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Kaugummi meinetwegen, aber …

2016 22. Mai
von Martin Löschmann

K. aus dem Libanon hat in Leipzig erfahren, dass Löschmanns ein paar Jahre nach der Wende gen Berlin verzogen sind. Eines Tages steht er vor der Tür. Er erinnert sich noch gut an das Jahr am Herder-Institut, es muss 1965 gewesen sein. Leider mag er sich im Blog nicht zu seinem Studium in der DDR äußern, weil er nicht im Lande geblieben war, sondern in die Bundesrepublik ging und dort weiterstudierte. Die Gründe, weshalb er das Studium nicht in der DDR beendete, wären selbstredend interessant gewesen. Aber was nicht ist, ist nicht.

Obwohl selbst für K. das Herder-Institut verständlicherweise weit, weit weg ist, will ich hier über eine Begebenheit am Rande unseres Erinnerungssogs berichten. Ich hätte speziell ihm und überhaupt der ganzen Gruppe untersagt, im Unterricht zu ‚katschen‘, wie ich es genannt hätte. Woran er sich erinnerte, könnte man so zusammenfassen: Sie können in der Pause, vor und nach dem Unterricht so viel Kaugummis im Munde bekauen und verarbeiten, wie Sie wollen, aber nicht in meinen Stunden. Zum Trinken, Essen und zum Kauen gibt es Kuhhalt die Pausen. Ich komme vom Dorfe und weiß, dass es Tiere gibt, die ständig kauen müssen, Kühe. Wenn man ihnen etwas beibringen wollte, müsste das Wiederkäuen geduldet werden, nicht aber bei Menschen, die eine Sprache lernen wollen.
Das war offensichtlich heftig für ihn, zumal er nicht zu den Kaugummikauern mit offenem Mund und viel Getöse gehörte. Womöglich hatte er sich sehr dezent des Chewing Gums bedient. Jedenfalls erinnerte ich mich nicht an irgendein Schmatzen, das den Unterricht auffällig gestört hätte. Meine drastische Art war gewiss der Jugend geschuldet, aber K. war ja auch jung. Die Tatsache, dass er sich an die Begebenheit erinnerte, zeugt von damaliger emotionaler Bewegtheit. Vielleicht hatte er meine Intervention auch als eine Form von Gängelei, von Bevormundung empfunden.

Es ist heute schwer nachzuvollziehen, inwieweit damals mein Vorgehen, meine schroffe Äußerung ideologisch geprägt worden war, also von der Devise: Erfinder des Kaugummis sind die USA, genauer: William Wrigley, das Produkt ist daher abzulehnen, und es wurde bis Anfang der Honecker-Zeit – Anfang der 70er – abgelehnt wie so manches, das vom Westen kam, wo doch der Klassenfeind saß. Wenn man freilich gewusst hätte, dass wir Prototypen des heutigen Kaugummis Indianern verdanken – sie kauten eine Masse aus Rottannenharz und Bienenwachs – hätten die Chefideologen womöglich ganz anders reagiert.
Aber wenn ich mich so recht erinnere, habe ich das amerikanische Produkt nicht prinzipiell abgelehnt und gelegentlich, wenn ich des Wrigley habhaft werden konnte, es außerhalb von Schule und Universität sichtbar kauend gern zur Schau getragen. Nur in der Schule, an der Uni und auch auf Arbeit, also am Herder-Institut, war der Kaugummi natürlich tabu. Und ich denke auch heute noch so: Kaugummi gehört weder in den Unterricht noch in Seminare. Es ist ein Gebot der Höflichkeit, der Kultur, der Ästhetik. Deshalb ist das Verbot, im Unterricht zu katschen, für mich gerechtfertigt.
Offensichtlich ist es dies auch im Land gang und gäbe, in dem das Kulturgut erfunden wurde. Eine Szene aus dem Roman „Amerikanische Idylle“, verfasst vom bekannten USA-Schriftsteller Philip Roth, mag als Beleg dienen. Bei einem Klassentreffen wird ein Interview mit ehemaligen Klassenkameraden gemacht:
„»Die Schule war einzigartig«, erzählte ihm die dreiundsechzigjährige Marilyn Koplik. »Die Kinder waren großartig, wir hatten gute Lehrer, das schlimmste Verbrechen, das wir begehen konnten, war Kaugummikauen …« »Die beste Schule von allen«, sagte der dreiundsechzigjährige George Kirschenbaum, »die besten Lehrer, die besten Schüler …« »Alles kluge Köpfe«, sagte der dreiundsechzigjährige Leon Gutman, »die intelligenteste Gruppe von Menschen, mit denen ich je zusammengearbeitet habe …« »Die Schule war damals einfach anders«, sagte die dreiundsechzigjährige Rona Siegler“

