gelingt es Heinrich Breloer über weite Strecken nicht, Brechts dichterische und sein Theater prägenden Leistungen ins Bild zu setzen oder sollte ich besser schreiben: in seinem Dokudrama umzusetzen. So gut wie nichts vom epischen Theater, von Verfremdung, dem Aufräumen mit dem Illusionstheater seinen neuen Wegen des Theaterspielens, der internationalen Ausstrahlungskraft, die sich ja keineswegs auf die Gastspiele in Paris und London beschränkte, nichts von der kreativen Diskurskultur bei der Regiearbeit, aber auch nichts von der Spezifik seiner Dichtung, die sich ja durchaus nicht in der ‚Liebeslyrik‘ erschöpft. Dass Brechts neues revolutionierendes Theater nicht plausibel gemacht werden kann, mag auch an der Fehlbesetzung mit Burghart Klaußner als Brecht nach seiner Rückkehr aus der Emigration liegen. Er vermag weder die Persönlichkeit Brechts mit ihrer hohen Strahlkraft, den gewitzten, verschmitzten, anregenden, durchaus widerspruchsvollen, aber immer auch humorvollen vielschichtigen kreativen Menschen Brecht zu verkörpern, schon gar nicht seine offensichtlich magische Anziehungskraft auf Frauen, die sich ihm – wohl mehr oder minder allesamt – zur Mitarbeit anboten und im Umfeld des Theaters ihr Geld und – auch das mehr oder minder – in einem gewissen Maße Respekt verdienten, auf keinen Fall hat er auch nur eine von ihnen vergewaltigt! Helene Weigel dagegen wird von Frau Adele Neuhauser in bestechender Weise verkörpert.

Man merkt schnell, dass es dem Regisseur eigentlich nicht darum ging, Brechts dichterische Erfindungen, Entdeckungen, kreative Schöpfungen, seine intellektuelle Durchsetzungskraft zu erfassen und angemessen darzustellen, darstellen zu lassen, sondern er sich wohl eher im niederen Niveau bestimmter Bildungsbürger und im heutigen Mainstream wohlfühlt. Brecht wird nachträglich der „Me-too-Bewegung“ ausgeliefert. So wie Breloer die für Brechts Leben und Werk nicht unwesentliche Emigrationszeit so gut wie kaum der Berücksichtigung für wert erachtet, sowenig gelingt es ihm, Brechts Frauengeschichten ausgewogen differenziert und vorurteilsfrei zu erzählen. Wozu eigentlich braucht Breloer den ganzen oder fast den ganzen Reigen? Zumal er ja mit den von ihm inszenierten Frauengeschichten nichts Neues ans Licht bringt, sondern sich eher der landläufigen, ätzenden Klischees bedient.

Aber ich will hier keine Rezension schreiben, denn sie könnte auf keinen Fall die von Wolfgang Höbel übertreffen. Die trifft für mich in der Tat den Nagel auf den Kopf, weil er aufzeigt, dass und auch wie Brechts Wirken (vor allem in der DDR-Zeit) kleingemacht und er sogar, nicht zuletzt durch die Konzentration auf seine Liebesgeschichten, aber auch durch die Art, wie sein sicher an bestimmten Punkten diskussionswürdiges Verhalten in der DDR in Szene gesetzt ist, kompromittiert wird. Wie die Inszenierung des Stückes Katzgraben (1953) von Erwin Strittmatter, die sicherlich nicht zu Brechts großen Taten gerechnet werden kann, elegant heruntergezerrt wird, macht das z.B. deutlich. Mag sein, dass der große Brechtschüler Peter Palitzsch die Regie dieses Stücks ablehnte, weil das Werk nicht seinen Ansprüchen genügte, doch Helmut Baierls Frau Flinz, ebenfalls ein Gegenwartsstück, inszenierte er als Co-Regisseur ein paar Jahre später zusammen mit Manfred Wekwerth. Wozu also die Verunglimpfung von Brechts Arbeit an einer womöglichen Schwachstelle, ohne sie näher zu charakterisieren. Ein Schüler Brechts – zugegebenermaßen ein bedeutender – wird als Zeuge für ein unzumutbares Brecht’sches Unterfangen aufgerufen. Er wird allein schon durch die Tatsache legimitiert, dass er 1961 die DDR verließ. Nichts gegen eine kritische Betrachtung, aber sie muss die Kirche im Dorf lassen, Strittmatters Katzgraben, im Blankvers geschrieben, ins Schaffen Brechts einordnen. Auch bei Brecht reiften nicht alle Blütenträume.

