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Was mir Island erzählt

2016 8. August
von Martin Löschmann

SplendidaGernot1
Ein Junge, vielleicht 10, 11 Jahre, sitzt neben mir in einem mächtigen Jeep mit noch nie gesehenen breiten Rädern, der uns in die prächtig karge Vulkangebirgslandschaft um Reykjavik bringt, fragt mich, warum ich Island besuche. Ich mochte nicht flachsen, obwohl einiges dafür sprach, denn einen zwingenden Grund gab es nicht. Etwa so: Fehlt mir noch in meiner Sammlung. Der Hinweis auf meine „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“ in denen ich von der Erfüllung meines Zieles berichte, 50 Länder zu bereisen, und Island nicht darunter, schien mir indes schon gar nicht passend. Inzwischen sind es fast 60 geworden. Ich sage ihm, es war der Wunsch, endlich dieses Extremland mit seinen Vulkanen, die Vulkaninsel mit den Geysiren, Gletschern, den Geothermieanlagen kennenzulernen, und meine Bewunderung für dieses kleine Land, nicht klein mit Blick auf die Fläche, denn die entspricht in etwa der der ehemaligen der DDR, wohl aber von der Bevölkerungszahl her: rund 330 000 Einwohner.
Vielleicht wollte ich mit meinen Angaben auch nur auf mein und sein Schulwissen zugreifen. Immerhin hatte er mir schon mitgeteilt, dass Island auf der Vulkanspalte des nordatlantischen Rückens, auf der Grenze zwischen zwei Kontinentalplatten liegt und sich pro Jahr um ca. 2 cm in Ost-West-Richtung ausdehnt. Ergebnis seiner Ringstraßen-Exkursion. Er war ungemein gebildet für sein Alter, schon weitgereist. Mich der Werbungssprache bedienend, hätte ich ihm auch sagen können, ich wollte endlich das Land aufsuchen, das „vom Golfstrom umarmt, von Thermalwasser erwärmt und von Vulkanen beheizt wird.“
Später fiel mir ein, ich hätte ausgefallener den isländischen Schriftsteller Halldor Laxness, 1955 mit dem Nobelpreis geehrt, als Grund angeben können. Seine Roman Atomstation, Islandglocke, Fischkonzert wurden in der DDR zuerst ins Deutsche übersetzt und geradezu verschlungen, nicht zuletzt, weil sie von einer fernen, exotischen, allerdings für DDR-Bewohner kaum zugänglichen Welt erzählten, in der die sozialen Probleme nicht ausgeblendet werden. Fast alle Romane, die ich einst Halldor_Laxness_gravestonegelesen hatte, spielten in Island, obwohl der Schriftsteller nicht in seinem Geburtsland festsaß, sondern viel unterwegs war – in Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, Kanada, den USA.
Laxness war mir vertraut als Schriftsteller, leibhaftig war mir dagegen bisher nur ein Isländer begegnet, und zwar am Herder-Institut in Leipzig Anfang der siebziger Jahre: groß, blond, zurückhaltend, bedacht, bestrebt, die deutsche Sprache schnell zu erlernen. Seinen Namen habe ich vergessen, aber -son war da natürlich am Ende. Anders als wir es kennen, werden bekanntlich Vorname und Vatersname bzw. Muttersname zusammengesetzt: -son für Sohn, -dottir für Tochter. Der Name des bekannten Trainers der deutschen Handballnationalmannschaft Sigurðsson, der vorher die Berliner Handballmannschaft – die Füchse – an die Spitze geführt hatte, versteht sich als Sohn des Sigurðs. ‚Unseren‘ Isländer damals hatte es übrigens nicht in der ihm so völlig fremden, unruhigen Welt, im Menschengewühl der Großstadt, in der international zusammengesetzten impulsiven Lerngruppe, dem lärmigen Internat gehalten, nach ein paar Monaten fuhr er zurück in seine Welt, zu seiner Familie, von uns aus gesehen, in die Einsamkeit in eisiger Kälte. Nach 50 Jahren selbst in seinem Lande stellen sich verschiedene Begründungsargumente ein. Man bekommt selbst als Tourist mit, wie unmittelbar die Natur in das Alltagsleben der Isländer eingreift und Traditionen und Bräuche noch gelebt werden. Sagen, Elfen und Trolle sind fester Bestandteil der Kultur, bevölkern nicht nur die Souvenir-Läden. Umfragen belegen, der Glaube an die Existenz übernatürlicher Wesen ist im isländischen Volk noch weit verbreitet.
Wer Island mit Deutschland, Italien, Frankreich, England vergleichen und womöglich berühmte Gebäude sehen will, wird in Island enttäuscht. Ich hatte den Eindruck, Reykjavikdass es unserem schwäbischen Tischnachbarn auf der Splendida so erging. Häuser älter als 200 Jahre gibt es nicht, Bauernhäuser aus dem Mittelalter sind längst verfallen. Keine Frage, die karge Lava-Natur voller sehenswürdiger Überraschungen, Gletscher, Geysire, das Brodeln der HeißwasserquellenIslandlandschaft, die Wasserfälle, die Vielzahl und Vielgestalt der Basaltfiguren waren ihm und auch uns die Reise wert. Dennoch konnte ich nicht lassen, mein übriggebliebenes Wissen aus dem Germanistikstudium anzubringen: die überlieferten, zur Weltliteratur gehörenden Edda-Lieder über nordische Helden, Götter und Mythen aus vorgeschichtlicher Zeit und die Sagas vorwiegend über Personen, die tatschlich gelebt haben. In beiden ist die alte Geschichte Islands auf eine ganz spezifisch-literarische Art abgebildet. Wagner-Kenner wissen natürlich, dass seine Opern ohne den Einfluss besonders der Lieder-Edda schwer vorstellbar sind.
Erstaunlich, dass bei allen Exkursionen, die wir mitmachten, weder Laxness noch die Edda und Sagas eine Rolle spielten. Dass musste uns umso mehr auffallen, als Island ein durchaus literaturfreudiges Land ist. In allen Städten, die wir besuchten, gab es Buchhandlungen und öffentliche Bibliotheken. Mögen die Städte auch noch so klein gewesen sein, z.B. in Isafjördur mit seinen 2.602 Einwohnern.Buchladen Man stelle sich einmal vor, in diesem kleinen Land werden immer noch pro Jahr rund 1500 Bücher gedruckt.
Es hätten sich einige Bezugspunkte zu Laxness angeboten, z.B. als darauf hingewiesen wurde, dass die Einrichtung eines USA-Stützpunktes von Protesten begleitet war. Laxness gehörte damals zu den Protestierenden. Das kleine Land konnte und kann sich klugerweise keine eigenen Streitkräfte (außer dem Küstenschutz) leisten, deshalb hat es sich 1949 wohl in den Schutz der NATO begeben, für die Island strategisch wichtig ist. Nach Beendigung des kalten Krieges verließen die Amerikaner den Stützpunkt, betreiben jedoch ihre Naval Air Station mit verringertem Personal weiter in Keflavík westlich von Reykjavík. Für die Exkursionsleiterin zur Blauen Lagune, dem Thermalfreibad unweit von Reykjavik, ist nur wichtig, dass die USA wesentlich zur Verbesserung der Infrastruktur Islands beigetragen haben. Aber auch, was uns dann schon sehr interessierte, dass die amerikanischen Astronauten in den Kuhlen, Senken, Spalten, Löchern, auf den Kanten und Wülsten der Vulkanlandschaft ihr Mondlandefahrzeug ausprobierten. Ein Drittel der Lava, die die Erde bedeckt, befindet sich in Island.