Ein generelles Verbot des Kaugummis wie in Singapur scheint mir dagegen unangemessen, auch wenn es der Umwelt zuliebe ausgesprochen wurde. Auf keinen Fall aber sollte die eklige Verschmutzung der Städte durch einfach auf die Erde gespuckte Kaugummis unterschätzt werden. Während ich dies schreibe, meldet Hannover, dass die Stadt dabei ist, das Zentrum der Stadt einer Großreinigung zu unterziehen. Besondere Mühe macht es, die Kaugummireste zu beseitigen. „Auf rund 25 000 werde deren Zahl im Kern der City geschätzt, bis zu 20 pro Quadratmeter, meinte eine Sprecherin. Mit einem Hochdruckreiniger samt Spritzpistole und 75 Grad heißem Wasser soll künftig jedes Kaugummi binnen zehn Sekunden weg sein.“ (Online Focus, Dienstag, 03.05.2016)

Doch zurück noch einmal zum Bubble Gum in der DDR: So wenig die Jeans auf Dauer mit ideologischem Bann zu belegen waren, so wenig war der ‚Geschmack der Freiheit‘ zu diskreditieren. Spätestens unter Honecker war das Verbot und Gebot nicht mehr aufrechtzuhalten. Eine Gestattungsproduktion wurde bereits 1978 in der kaum bekannten Stadt Bernburg (mitten in von Sachsen-Anhalt) aufgebaut und das Produkt seit 1985 sogar unter dem geschützten Markennamen „Jamboree“ vertrieben. Salamander-Schuhe aus Weißenfels, Nivea-Creme aus Waldheim, Bärenmarke-Kondensmilch aus Schwerin. Rund 120 Artikel wurden mit Lizenz von Firmen aus der Bundesrepublik hergestellt und vorrangig in Intershop- und Delikat-Läden verkauft.

Was hat man dem Kaugummi nicht alles nachgesagt, was kann das Kauen nicht alles bewirken: Unumstritten auf jeden Fall Verbesserung des Mundgeruchs, macht den Mund kussfrisch; Karies kann obendrein vermindert werden, sofern natürlich der ohne Zucker verwendet wird. Allerdings kann Kaugummi nicht die Zahnbürste ersetzen. Zwar fördert er die Speichelproduktion, aber das reicht nicht, um die Speisereste aus dem Mund zu spülen. Viel Wert wird auf die Entspannungsfunktion gelegt: Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit heißt das Zauberwort – Spannung ist Kaugummi fürs Gehirn (Alfred Hitchcock). Gestresste kommen zur Ruhe. Im Flieger kann Kaugummi beim Druckausgleich zweckdienlich sein, Bonbons tun es natürlich auch, sofern heute überhaupt noch erforderlich.

Vor dem Abflug verteilt die Stewardess Kaugummi. Das ist gut für die Ohren – für den Druckausgleich, wird ein hochbetagter Fluggast belehrt. Nach einer Zeit klingelt er nach der Stewardess und der alte Mann fährt sie an:
Und wie kriegt man das verdammte Zeugs wieder aus den Ohren raus, he?