Letztlich lässt sich Breloers tendenziöses Walten und Schalten schon an den zwei schlagartig erhellenden Details zeigen, die mich bei seinem Zweiteiler und der begleitenden Dokumentation Brecht und das Berliner Ensemble – Erinnerung an einen Traum jenseits der erwähnten Kritik ansprangen. Bezeichnenderweise erfasst die Dokumentation auch nicht die Emigrationszeit, was ja Sinn machen würde, da sie im Dokudrama kaum vorkommt, sondern die Zweitspanne von 1948 bis 1956. Ganz abgesehen davon, wozu bedarf es einer Dokumentation, wenn der Zweiteiler schon ein Dokudrama ist. Eine Dokumentation der Dokumentation? Gut, diese Spitzfindigkeit lassen wir mal beiseite. Und Geld verdienen will jeder und Breloer offensichtlich viel.

Sowohl im Dokudrama als auch in der Dokumentation wird die unglaubliche Mär verbreitet, das Theater am Schiffbauerdamm habe Brecht nur deshalb erhalten, weil die SED-Führung dem unbequemen Brecht gewissermaßen in dem Sinne ein Bein stellen wollte, dass sich seine neue Art, Theater zu spielen, in einem derart großen Haus totlaufen würde. Die wenigen Zuschauer und Zuschauerinnen würden sich einfach in dem riesigen Gebäude verlieren, so dass Brecht schon einsehen werde, dass sein Theater keine Zukunft hat. Nichts vom Haus in diesem Zusammenhang, in dem Brecht mit der Dreigroschenoper 1928 seinen ersten großen Erfolg gefeiert hatte, nichts von Brechts vermutlichen Ambitionen bei der Bestimmung des Theaters. Ein räumlich großes Theater wäre doch auch die wiederaufgebaute Volksbühne gewesen. Warum wurde die nicht Brecht und seiner Frau Helene Weigel zugewiesen? So aber musste der Intendant Fritz Wisten aus dem Haus am Schiffbauer Damm aus- und in das am Rosa-Luxemburg-Platz einziehen. Was also wird hier dokumentiert?
Auf keinen Fall der tatsächliche Vorgang, aufgezeichnet von Werner Hecht, der im Breloer’schen Werk als Brechtchronist aufgerufen wird. Danach gab es 1953 einen Beschluss des Zentralkomitees der SED, wonach das Theater am Schiffbauer Damm dem Ensemble der Kasernierten Volkspolizei, dem späteren Erich-Weinert-Ensemble, übergeben werden sollte. Brecht erfuhr davon und legte bei Otto Grotewohl, dem damaligen Ministerpräsidenten, Einspruch ein. Dem wurde, wie wir wissen, stattgegeben. (Vgl. Werner Hecht: Brecht-Chronik 1898–1956, Ergänzungen. Suhrkamp, Frankfurt/M 2007, ISBN 3-518-41858-0, S. 118)

Das zweite für mich aufschlussreiche Detail ist persönlicher Art. Da wird in der Dokumentation der Name Professor Kuckhoff, Professor der Theaterwissenschaft, zitiert, ohne näher auf ihn einzugehen, aber unterstellt, dass er Studenten zum Praktikum ans Berliner Ensemble mit dem Ziel geschickt hätte, Brechts-Theater auszuspionieren. Hätte man es nicht selber gehört und gesehen, man würde nicht glauben, dass ein so renommierter Mann wie Breloer auf so plumpe Art und Weise arbeiten würde.
Ich war Student bei Professor Mayer an der Leipziger Universität, der Brecht für so bedeutend hielt, dass er ihm eine ganze Vorlesungsreihe noch zu dessen Lebzeiten widmete, und kam im 2. Studienjahr in den Genuss, ein Praktikum am Berliner Ensemble absolvieren zu dürfen. Auch wenn man hätte etwas
ausspionieren wollen, es gab dazu gar keine Möglichkeiten, alles war bis ins Einzelne geregelt: Das Archiv war nicht zugänglich, man konnte Wünsche äußern, aber Verschlusssachen waren nicht zu haben. Beobachtung von Proben nur von ganz oben – weit weg und lautlos. Man konnte nachlesen, was eigentlich bekannt war. Dennoch, für einen Studenten gab es genug zu entdecken, und man konnte schon das Theater, das aufregende und anregende Fluidum und Brecht mit seinen Jüngern erleben – es wurde wohl Galilei geprobt, einfach großartig, ein prägendes authentisches Erlebnis. In meinen „Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen“ stellt sich mein Praktikum so dar:

