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Vaterbilder

2019 16. November
von Michael Thormann

Der 30. Jahrestag des Mauerfalls war Anlass zu vielfältiger Bilanzierung der deutschen Einheit. Kaum jemand bestreitet, dass viel Positives erreicht wurde, dennoch war überall von zunehmenden ostdeutschen Abwehrreflexen zu lesen. „Die hohen Zustimmungswerte für die AfD und die beträchtliche Anhängerschaft für die Linkspartei […] demonstrieren, wie sehr sich die nostalgische Sehnsucht nach Überschaubarkeit und festen eigenen Rollenbildern in den ostdeutschen Ländern ausbreitet.“ (FAZ, 29.7.19) Erklärungsversuche nehmen verstärkt das Verhältnis der Generationen in den Blick. So fragt nicht nur die jüngere Generation nach der Rolle ihrer Eltern in der DDR (Johannes Nichelmann, Nachwendekinder: Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, 2019). Sondern auch die ältere Generation blickt zurück auf ihre Kindheit in den 50er Jahren, die oft mit Bindungsdefiziten verbunden war, weil der Vater entweder gar nicht oder psychisch beschädigt aus dem Krieg heimkehrte. Nach Herbert Renz-Polster sind seelische Nöte in der Kindheit der ideale Nährboden für autoritäres Denken (Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, 2019) Wenn es stimmt, dass die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland ohne den Blick in die Kindheiten der jeweiligen Generationen kaum zu verstehen sind (Vgl. Spiegel, 13/2019, S.44-45), dann leistet auch das folgende Buch einen Beitrag dazu.

Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter

Umtausch leider nicht möglich

Der Vater war an der Westfront, wurde aber wegen Krankheit noch vor Kriegsende nach Hause geschickt. Dort lag er meistens auf der Couch, rauchte filterlose Zigaretten und glotzte in den Fernseher, am liebsten Sport, obwohl er alles andere als sportlich war. Die Bierflasche war immer dabei. Er war lange der ‚Ernährer‘ der fünfköpfigen Familie, nahm aber von seinem Gehalt fast die Hälfte für sich. Mit Arbeit im Haushalt gab er sich nicht ab, aber beim Essen bekam er die besten Stücke. Den wenigen Spargel aus dem Garten aß er ganz allein, seine Familie schaute zu. Am liebsten war er im Garten und werkelte ein bisschen. Hier konnte er auch die Schnapsflasche besser verstecken. Seine Kinder mussten immer Bier holen, 20 Flaschen für das Wochenende. Weil sie sich dafür schämten, kauften sie es in verschiedenen Läden. Er kümmerte sich normalerweise nicht um die Schule. Wenn er aber doch mal Hausaufgaben mit seinen Söhnen machte, schlug er zu, wenn die Kinder etwas nicht sofort verstanden. Unter ihren Stühlen bildete sich eine Pfütze. Als die Mutter einmal im Krankenhaus war, musste er die Lehrerin empfangen. Während des Gesprächs im Wohnzimmer saß er in lumpigen Sachen im Sessel, neben sich eine Batterie Bierflaschen, rauchte und wischte sich schniefend mit dem Handrücken die Nase. Den Kindern war es peinlich, denn nun wusste auch die Lehrerin, dass ihr Vater keine Manieren hatte. An zärtliche Gesten zwischen den Eltern können sich die Kinder nicht erinnern, wohl aber an das verweinte Gesicht ihrer Mutter. Als sie nach seinem Tod sah, dass nicht nur das Konto leer war, sondern auch sämtliche Ersparnisse fehlten, waren keine Tränen mehr übrig. In seinem Nachlass fand sich eine eidesstattliche Erklärung eines Arbeitskollegen, dass der Vater den Hitlergruß wiederholt verweigert habe und deshalb verwarnt worden sei. Den ihm unterstellten Fremdarbeitern soll er mehr Essen als erlaubt gegeben haben. Man rechnete ihn deshalb insgeheim zum Widerstand. – Den Respekt seiner Familie hatte er lange vorher verspielt.

