Das Perfekt nicht perfekt
Nach langer Zeit habe ich selbst mal wieder unterrichtet – vertretungsweise fünf Stunden, denn die Personalnot war an dem Tage groß am Institut, bedingt durch Willkommenskurse für Syrer.
Einzuführen in dem Integrationskurs X war u.a. das Tempus: Perfekt – eine recht komplexe Struktur, zu deren Einführung und Einübung vor Jahr und Tag hier und da von mir schon didaktisch-methodische Überlegungen theoretischer wie auch ganz praktischer Natur angestellt worden waren.
Bisher bewegten sich die Lernenden der zu unterrichtenden Gruppe sprachlich in der Gegenwart: Ich bin krank, ich gehe zum Arzt. Endlich wird gelernt – und aus gutem Grund hier schon relativ früh – Vergangenes, Zurückliegendes auszudrücken. Das Perfekt macht’s möglich. Auch das Präteritum kann dazu dienen: Ich kam 2014 nach Deutschland. In der mündlichen, der dialogischen Kommunikation verwenden wir (außer bei den Hilfs- und den Modalverben) jedoch vorrangig das Perfekt: Ich habe gestern endlich einen Termin bei der Ausländerbehörde bekommen. Und die kommunikative Orientierung bleibt richtungsweisend, erst recht in Integrationskursen, so dass nicht die strukturell einfachere Vergangenheitsform, das Präteritum, sondern das Perfekt gelernt wird.
Die übermittelten Angaben zur Gruppenlernsituation (erreichtes Sprachniveau, Muttersprachen der Lernenden usw.) im Kopf schlage ich das verwendete Deutschlehrbuch auf: Schritte plus 1, Kursbuch + Arbeitsbuch, Niveau A2/1, Lektion 7, letzte Lektion. Ismaning: Hueber, 2010. Obwohl ich das Lehrbuch in Umrissen kenne, erlebe ich bei der Vorbereitung eine didaktisch-methodisch motivierte Überraschung: Die komplexe grammatische Struktur Perfekt ist in einer Lektion weitgehend zusammengepfercht. Das kann doch nicht wahr sein, haben die (gemeint sind die Lehrbuchautoren und -autorinnen) nichts von lernpsychologen, linguistischen, kommunikativen Progressionen, von Proportionierung der Lernschwierigkeiten, vom Prinzip der einzigen Schwierigkeit gar, vom Leichten zum Schwierigen gehört? Oder gilt das alles nicht mehr? Gibt es womöglich neuere und neueste Erkenntnisse, belastbare Untersuchungsergebnisse, die Progressionen in Lehrwerken als vernachlässigbar erscheinen lassen?
Was ist in dieser Lektion an Grammatik alles zu lernen? Neben den Modalverben können und wollen das Perfekt im fast vollen Umfange. Dabei in Präsentations- und Übungsaufwand beides nahezu gleichgestellt, obwohl leicht zu erkennen, dass der Lernaufwand schon auf den ersten Blick hin recht unterschiedlich ist. Aber gut, das mag bei den Modalverben noch hingehen, keinesfalls jedoch beim Perfekt, denn da wird verlangt, erst einmal die neue Zeitform mit ihrer Funktion und dann die Bildungsweise: haben + Partizip (II) zu erfassen (1). Da die Bildung der Partizipien bekanntlich nach einer vielköpfigen Regel erfolgt, je nachdem, ob es sich um sog. starke oder schwache Verben handelt, sodann diese Regeln (2): Sie hat gut geschlafen – Er hat Radio gehört. Und zu guter Letzt werden ja die Verben der Bewegung nicht mit ‚haben‘, sondern mit entsprechenden Formen von ’sein‘ gebildet (3): Ich bin gestern zum Arzt gegangen. Die Rahmenkonstruktion nicht vergessen: Ich bin gestern spät ins Bett gegangen (4). Im Grammatikteil aufgeführt unter „Das Perfekt im Satz“, wo anders sollte es auch realisiert werden?!