„Ich fühlte mich auserkoren und erhoben, als ich am weltberühmten Theater ein Praktikum absolvieren durfte. Etwa ein Jahr zuvor hatte sich eine kleine Gruppe Diplomgermanisten, begeisterte Brecht-Anhänger, dem Meister genähert und sich als Mayer-Schüler empfohlen. Brecht fühlte den Studenten auf den Zahn und stellte offenbar seine Hohlheit fest, denn sie erwiesen sich weder als bibel- noch als antikefest. Der Stückeschreiber hatte offensichtlich nichts Besseres zu tun, telefonierte mit Mayer und beklagte sich bitter über die Unzulänglichkeit der humanistischen Bildung seiner Studenten. Beiden zu unterstellen, sie hätten die Studenten nicht wegen fachlicher Fehlstellen, sondern wegen ‚ideologischer Schieflage‘ behelligt, ist schlichtweg unlauter. Kann es wirklich jemanden verwundern, dass Professor Mayer, der großen Wert auf gesellschaftliche Hintergründe, geistig-kulturelle Zusammenhänge, Einflüsse der Antike, auch der Bibel auf die deutsche Literatur legte, aufgebracht war. Er bestellte die betreffenden Studenten nächsten Tages zu sich, putzte sie runter und verdonnerte sie zu einem Extrakolleg. Wie dieses Warnbeispiel, das Mayer genüsslich ausweidete, jemanden dazu führen konnte, seine Verdienste um Brecht zu schmälern, ja wegzuwischen, kann nur Gerhard Kluge selbst erklären, ihm war durch den Vorfall „mitsamt Mayer“ auch „Brecht verleidet“. Ganz gleich, wie man die Episode erinnert, sie kann kaum herhalten, sich Brecht verleiden zu lassen, schon gar nicht, wenn man sich einen Namen als Literaturwissenschaftler machen will und gemacht hat.
… Das Praktikum hatte für mich weitergehende Konsequenzen: Prof. Mayer hatte ein verdammt schwieriges, nichtsdestoweniger interessantes Diplom-Thema für mich vorgesehen: Brechts Stellung zur deutschen Klassik. Zu dem Thema, das Ausmaße für eine Dissertation hatte, gab es kaum Sekundärliteratur. Eine Konsultation beim Meister war über alle Maßen kurz, es blieb keine Zeit, mehr als eine Frage zu stellen. Vielleicht auch hatte ich meine Frage falsch gesetzt, eingeschüchtert war man Mayer gegenüber ohnehin. Und Armin-Gerd Kuckhoff hatte kein Ohr für meine Sorgen mit Brechts Beziehung zur deutschen Klassik, ein damals für ihn völlig abwegiges Thema.“
Armin-Gerd Kuckhoff war in der Tat ein Stanislawki-Anhänger, über den in meinen Erinnerungen geschrieben steht:
„Armin-Gerd hatte sich mit Beginn seiner theaterwissenschaftlichen Laufbahn dem psychologisch-naturalistischen Illusionstheater von Konstantin Serge-jewitsch Stanislawski verschrieben, genauer gesagt: der Stanislawski-Methode, die fraglos den europäischen und auch amerikanischen Aufführungsstil nach dem New Yorker Gastspiel Stanislawskis mit dem Moskauer Künstlertheater 1923 nachhaltig beeinflusste. Uns Studenten und Studentinnen schien diese Methode zu stark ideologisch motiviert, jedenfalls in der Form, wie sie in der DDR damals gehandhabt wurde. Später öffnete sich auch die Leipziger Theaterhochschule dem großen Theatermann Brecht. Er war, gerade weil er sich vom Illusionstheater abwandte, unser Mann, das Berliner Ensemble ein Wallfahrtsort, eine Kultstätte, um ein abgegriffenes Wort unserer Gegenwartssprache zu gebrauchen.“
So ging es auch vielen Theaterstudenten und -studentinnen, die u.a. bei Kuckhoff studierten. Da gab es für sie nichts auszuspionieren. Keine Frage, sie werden Beobachtungsaufgaben zur neuen Art des Theatermachens gestellt bekommen haben, vielleicht sogar die Aufforderung, Unterschiede im Vergleich zur Methode des russischen Regisseurs und Theatertheoretikers Konstantin S. Stanislawski, die vor allem auf völlige Identifikation des Schauspielers/der Schauspielerin mit der Rolle beruhte, herauszufinden. Ich weiß natürlich nicht, welche Aufgaben die Studierenden von der Theaterschule im Reisegepäck hatten, aber eines weiß ich ganz gewiss, Prof. Dr. Armin-Gerd Kuckhoff hat keine Spione ins Berliner Ensemble geschickt, mag er in der fraglichen Zeit noch so sehr an einem Stanislawski-Katechismus gehangen haben. Und es bleibt dabei, was in meinen unerhörten Erinnerungen geschrieben steht. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Prof. Mayer, bei dem er später promovierte, fand Armin-Gerd auch zu Brecht, wenn auch kritisch.