„Schade, dass man so einen Vater nicht zurückgeben kann“, meinte Hagen Blankensiefen über seinen Kriegsvater, dem er Depressionen und ein Leben als Einzelgänger zu verdanken hatte. Sabine Bode hat – bis auf eine Ausnahme – ähnlich bittere Berichte von Nachkriegskindern über ihre Kriegsväter in acht Kapiteln ausgebreitet, kommentiert und fünf davon ausführliche Interviews von Zeitzeugen oder Wissenschaftlern – am interessantesten das mit dem Historiker Sören Neitzel – zugeordnet. Ziel war es, die zerstörerische Kraft des Krieges zu zeigen, noch lange, nachdem der letzte Schuss gefallen war. Psychische Schädigungen unterschiedlicher Art gab es in beiden Generationen. Weil die Kriegsteilnehmer als Väter versagt haben, konnten auch die Kinder oft kein normales Leben führen.

Was die Ostdeutschen betrifft, so gab und gibt es nicht „Die DDR-Variante“ (Kapitel 6). Die zwei vorgestellten Fälle sind Varianten unter anderen. Leider wird auch in diesem Buch das Klischee von den einfältigen Ostdeutschen kolportiert, die angeblich geglaubt haben, alle Nazis seien nach 1945 in den Westen gegangen. (Birthler / Hülsemann). Die DDR war eine mehrfach gespaltene Gesellschaft, sodass sich allein deshalb generalisierende Aussagen verbieten. Es wird immer gern betont, dass viele Ostdeutsche nach dem Prager Frühling, spätestens aber nach der Biermann-Affäre eine wachsende innere Distanz zum SED-Staat entwickelten und sich in Nischen zurückzogen, was letztlich den Boden für die innere Oppositionsbewegung (Umweltaktivisten, Ausreise-Anträge, Montagsgebete, Proteste beim Luxemburg-Gedenken und in Schulen u.ä.) bereitete. Diese innere Errosion der DDR macht die unterstellte Identifikation der Ostdeutschen mit der offiziellen Geschichtspropaganda unglaubwürdig. Wie repräsentativ waren denn jene „Gleichaltrigen“, die die Autorin „verblüfft“ haben, weil sie keine Probleme mit ihrer Nationalität gehabt und sich auch „wegen der NS-Verbrechen nicht schuldig“ und „als Erben des antifaschistischen Widerstandes“ gefühlt hätten? (S. 30f) Man erfährt leider nichts über den biografischen Hintergrund dieser Leute, der allerdings für eine genauere Bewertung ihrer Aussagen aufschlussreich wäre. Im Übrigen ist diese Haltung inzwischen weit verbreitet, denn 77 % der Deutschen lehnen heute Schuldgefühle wegen des Holocausts ab – so die Ergebnisse einer neuen Studie von Zick / Rees.

Zwar war der ‚verordnete Antifaschismus‘ (Ralph Giordano) Teil der offiziellen Geschichtspropaganda, aber das bedeutet nicht automatisch, dass der Einzelne ihn in den privaten Bereich übernommen hat. Mit anderen Worten: viele wussten, dass ihre Eltern Teil des NS-Systems waren, dass der Vater in der Regel in der HJ und danach Soldat und die Mutter im BDM waren.

Wer es wissen wollte, las das damals mutige Buch „Kindheitsmuster“ von Christa Wolf, in dem die individuelle Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die nicht an „die anderen“ delegierbar war, thematisiert wird. Die mit autobiografischen Zügen ausgestattete Figur der Nelly Jordan wächst mit der NS-Ideologie auf und verfällt ihr: „Der Führer war ein süßer Druck in der Magengegend und ein süßer Klumpen in der Kehle.“ Völlig verblendet und führertreu bis zum Schluss erlebt sie die Flucht aus der Heimat und das Ende des NS-Regimes. Dieses Buch – das auch die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit beschreibt – hat das Gespräch über den gewöhnlichen Faschismus befördert und damit den ‚verordneten Antifaschismus‘ unterlaufen.