Besonders stolz wird von den sogenannten ‚Kabeljaukriegen‘ gegen Großbritannien berichtet, die sich über einen Zeitraum von 1958 bis 76 hinzogen. Kabeljau ist der ‚goldene Brotfisch‘ für Island. Der besonders in Nordeuropa begehrte Fisch fühlt sich in den Gewässern um Island besonders wohl, lässt sich vom Golfstrom nordwärts treiben, laicht an seichten Meeresstellen in Küstennähe. Diesen lukrativen Segen sah Island in Gefahr und sicherte sich die existentiellen Fanggründe, indem die Exklusivzone von wenigen Meilen letztendlich auf 200 Seemeilen ausgedehnt werden konnte. Das große und mächtige Großbritannien musste klein beigeben. David setzt sich gegen Goliath durch, was ja nicht so oft vorkommt und immer großen Zuspruch erfährt. Dass 40 Jahre später die kampfstarken Isländer mit dem 2:1 die Eng-länder aus dem Turnier zur Fußballeuropameisterschaft in Frankreich schossen, musste das ganze Land ein weiteres Mal in Jubelstimmung versetzen. Reste davon konnten wir in Reykjavik noch bestaunen.
Ein bewunderungswürdiges Land, das sich da vor einem selbst bei einem touristisch-flüchtigen Besuch auftut. Ein Land bevölkerungsmäßig in der Dimension einer Stadt wie Mannheim schafft trotz aller Unbilden der Natur die siebte Stelle in der UNO-Liste der Ländern zu erklimmen, in denen es sich am besten lebt. Die Position mag auch erklären, dass Isländer, die es in die große weite Welt zieht, in den meisten Fällen irgendwann in ihr Heimatland zurückkehren. wenn sie eine entsprechende Arbeit finden. Und es gibt natürlich eine große Breite an Arbeitsmöglichkeiten, weil schließlich alle Funktionen einer arbeitsteiligen Gesellschaft von den wenigen Menschen ausgeübt werden müssen. Wie man sieht, gelingt es diesem kleinen Land, allen Erfordernissen einer modernen Gesellschaft zu entsprechen.