Herr Breloer, ich gebe zu, die ausgewählten zwei Details, die mir besonders aufgefallen sind, mögen für Sie vielleicht Lappalien sein. Für mich nicht, weil sie sich einreihen in die befangenen Darstellungen von DDR-Wirklichkeiten. Ich weiß nicht, ob Sie das „große Porträt eines großen Intellektuellen“ anstrebten, wie es Wolfgang Höbel mutmaßt, „herausgekommen ist“, um noch einmal Höbel zu zitieren, in der Tat ein „wackliges TV-Stück über einen eitlen Geck und ewiggeilen Dichterfürsten“, der sich – und das sind jetzt meine Worte – in der DDR zu seinem kreativen Nachteil hat verbiegen lassen.

Ja, Ostdeutschland findet mal wieder statt

2019 24. März
von Helmut König

Vorbemerkung von Martin Löschmann:
Der diesem Blog bekannte Beiträger Helmut König hat vor Kurzem einen Kommentar zu Löschmanns Beitrag „Nachtigall, ich hör dir trapsen“ geschrieben. Da Königs Kommentar grundlegende Ausführungen zu der von ihm aufgeworfenen Problematik enthält, wird er in den Rang eines selbständigen Beitrags gehoben.

… Ich beziehe mich auf die von dir erwähnte Studien „Wer beherrscht den Osten“, vom MDR an die Leipziger Uni in Auftrag gegeben. Sie liegt mir vor. Ich habe sie auch durchgelesen. Große Neuigkeiten waren nicht zu erwarten, da wir ja mit diesem Blog eigentlich immer wieder auf die Problematik verwiesen haben. Jetzt so zu tun, als wäre die ostdeutsche „Elite“ nicht verfügbar, wie es auch andere Veröffentlichungen immer wieder zum Thema gemacht haben, ist schon bemerkenswert scheinheilig. Wenn dieser Umstand aber auch noch Verwunderung hervorruft, fehlen einem die Worte.
Du hast den Elitenwechsel und die Verdrängungsstrategie der ostdeutschen “ Elite“ durch westdeutsche „Helfer“ erwähnt, und wir haben dies alles hautnah erleben dürfen. Es ergibt sich die Frage, warum dieses Dilemma immer noch besteht, und wenn man der Studie glauben schenken darf, hat sich dieses ‚Manko’in einigen Bereichen sogar weiter vertieft. Auch das bezeugt die Studie, wenn sie die Jahre 2004 und 2015 vergleicht. Es ist kaum ein wesentlicher Erfolg hinsichtlich einer umfangreicheren Beteiligung ostdt. Eliten an der Gestaltung und Führung wesentlicher gesellschaftlicher Prozesse erreicht worden.
Meiner Meinung nach gibt es dafür mehrere Gründe:
Einer liegt darin, dass man vor allem Anfang der neunziger Jahre ostdeutschen Intellektuellen bzw. ostdeutschen “ Eliten“ politisch eliminieren wollte, weil sie eben zu lange loyal zur DDR stand.
Die in den Universitäten und Hochschulen z.d.Z. stattgefundenen Evaluierungsvorgänge waren ein Mittel, Führungspersonal auszutauschen.
Das war in erster Linie von der Politik genauso gewollt, wobei sogenannte „rote Listen“ bereits vorher „evaluierten“, wer auf keinen Fall weiter zu beschäftigen ist. Da spielten fachliche Eignungen eine zumindest untergeordnete Rolle. Auch das war gewollt, dass bestehende westdt. System des Hochschulwesens der ehemaligen DDR überzustülpen, ohne zu überlegen, wie man vielleicht auch neue Wege hätte gehen können.
Die Studie bescheinigt, dass es darüber „keinen gesellschaftlichen Diskurs“ gab.
Wie dieser Elitentausch stattfand, hat ein Beteiligter ziemlich selbstkritisch in der „Zeit“ vom 7. April 95 unter dem Titel „Verschleudert und verschludert. Ein Mittäter zieht selbstkritisch Bilanz“ dargelegt, wenn er von den „Minderbemittelten, Fußkranken und Bedächtigen, die am Wegesrand lagern, den müden Wiederkäuern und Uninspirierten“ spricht.. „Sie alle haben mit der Wende die große Chance erhalten. Häufig war sie zu groß für die geringe Fassungskraft der Begünstigten. …Unhabilitierte Sitzenbleiber eigneten sich von heute auf morgen den Habitus des Großordinarius von vorgestern an. …Ausgebrannte Heimwerker kostümierten sich als Fackelträger der Freiheit und berechneten den Ossis die Kosten“. Dieses Zitat von Prof. Dieter Simon, von 89 bis 92 Vorsitzender des Wissenschaftsrates, der maßgeblich an der Evaluierung ostdt. Hochschulen beteiligt war, trifft ziemlich genau das Problem, wenn auch etwas drastisch, aber er muss es ja wissen.