Überdies: Raucher werden vom Rauchen abgehalten oder haben Sie schon jemand gesehen, der beides gleichzeitig kann? Wer Kaugummi kaut, kann auch nicht zugleich essen, nimmt folglich ab. „Amerikanische Wissenschaftler haben nach entsprechenden Studien errechnet: wer den ganzen Tag Kaugummi kaut, verbrennt übers Jahr fünf Kilogramm Körperfett. Aber das ist reine Statistik: wer hat schon 365 Tage im Jahr von morgens bis abends Kaugummi zwischen den Zähnen?“ (http://www.faz.net/aktuell/sport/genuss-schlanker-und-schlauer-mit-kaugummi-150132.html)
Bei dieser Rechnung wäre zudem zu bedenken: Wer ständig kaut, ohne jedoch etwas zu essen, regt die Produktion von Magensäure an, die ins Leere fällt und so Unheil anrichten kann.

Ob sich übrigens der jetzige Fußballtrainer von Borussia Dortmund, Thomas Tuchel, den ganzen Tag über am Kaugummi festhält? Möglich wäre es schon. Jedenfalls dünn genug schaut er aus. Wenn es nicht den überaus erfolgreichen Trainer von Manchester United, Sir Alex Ferguson, gäbe und neuerdings Zidane, den Trainer von Real Madrid, den ‚champions league sieger‘ von 2016, würde ich die These aufstellen, wer als Fußballtrainer so auf den Gummi angewiesen ist, dass er während des gesamten Spiels katschen muss, wird gewiss nicht die großen Titel holen, die es im Fußball zu holen gibt. Wer sich als Trainer nicht ohne Kaugummi konzentrieren kann und seinen Stress für jedermann und jedefrau sichtbar, unansehlich abbauen muss, ist irgendwie arm dran. Wenn es aber nur Imponiergehabe oder einfach ein Nachäffen von Sir Alex Ferguson ist, wäre dies auch nicht gerade ein Zeichen von Souveränität. Kaute Jupp Heinckes, der Gewinner des begehrten Tripels, unaufhörlich coram publico, geschweige denn ein Pep Guardiola, der 3 Jahre erfolgreicher Trainer bei FC Bayern war? Von mir aus gesehen sollte sich Tuchel seinen Tormann Roman Bürki zum Vorbild nehmen, der soll vor Beginn eines jeden Spiels seinen Kaugummi über die eigene Torlinie spucken und sich sagen: Das ist das einzige, was heute reingeht.

Allein bei allen Wirkungssignalen, die auf uns kommen, muss man bedenken, dass Wissenschaftler in den USA und anderswo erst später die aufgezählten und andere Leistungen herausfanden, was womöglich Walt Disney zum Spruch führte: „Eine auf dem Profit beruhende Industrie ist bestrebt, Menschen für den Kaugummi und nicht Kaugummi für die Menschen hervorzubringen.“ Und nicht alles, was dem Kaugummi in den Mund gelegt wird, trifft auch zu. So liest man immer wieder, Kaugummikauen steigere die Leistungsfähigkeit – gewissermaßen die Pille, die uns zu Höchstleistungen führt. In England, fällt mir ein, wurde von einem Experiment berichtet, bei dem nachgewiesen wird, dass die Gruppe der Nicht-Kauer signifikant mehr Fehler gemacht hatte als die Gruppe der Kaugummikauer.
Dagegen konnte Siefried Lehrl von der Universität Erlangen bei Kindern keine signifikanten Unterschied-Effekte des Kaugummikauens auf das kognitive Leistungsvermögen beobachten.
(http://psychologie-news.stangl.eu/1307/im-urlaub-sinkt-die-intelligenz-kaugummikauen-steigert-geistige-leistungsfahigkeit)

Es gibt also genügend Gründe, skeptisch zu sein, zumal wir in keinem Fall von reproduzierten Versuchsanordnungen hören. Erst sie könnten einen in die Lage versetzen, sich in die eine oder andere Richtung festzulegen. Freilich, wer kaugummi_cartoonbild_kostenlos_clipart_20120312_1185905176fest an das Bubble Gum und an alle die anderen Kaugummis und ihre Wunder-Wirkungen glaubt, mag mit dem Kaugummi den einen oder anderen Berg versetzen. Meine Glaubenszweifel habe ich angedeutet. Doch einen Trost haben wir: „Man ist so lange jung, wie man den Kaugummi aus seinen Zähnen entfernen kann“. kaugummi-wand-seattle-105~_v-videowebl
Kaugummiwand in Seattle

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