Reykjavikkirche1Ein Shuttle-Bus bringt uns von der Splendida zum neuen Konzerthaus in Reykjavik, Harpa genannt und erst vor 5 Jahren eingeweiht. Olafur Eliasson, Kind isländischer Eltern, entwarf die spektakuläre Fassade des Konzert
weithin sichtbaren Konzert- und Konferenzgebäudes.

Hallgrimskirche in Reykjavik

Eine doppelte Glasfassade mit komplex regelmäßiger Geometrie, rechte Winkel in der Vertikalität meidend. Eine rasante „Fassadenpartitur‘, in der sich mannigfach das Licht spiegelt und bricht, deren Glaselemente mit einem Spiel aus wechselnden Farben auf Tageslicht und Wetter reagieren. Man vergleicht unwillkürlich mit ähnlichen öffentlichen Gebäuden am Wasser, mit dem Opernhaus in Sydney, dem National Centre fort the Performing Arts in Peking an einem künstlichen See errichtet, mit der Finlandia-Halle, die wir alle in Augenschein genommen haben, zuletzt in Hamburg die noch unfertige Elbphilharmonie, und stellt fest, hier in Reykjavik ist etwas Eigenständiges entstanden, das mit Charakteristika des Landes zusammenhängt. Was für eine Leistung angesichts der das Land tief erschütternden Finanzkrise, die 2007 ausbrach und den aufwändigen Bau zwar um 3 Jahre verzögern, aber nicht verhindern konnte. Dieses kleine Land machte es möglich.Beton

Vor dem Rathaus in Reykjavik

Ein Nobelpreisträger machte das Land statistisch gesehen zu einem Land mit der höchsten Nobelpreisdichte. die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes, die Zahl der Schachgroßmeister, der Schwimmbäder, der Internetanschlüsse, der luxuriösen Geländewagen u.a.m. ließe sich ebenso öffentlichkeitswirksam hochrechnen. Pro-Kopf-Vergleiche sind beliebt, oft leicht ironisch gebrochen, aber letztlich ernst gemeint. Der Nationalstolz ist nicht zu übersehen. Isländer sind selbst anders als die Dänen, Norweger und Schweden.

Ein Isländer geht in Schweden zur Polizei: „Man hat mein Auto gestohlen“. Antwortet des Polizisten: „Nein, das haben wir abgeschleppt.“ Der Isländer widerspricht energisch: „Auf keinen Fall stand da ein Parkverbotsschild. „Mag sein, aber es stand da auch kein Schild: ‚Parken erlaubt‘“, erwiderte der Polizist.

Wieder zu Hause lese ich: „Finnland will 2017 das bedingungslose Grundeinkommen mit tausenden Probanden testen.“ Wäre für eine solche Erprobung Island als Gesamtstaat nicht ein lohnendes Experimentierfeld? Beste Voraussetzungen dafür schienen mir gegeben: hoher Bildungsstand, bemerkenswerte soziale Leistungen, gute medizinische Versorgung, neunzig Prozent der Frauen arbeiten, die höchste Geburtenrate neben Irland in Europa.
Ist dies ein mitteilenswertes Fazit unserer Islandreise oder wären es die Kuriosa gewesen, die unter folgender Adresse zu lesen sind?

Brüder werden gegeneinander kämpfen und sich den Tod bringen,
Schwesternsöhne werden die Verwandtschaft zerbrechen;
schlimm ist’s in der Welt, viel Ehebruch,
Axtzeit, Schwertzeit, gespaltene Schilde,
Windzeit, Wolfszeit, bis die Welt zugrunde geht;
kein Mann wird den andern schonen.
(aus der Lieder-Edda über den Weltuntergang Ragnarök, übersetzt von Arnulf Krause, zitiert nach „Gebrauchsanweisung für Island“ von Kristof Magnusson. E-Book bei Piper 2011)

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