Wenn auch viele Osdt. geglaubt haben, dass eine Durchmischung von Personal stattfindet, wobei Ideen und Konzepte entwickelt werden, die die Gesellschaft voranbringen und in allen Teilbereichen „blühende Landschaften“ gemeinsam schaffen, so machte sich Mitte der neunziger Jahre immer mehr Resignation in der Bevölkerung breit, weil jetzt deutlich wurde, dass es eine Durchmischung unter dem Vorzeichen der Gemeinsamkeit nicht gab. Das führte u.a. dazu, dass die Ostdt. die Deutungshoheit über die weitere eigene Entwicklung verloren und sie sich fremdbestimmt fühlen. Was nicht zu weit hergeholt ist, wenn man in den neunziger Jahren durchaus von einer „Ostkolonisierung“ in Westdtl. sprach. Jürgen Agelow geht in seinem Büchlein „Entsorgt und ausgeblendet“ davon aus, dass „ca. 60% des Personals der ostdt. Hochschulen und ebensoviel der außeruniversitären Akademieforschung …sowie durch das Wirken der Treuhandanstalt- etwa 85% der Industrieforschung abgebaut“ wurden. (S.105)
Wenn die o.g.Studie feststellt: „Eine adäquate Repräsentanz der ostdt. Wohnbevölkerung in den ostdt. Eliten findet sich nirgends. Nur etwa 23% beträgt der Anteil Ostdt. innerhalb der ostdt. Elite – bei 87% Bevölkerungsanteil.“
Die Feststellung, dass man bundesweit nur 1,7% ostdt. Führungspersonal bei 17% Bevölkerungsanteil bundesweit findet, ist dann natürlich wenig überraschend.
Wenn man die gesamte mediale Veränderung im osdt. Einflussgebiet näher betrachtet, erkennt man klar, dass ein eigenständiger neuer medialer Aufbruch gar nicht zur Debatte stand. Was die betroffenen Ostdt. dachten und fühlten, wurde nur über die „westliche Brille“ vermittelt. So konnte beim besten Willen kein Miteinander – übrigens bis heute nicht – entstehen. Dazu Angelow: „Zwar hatte es im Herbst 89 Versuche gegeben, aus der Konkursmasse der DDR…eine eigenständige ostdt. Medienkultur mit eigenen Deutungsangeboten zu etablieren, doch diese Ansätze wurden von den westdt. Medienkonzernen postwendend unterbunden.“(S.119) Damit verloren die Ostdt. die Chance, einen adäquaten „professionellen Gegendiskurs“ (Angelow S.119) zu entwickeln.
Ohne auf die massive Deindustrialisierung durch die Treuhand im Osten näher einzugehen, ist zu fragen, was noch übrigblieb? Angelow präzisiert dies mit dem Hinweis, dass „parallel zur fast vollständigen Umverteilung der materiellen Güter, Liegenschaften und Vermögen sich ein ebenso massiver sozialer Enteignungsprozess der Ostdt. vollzog.“ Es nimmt also nicht Wunder, dass so viele Biografien ehemaliger Entscheidungsträger und ostdt. Intellekueller jäh
unterbrochen und sie so in vielen Fällen um ihre Lebensleistung betrogen wurden. Auch deshalb, weil sie keinen Einstieg mehr in den „ersten Arbeitsmarkt“ fanden. Die durch die wesdt. „Helfer“ besetzten Stellen waren für Ostdt. auf lange Zeit verloren und sollten es bis heute bleiben. Die „Helfer“ bildeten natürlich im Laufe der Jahre selbst Netzwerke, die für Ossis nur selten zu durchdringen waren und sind. Das trifft auch auf den ostdt. Nachwuchs zu, der im Zweifelsfall der westdt. Konkurrenz hintenangestellt wird. Auch in der besagten Studie geht man davon aus, dass dieser Prozess noch viele Jahre Bestand haben wird. Das heißt nichts anderes, als dass die Meinungsführerschaft in allen gesellschaftlich relevanten Fragen von Westdt. beansprucht wird. Die Ostdt. werden so marginalisiert und die Westdt. bleiben unter sich, eine Integration findet kaum statt. Da darf man sich nicht wundern, dass die Zustimmung der Ostdt. zu den Fragen, die die „Meinungsführer“ in den Medien und den politischen Institutionen anregen und beschließen, nicht euphorisch ausfällt. Der Graben wird so nur noch vertieft! Das ist das Ergebnis nach 30 Jahren des gesellschaftlichen Umbruchs auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