Man könnte entgegenhalten: Das Lehrbuch ist das eine, der Unterricht das andere. Und es gibt kein perfektes Deutschlehrbuch. Jede Lehrkraft ist angehalten, das jeweilige Buch in der jeweiligen Gruppe angemessen umzusetzen und die lerngünstige Abfolge der Lernschritte, also die möglichst optimalen Progressionen binnendifferenziert zu finden. Keine Frage, mit objektivierten, d.h. ohne das lernende Subjekt berücksichtigende Progressionen kommt man nicht weiter. Wenn sich nun aber in der ersten Lehrbuchübung (S. 76, C1) gleich mehrere Lernschwierigkeiten (geschlafen – gelernt) häufen, scheint mir das Lernmaß unvertretbar weit überzogen. Ich entschied deshalb, auf das Lehrbuch in diesem Punkt fast ganz zu verzichten. Meine Verwunderung über eine derart krasse pädagogische, genauer: didaktisch-methodische Fehlentscheidung bei der Darstellung und Einübung des Perfekts im Lehrbuch bleibt natürlich bestehen. Sie wird indes noch insofern verstärkt, als es im Folgeband (Bd. 2 – von insgesamt 6) in der Lektion 1 so gut wie keine gezielten Wiederholungsübungen zum Perfekt gibt und dann aber erst zu Beginn von Bd. 3 (!) das Perfekt der trennbar zusammengesetzten Verben (umziehen – umgezogen) und die Verben mit der Endung -ieren (studieren – studiert) erscheint. Kaum zu glauben.
Ich gebe meine Entscheidung bekannt. Überall und zu jedem Thema melden sich doch heute Experten, weniger Expertinnen zu Wort. Die Inflation der Bezeichnung ist offensichtlich. Wer wird in Talkshows nicht alles als Experte bezeichnet, ganz abgesehen davon, dass man sich ja selbst zum Experte ernennen kann, oder hat sich schon mal ein Experte mit einer Urkunde ausgewiesen? Ist Experte-Sein heute nicht oft eine fatale Zuschreibung. Hätte ich sie denn wirklich nötig? Also bitte: Warum sollte gerade ich den sogenannten Experten-Status anstreben?
Experten
Klar, ich bin Experte.
Du bist doch auch Experte.
Er/sie ist auf jeden Fall Experte.
Wir sind erst recht Experten.
Ihr seid unsere Experten.
Sie sind fraglos Experten.
Wir leben im Zeitalter der Experten.
Ich kann lesen und schreiben. Also bin ich Experte.
Du hast etwas Kluges gesagt. Also bist du …
Er/sie kommt gerade aus der Talkshow. Also ist …
Wir haben zusammen ein Buch geschrieben. Also …
Ihr habt euch wacker geschlagen. Also …
Sie …
Viele Experten verderben den Brei.
Die Überraschung, die Du beschreibst, ist grundsätzlich da, sobald man ein neues Lehrwerk aufschlägt. in verschiedenen Lehrwerken werden nahezu alle grammatischen Themen unterschiedlich dargestellt. Dabei ist eine Tendenz zur Reduktion auf das Wesentliche zu erkennen, was immer das Autorenteam darunter versteht. Den Rest muss der Lehrer leisten. Ein Beispiel. Ich arbeite zurzeit mit ‚Berliner Platz neu‘ (Langenscheidt). Darin wird das Perfekt – anders als in ‚Schritte plus‘ – immerhin in zwei Portionen verabreicht. L8 Perfekt mit ‚haben‘; L9 Perfekt mit ’sein‘. Die Regeln zur Formenbildung werden allerdings reduziert angeboten, eine Unterscheidung zwischen starken und schwachen Verben erfolgt nicht explizit. So muss der Lehrer erklären, wann im Partizip II die Vorsilbe ge- wegfällt und wo sie bei trennbaren Verben steht etc. Und auch hier werden die Modalverben wollen / können parallel zum Perfekt eingeführt. Dieser Reduktionismus entlastet zwar das Lehrwerk, aber nicht den Unterricht. Hier stoßen die Schüler bei der ersten freien Übung von selbst auf die ‚Probleme‘, die das Lehrbuch nicht erklärt, sodass der Lehrer gefordert ist. Der Reduktionismus führt z.T. auch dazu, dass die unterrichtenden Kollegen zu dem Schluss kommen, auf ein ‚amputiert‘ dargestelltes grammatisches Phänomen zu verzichten und lieber eigene Arbeitsblätter erstellen. Vielleicht erinnerst Du Dich noch an das Lehrwerk in England, auch da wurde das Perfekt in einem Guss eingeführt. Wir wissen es nur zu gut, kein Lehrwerk ist perfekt.
Dank für deinen weiterführenden Kommentar.
Keine Frage, Deutsch-Lehrbücher schmal, handlich und damit besser verkäuflich zu gestalten, ist eine probate Zielstellung der Verlage. Nur die vermeintliche Reduktion darf nicht dazu führen, dass die Unterrichtsrealität nicht mehr getroffen wird. Wenn man das Perfekt kommunikativ vermitteln und üben will, geht es doch nicht ohne die Verwendung solcher Verben wie ‚bekommen‘ ‚besuchen‘, ‚einkaufen‘ usw.
Nein, für mich ist das erörterte Beispiel ein Beweisstück unprofessioneller Lehrbuchgestaltung.