Wenn es heißt, dass Nachkriegskinder ihre Eltern inzwischen im ‚milderen‘ Licht sehen (Bode, S.31), dann ist auch hier der ostdeutsche Blick aufgrund der gemeinsamen Erfahrung eines Lebens in der Diktatur ein spezifischer. Weil sie die politischen Zwänge, die begrenzten Spielräume menschlichen Verhaltens und die weitreichenden Konsequenzen einer Verweigerung am eigenen Leib erfahren haben, beurteilen sie das Tun und Lassen der Eltern immer vor der Folie des eigenen Lebens. Wenn ein Wehrmachtssoldat den Befehl erhielt, Teil eines Erschießungskommandos zu sein, und für sich entscheiden musste, zu töten oder vorbeizuschießen und die Konsequenzen zu tragen, dann gleicht das der Erfahrung von Tausenden NVA-Grenzsoldaten, die beim Postengang fast täglich vor der Gewissensfrage standen, ob sie von der Schusswaffe Gebrauch machen, wenn ihr Begleiter versuchen sollte, ‚Republikflucht‘ zu begehen. Das sind Gewissensqualen, wie sie auch Sebastian Haffner beschrieben hat, als er 1933 in einem Wehrsportlager Uniform und Hakenkreuzbinde trug und sich die Frage stellte, was er im Falle eines Kriegsausbruchs tun würde: „Würdest du dein Gewehr wegschmeißen und überlaufen? Oder auf deinen Nebenmann schießen? Der dir gestern beim Gewehrputzen geholfen hat? Nun? Nun??“ Der Vergleich des elterlichen mit dem eigenen Leben geschieht in dem Bewusstsein, dass jeder Mensch nur ein Leben hat und sich in einer historisch-konkreten Situation für einen Weg entscheiden muss, der Leben ermöglicht. Natürlich bedeutet ein ‚wissendes Verstehen‘ keineswegs, alles zu entschuldigen. Sondern es bedeutet vor allem, dass ostdeutsche Nachkriegskinder ihre Eltern weniger von oben herab sehen und mit moralischer Entrüstung weit vorsichtiger sind als Menschen, die mit ihren Eltern keinen gemeinsamen strukturellen Erfahrungsraum teilen.

Von daher rührt auch das Misstrauen vieler Ostdeutscher, wenn sie mit westdeutscher Überheblichkeit konfrontiert werden, nach dem Motto: Wie konntet ihr 45 Jahre eine Diktatur ertragen? Dazu Margarete Mitscherlich gegenüber einer Ostdeutschen: „Ich habe das Gefühl, die Westdeutschen verlangen von Ihnen, was sie von sich selbst nie verlangt haben – Sie sollen die DDR aufarbeiten und die Nazis, für die Wessis gleich mit. Die haben gar kein Recht, Ihnen Schuldgefühle zu machen.“ (Interview, 3./4.4.1993) Formen der Selbsterhöhung von Leuten, die ohne persönliches Verdienst auf der vermeintlich besseren Seite gelebt haben, stoßen vor allem auch deswegen auf ein müdes Lächeln, weil sie jeden Beweis dafür, dass sie sich in der DDR anders verhalten hätten, schuldig bleiben müssen. Ein Blick in die Geschichte lehrt jedoch, dass es unter den gemeinsamen politischen Bedingungen im Dritten Reich keine signifikanten Verhaltensunterschiede unter allen Deutschen gegeben hat, denn sie waren flächendeckend, von Ausnahmen abgesehen, ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ (Daniel Goldhagen) und haben auf vielfältige Art und Weise vom ‚System‘ profitiert (Vgl. Bode, S.291ff).

Beim Lesen der Berichte fällt außerdem auf, dass die eigene Erinnerung von den Berichtenden nicht problematisiert wird. Erst im Interview mit dem Psychotherapeuten Müller-Hohenhagen (S.259ff) wird an einem Beispiel verdeutlicht, wie Erinnerungen bewusst verfälscht werden, teils um die Zuhörer, teils aber auch um sich selbst zu schonen. Es gibt aber auch noch eine unbewusste Seite der Erinnerung, die mit der Arbeitsweise unseres Gedächtnisses zusammenhängt. Es erinnert sich vor allem an emotional bedeutsame Erlebnisse, was aber bedeutsam ist, ist individuell. Hinzu kommt, dass das Erinnerte selbst nicht konstant bleibt. „Jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung hochholen, werden wir sie neu bewerten und sie wird sich verändern“, meint die Gedächtnisforscherin Hannah Monyer. Erinnerungen sind demnach höchst unzuverlässig. „Wir alle erfinden unsere Vergangenheit neu, aber wir tun es nicht mit Absicht“, schreibt Siri Hustvedt, wir tun es im Dienst der „emotionalen Wahrheit“ und die ist entscheidend. Auch daran sollte man denken, wenn man die Berichte über Kriegserfahrungen und ihre transgenerationalen Folgen liest.

Das obige Zitat von Hagen Blankensiefen findet man auf S. 258, den eingangs beschriebenen Vater allerdings nicht. Das war meiner.

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