Nicht zuletzt wurde dieser Prozess durch die politische und moralische Überheblichkeit der westdt. Politik bzw. der Medien nach der Vereinigung begleitet, indem man den Ostdeutschen bescheinigte, nicht die anstehenden Veränderungen mit gestalten zu können, ihnen fachliche Kompetenz absprach und unterstellt, es mangele ihnen an Entscheidungskraft. Ich erinnere hier an unseren gemeinsamen, kürzlich verstorbenen „Freund“ Arnulf Baring, der sich über die „Verzwergung“ und „Verhunzung“ der Ostdeutschen in seinem Buch „Deutschland was nun“ breit ausließ. Mit seinem Zitat: „Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar“(S.59) hat er sich ein zweifelhaftes Denkmal gesetzt. Einen Aufschrei gegen dieses Elaborat jedoch, habe ich nirgendwo vernommen. A.a.O. lässt Baring Jobst Siedler folgende Aussage machen: „Mein Vergleich (gemeint war die DDR) läuft darauf hinaus, dass man nach 1945 im Westen nur Hitler und seine Herrschaftsinstrumente, die Spitzen der Partei und der SS beiseite räumen musste, und hinter all den Zerstörungen des Krieges kam eine wesentlich intakte Gesellschaft zum Vorschein.“ (S. 57) Im Umkehrschluss heißt das, dass es im Osten dagegen gar keine intakte Gesellschaft gab. Die musste man erst durch westdt. Helfer aufbauen, so der Tenor. Das geschah dann mit dem Beitritt der DDR nach Artikel 23 GG. Einen Gestaltungsspielraum für diesen Umbruch gab es für die Ostdt. damit nicht mehr, da die Rahmenbedingungen des Einigungsvertrages dies auch gar nicht vorsahen. Wie sagte Schäuble so treffend: „Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an.“

Auch Angelow geht in seinen Buch auf den Umgang mit den NS-Eliten in beiden dt. Staaten ein, in dem er schreibt: „In der Bundesrepublik war der Grad der Verquickung der alten NS-Eliten mit dem neuen System viel größer. …Viele der ehemaligen Nazis haben die Gesellschaft der BRD mit ihrer antikommunistischen Grundstimmung verseucht, …dass sie bis heute in der Gesellschaft nachwirkt, sodass man auf dem „rechten Auge“ oft etwas blinder ist als auf dem linken“ (S.63). Dies hat zweifellos das Misstrauen gegenüber den Ostdt. und ihrer Eliten verstärkt.
Inwieweit sich solche Ressentiments durch die wesdt. „Helfer“ in den östlichen Bereich auswirken, ist nicht quantifizierbar, aber wahrnehmbar schon. Dass eine DDR-Sozialisation per se jedoch dazu führt, rechtem Gedankengut zu verfallen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ohne Pegida oder AfD zu unterschätzen, meine ich, dass viele ihrer Anhänger enttäuscht von der 30jährigen „Erfolgsgeschichte“ des Einigungsprozesses sind. Und vergessen wir nicht, dass die Spitzenleute der AfD im Bundestag ebenfalls Westimporte sind.

Nachtigall, ick hör dir trapsen

2019 5. Februar
von Martin Löschmann

Nein, ich fange nicht an zu berlinern. Aber diese, auf ein altes, heute kaum noch bekanntes Volkslied „Frau Nachtigall“ zurückgehende Wendung (wie mich Wikipedia belehrt), drängte sich irgendwie auf. Immerhin soll es in Berlin 1500 Nachtigall-Reviere mit rund 3000 Exemplaren geben. „Das sind mehr als in ganz Bayern.“ (Morgenpost)

Ist Ihnen auch aufgefallen, der Osten, der Osten Deutschlands, die neuen Bundesländer, die Neufünfländer, Ostdeutschland, die östlichen Länder finden mal wieder in der offiziellen Politik und damit in den Medien größere Aufmerksamkeit als normalerweise?

Wie sich das zeigt?

Auf einmal – wie aus heiterem Himmel – wird festgestellt: „von aktuell 14 Unterabteilungen (in der Bundesverwaltung) werde lediglich eine von einem Ostdeutschen geleitet. (Klar zudem: ein Mann – ML). Außerdem kamen dem Sprecher zufolge seinerzeit von insgesamt 101 Referats-, Fachbereichs- und Sekretariatsleiterinnen und -leitern nur vier aus Ostdeutschland.“ *

Oh Schreck und kein Weh, die Präsidenten der obersten Ostgerichte sind sogar zu 100 Prozent Westdeutsche. Immer noch! Klar: Nur Männer.
Es gäbe noch -zig Beispiele, aber wozu sich um Details kümmern, wenn man doch weiß, zwei Drittel der Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Justiz und Wirtschaft in Ostdeutschland werden von Westdeutschen besetzt. (Nach einer Untersuchung, die die Leipziger Universität im Jahr 2015 im Auftrag des Mitteldeutschen Rundfunks durchführte.*)

