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In fünfzig Jahren werden die Archäologen nach uns graben

2017 22. Mai
von Martin Löschmann

Schon seit Wochen, ja Monaten liegt das autobiografische Werk von Gottfried Fischborn „Vorkommen. Vor kommen. Ein Jahr Lebenszeit“, erschienen im Schkeuditzer Buchverlag, 2016, auf meinem Schreibtisch. Ausgelesen, mit Gewinn gelesen, erlesene Erinnerungen und Sprache. Reflexionen zu Politik, Zeitgeschehen, Kunst, Literatur, die eigene Erinnerungsschübe bewirken, die belebend sind und zur weiterführenden Denkarbeit anregen. Es gäbe viele produktive Anknüpfungspunkte, letztlich blieb für den Blog gewissermaßen die Einleitung übrig, die das Erinnerungsbuch auf den Punkt bringt, der auch einen Großteil der Blogtexte in eine bewegende Perspektive führt.

Fischborn (geb. 1936, also ein Jahr jünger als der Schreiber/Blogbetreiber) war Theaterwissenschaftler an der Leipziger Theaterhochschule „Hans Otto“, an der mein Schwiegervater, Prof. Dr. Armin-Gerd Kuckhoff, von 1961 bis 1969 Rektor war. Er spielt in Fischborns Erinnerungen allerdings kaum eine Rolle.
Wie dem auch sei, hier kommt der aus meiner Sicht relevante Auszug, der auch auf der Rückseite des Bandes nur leicht verändert nachzulesen wäre. Der zitierte Text findet sich unter dem Datum: 20. Mai 2014

Vorkommen. Vor kommen „Ich komme nicht vor. Ich finde mich nirgendwo wieder“. So die Aussage einer engen Freundin. Sie meint: Unseresgleichen erkennt sich nirgendwo in der Literatur, im Film, in allen Fernseh-Dokumentationen und Talkshows, in den Zeitungen, im öffentlichen Diskurs insgesamt. Wir, unseresgleichen: Das ist eine große, mit Sicherheit ins Millionenfache gehende Zahl ehemaliger DDR-Bewohner der heute mittleren und älteren Generationen, Menschen, die das Land aus Überzeugung mit auf- und ausgebaut haben, die sich der sozialistischen Idee verpflichtet fühlten (und zumeist noch heute verpflichtet fühlen) und lange daran glaubten, zumindest „im Prinzip“ werde sie in der DDR verwirklicht. Die versuchten, trotzdem keine Dogmatiker zu sein, vielmehr – in der Regel trotz zunehmender Irritationen und Zweifel – sich als kritische Patrioten zu verstehen, die auch die unkritisch-hemmungslose Hingabe ihrer Jugendjahre hinterfragten. Gregor Gysi oder Lothar Bisky, Hans Modrow oder Markus Wolf, Christa Wolf, Heiner Müller und Volker Braun, Werner Tübke und Bernhard Heisig, Frank Beyer und Konrad Wolf, Werner Mittenzwei und Rudolf Münz waren und wurden solche kritische Patrioten auf der politischen und kulturellen „Königsebene“, doch es gab sie in allen Schichten. Wirklich, wir finden uns nicht wieder so, wie wir dachten und fühlten und heute denken und fühlen, da wir viel dazugelernt und das Urteil der Geschichte gründlich bedacht und dann auch angenommen haben.
„in fünfzig jahren werden die archäologen nach uns graben‘, schrieb Volker Braun am 26. September 2007 in sein Arbeitsbuch.

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