Das aber soll nun, ab jetzt, ab 2019 anders werden:
– Die Grünen fordern, mehr Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen nach Ostdeutschland. Bravo – nach 30 Jahren endlich. Was Besseres ist Ihnen nicht eingefallen. Gegenrede: Besser als gar nichts!
– Die SPD will für die Ostdeutschen mehr soziale Gerechtigkeit durchsetzen. Oh, das klingt gut, mehr soziale Gerechtigkeit, aha, denn „Grundgerechtigkeit“ ist ja schon da. Herz, was willst du mehr, nur noch ein Luxusproblem: mehr, mehr, mehr Gerechtigkeit – und das schon nach 30 Jahren!
– Die Linke will die Ungerechtigkeit im Osten nicht hinnehmen. Klingt schon besser. Man kann von der Linken sagen, was man will, sie hat sich von Anfang an gegen den Kahlschlag ostdeutscher Eliten gewehrt. In dem Buch Gregor Gysi, Ausstieg Links* lässt sich Gregor Gysi fragen, was in der Geschichte von ihm eines Tages geblieben sein wird. Stolz hebt er seinen Anteil an der Überführung der Eliten aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland hervor. Wie wahr: „Es gab keine andere Partei, die sich dieser Aufgabe stellte. Übrigens zunächst auch kein Medium. Das war äußerst schwierig, und ich glaube, dass es einigermaßen gelungen ist.“ Nur Letzteres est dubitandum.

Sie fragen mich doch bestimmt nicht, warum in diesem Jahr solch auffällige Geschäftigkeit gen Osten?

Die Antwort liegt zu offensichtlich auf der Hand: Es ist nicht Showtime, das auch, im Herbst 2019 wählen Sachsen, Brandenburger und Thüringer neue Landtage.
Es ist geradezu unabdingbar, man muss sich in Position bringen, anders geht es nicht. Aber ob man durch solche ad hoc-Enthüllungen, Forderungen und Versprechungen punkten kann, ob man auf diese Weise die Wähler zuhauf gewinnt und etliche von der AfD zurückholt, möchte ich bezweifeln. Nicht zuletzt deshalb, weil die westdeutsche Fremdbestimmung, die Nichtanerkennung in der DDR entstandener Biografien, die sich jenseits der verhältnismäßig kleinen Opposition, die nicht genug gewürdigt werden kann, entwickelten, haben tiefe Spuren hinterlassen. Und die können nicht allein durch vermeintlich gute Forderungen 30 Jahre später beseitigt werden. Schon gar nicht, wenn man sich nicht ehrlich damit beschäftigt, wie sich das Wahlverhalten in den ostdeutschen Ländereien und warum es sich so entwickelt hat. Solange man hinter vorgehaltener Hand DDR mit „der dumme Rest“ identifiziert, wird sich die ‚Flüchtlingsbewegung‘ nicht nur weiter in Richtung Westdeutschland bewegen, sondern auch hin zur AfD.
Es muss einfach zu denken geben und es gibt inzwischen, wenn auch offensichtlich nicht genügend Menschen, die sich fragen, warum die westdeutsche Elitendominanz nach 30 Jahren immer noch herrscht. Darüber lässt sich freilich trefflich streiten. Einer der Gründe scheint mir plausibel der folgende zu sein:
Der zum Teil staatlich sanktionierte unlautere Verdrängungskampf im Prozess der Wende, der bekanntermaßen dazu führte, dass sogar international anerkannter Vertreter und Vertreterinnen der DDR-Elite ausgeschaltet, an die Peripherie gedrängt wurden oder sich gezwungen sahen, neue, andere Wege zu beschreiten. Die, die sich im Osten mit rabiater Gewalt und kräftigem Ellenbogen durchsetzten, besser: festsetzten, waren dabei mit Verlaub häufig nicht gerade die Besten. Sie sicherten ihre Pfründe mit aller Macht und allen Raffinessen. Bei Ausschreibungen z.B., die unverzichtbar sind, lassen sich die Vergaben unter der Hand oft nicht nachweisen. Ein westdeutscher Intelligenzler macht doch keinem ostdeutschen Platz, den hat er ja womöglich vor Jahr und Tag höchstpersönlich in die Wüste gejagt.
Überdies: Der Vergleich mit Kolonialherren hinkt, hinkt sehr, aber zu einem Teil dann wiederum auch nicht: Die sich aus der bewussten, mit viel Geringschätzung, auch Diffamierung ostdeutscher Eliten verbundene bewusste Etablierung westdeutscher Eliten zweiter Klasse ohne Ansehen der Person im Geläuft der Wende erneuert sich aus sich selbst.
In diese Vorgänge muss man hineinleuchten, ohne Besinnung auf die historischen Vorgänge, die zu Enttäuschung, Verzweiflung, Negierung der Verbesserung der Lebensbedingungen im Osten führten, wird es kaum gehen. Fehlersuche allein hilft da noch nicht weiter, denn es handelte sich um die klar erkennbare Strategie der CDU/CSU zur Verteuflung der DDR-Eliten, die leider von der SPD mitgetragen wurde.

Wie sie sich im Falle des Herder-Instituts in Leipzig auswirkte, kann man in diesem bescheidenen Blog nachlesen, Sie liegen nicht falsch, wenn mein letzter Satz noch einmal die Nachtigall aufruft, und Sie sie trapsen hören.

Nachtrag:
Und wie passt mein Kommentar vom 4. Februar 2019 zu den obigen Ausführungen?

Ich gebe zu, das Thema Plagiate ist für mich abgehakt, wohlwissend, die Vorwürfe und Aberkennungen von Doktorgraden werden vorerst nimmer aufhören. Doch das Spiel mit der Raterei, wer ist der nächste Kandidat, ist aus, aus, aus.
Indes: Spiegel online überfliegend, stoße ich am 4. Februar auf die Meldung und kann es nicht lassen, sie in den Blog zu transformieren:
FU Berlin entzieht dem durchaus bekannten Berliner CDU-Politiker Frank Steffel wegen Plagiate den Doktortitel.
Es sind vor allem Politiker und Politikerinnen aus dem Westen, die es trifft. Doch mal eine erfreuliche Nachricht.
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*http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Politik/Neue-Abteilungsleiter-der-Bundestagsverwaltung-sind-ausschliesslich-Westdeutsche)
*http://www.ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Politik/Neue-Abteilungsleiter-der-Bundestagsverwaltung-sind-ausschliesslich-Westdeutsche
*Gegor Gysi, Ausstieg Links? Eine Bilanz. Nachgefragt und aufgezeichnet von Stephan Hebel. Frankfurt/Main: Westend 2015, Ebook Edition, S. 31f.

Die Suche geht weiter – Jetzt geht es um die Zweigstelle Radebeul

2018 18. September
von Martin Löschmann

sehr geehrte damen und herren,

ich lebe in radebeul und lernte hier durch zufall herrn ali showkat
(ehemals bangladesch, jetzt kanada) kennen, der im rahmen einer
rundreise durch europa auch das ehemalige herder-institut radebeul
aufsuchte, an dem er 1976 drei monate lang deutsch gelernt hatte. er
wollte bei dieser gelegenheit auch frau ingrid und herrn günter
(günther? gunter? gunther?) rosenkranz besuchen, die damals in diesem
radebeuler instutut gearbeitet und auch in der hiesigen borstraße
gewohnt haben. leider konnte keiner der heutigen nachbarn sich an diese
familie erinnern. herr showkat bat mich inständig, die suche fortzusetzen.

nun stieß ich auf ihren blog und hoffe, dass sich jemand an herrn
und/oder frau rosenkranz erinnert und einen hinweis geben kann, wo die
beiden heute wohnen (bzw. ob sie noch leben).

für ihre unterstützung bedanke ich mich in herrn showkats namen ganz
herzlich im voraus.

kerstin zimmermann

Wer kann helfen?

2018 7. September
von Martin Löschmann

Sehr geehrter Prof. Löschmann,

ich bin so glücklich, diesen Blog (http://herderblog.net) zu finden und Sie zu kontaktieren.
Mein Name ist CHANG und werde in naher Zukunft eine Doktoratsstudie in Berlin an der FU Universität beginnen.
Mein Dissertationsthema bezieht sich auf das „Herder-Institut, Ausländerstudium (1952 ~ 1962)“ in der DDR-Zeit und
besonders über „Nordkoreaner“ unter den Ausländern, die zu dieser Zeit in der Universität Leipzig studiert haben.

Zurzeit suche ich nach damaligen Dozenten in der Karl-Marx-Uni, Leipzig oder den Leuten,
die mit nordkoreanischen Studenten etwas zu tun haben (1952 ~ 1962).
Auch sammle ich zu dieser Zeit die Daten über nordkoreanischen Studenten.

Vielleicht kennen Sie die Leute, die mir in dieser Hinsicht helfen können?
oder haben Sie irgendwelche Informationen, die Sie mir geben können?
Als Referenz wohne ich im Moment in Berlin.

Vielen Dank!
Ich warte auf Ihre Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

NamJu