Skip to content

ZUM NACHLESEN DER LESUNG

2015 16. November
von Martin Löschmann

So: Die angekündigte Lesung mit Corinna Harfouch hat am 12. November 2015 im Schumann-Haus in Leipzig Corinna4C04_002 (2)(Inselstraße 18) stattgefunden. Kein Platz blieb frei, es mussten sogar Behelfssitze arrangiert werden. Auch von der Begegnung danach in der Poniatowski – Polski Bar gleich um die Ecke wurde Gebrauch gemacht.

Lesung im Schumann-Haus mit Corinna Harfouch

„Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen“ (Engelsdorfer Verlag: Leipzig 2015), so der Titel der autobiografi-schen Memoiren von Martin Löschmann, kamen am 12.11.2015 im Schumann-Haus zur Lesung. „Unerhört“ in „dreifacher Bedeutung: unglaublich, beispiellos, sodann: unverschämt, was der sich traut, das geht auf keine Kuhhaut und von der spätmittelhochdeutschen Wortherkunft her: nie-gehört…un-erhört, was niemand hören, niemand zur Kenntnis nehmen will“, so die Erklärung des Autors (S. 19).
Und doch kamen gerade an diesem Abend mehrere Erinnerungen zu Gehör.
Die subtile Auswahl aus 16 Kapiteln – gelesen und gekonnt interpretiert von der renommierten Schauspielerin Corinna Harfouch – gestalteten den Abend zu einem Erlebnis.
Der Autor, der viele Jahre in Leipzig lebte und am ehemaligen Herder-Institut der Leipziger Karl-Marx- Universität wirkte, ist Professor für Deutsch als Fremdsprache. Er war an vielfältigen Lehr-, Weiterbildungs-, und Forschungsaufträgen auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache beteiligt und in mehr als 30 Ländern im Ausland tätig. So leitete er auch in jüngster Zeit für die europäische Stiftung der RDG für Bildung und Kultur ein Seminar zur Weiterbildung russischer Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen in Kaliningrad.

Corinna Harfouch ist es gelungen, die Zuhörer in den Bann der Schilderung von Lebenssituationen des Ich-Erzäh-lers zu ziehen. Martin Löschmann erzählt als Zeitzeuge facettenreich und teilweise mit kriminalistischer Spurensuche, so besonders wenn es um seine zweite Lebenskatastrophe und seinen Schreibanlass geht, seiner Entlassung vom Herder Institut der Universität. Die erste Lebenskatastrophe sei der Krieg, den er als 10jähriger erlebte, gewesen und die damit im Zusammenhang stehende Vertreibung aus der pommerschen Heimat. Folglich standen an diesem Abend Kriegskindheit, der „Elite-Austausch im Osten Deutschlands“ (S. 12) in der Nachwende-Zeit sowie seine Leipziger Jahre und sein Finnland-Aufenthalt mit der Familie von 1969 bis 1973 im Focus. Letzterer war offensichtlich so nachhaltig beeindruckend, dass er dieses Kapitel titelte: „Aus den Fugen geraten- In Finnland“.

Die „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“, anlässlich des 80. Geburtstages 2015 vollendet und zunächst für den Familienkreis gedacht, wecken offensichtlich ein größeres öffentliches Interesse. Dafür sprach der voll besetzte Saal im Schumann-Haus, wo es ein Wiedersehen mit Freunden, alten Bekannten, Verwandten und ehemaligen Kollegen gab. Und natürlich waren auch Verehrer und Fans von Frau Harfouch gekommen.
Martin Löschmann hat also nicht nur für seine Familie etwas Bleibendes geschrieben, sondern als Zeitzeuge eines untergegangenen Staates, ja eines untergegangenen Gesellschafts-und Wirtschaftssystems ein Zeitdokument geschaffen.

Dass diese gelungene Veranstaltung im authentischen Musiksalon des Schumann-Hauses stattfinden konnte, ist der europäischen Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur zu danken, die freundlicherweise den Raum zur Verfügung stellte.

Dr. Angelika Neumann-Pudszuhn
Best Age Forum

Vorbemerkungen

Meine Damen und Herren, liebe Freunde, Kollegen von gestern und heute, und auch liebe Verwandte,

es ist dies eine schemadissonante Veranstaltung in vielerlei Hinsicht, wenn ich erklärte, warum und weshalb, würde ich die Lesung zerreden. Deshalb bloß kurz dies:
Meine Erinnerungen waren ursprünglich eher nicht so sehr für die Öffentlichkeit bestimmt. Das erste Kapitel, aus dem wir etwas hören werden, macht das ganz deutlich.
Dass ein bestimmtes öffentliches Interesse an DDR-Biografien besteht, erfuhr ich erst nach deren Fertigstellung. Wussten Sie, dass es in Staßfurt eine Erinnerungsbibliothek-DDR e.V. gibt, in der bisher schon über 500 Erinnerungsarbeiten gesammelt worden sind? Fürwahr, eine authentische Fundgrube künftiger Forschungen zur DDR-Zeit, die der Tierarzt Dr. Rolf Funda gewissermaßen hobbymäßig/ehrenamtlich gesammelt hat. Erst vor wenigen Wochen erfuhr ich, dass seine Sammlung, die in seinem Haus überquoll, nunmehr vom Bundesarchiv übernommen wird. Da gehört sie letztlich auch hin. Dornröschenschlaf erst einmal, bis dass nicht der Prinz, sondern der Historiker kommt.

Am liebsten hätte ich Corinna Harfouch auch noch die Auswahl aufgebürdet. Das war aber nun wirklich des Guten zu viel. Mit Recht keine Nachsicht für den alten Mann. Also sollen doch die entscheiden, die das Buch schon gelesen haben. Funktionierte auch nicht: Große Vielfalt große Streuung. So musste der Autor doch selbst ran, aus 352 Seiten und 16 Kapiteln etwas Lesbares (vielleicht nicht mal das) auszuwählen. Da dem Autor jede Zeile wichtig ist, ließ er sich letztendlich von drei rein pragmatischen Impulsen leiten:
Woher kommt der Schreiber?
– Also etwa aus der Kindheit und das heißt für ihn gleichzeitig etwas aus der Kriegskindzeit, Angesichts des Flüchtlingsstroms aus heutigen Kriegsgebieten vielleicht ein MUSS, wenngleich er sich über die vielen unstimmigen Vergleiche mit Flüchtlingsströmen nach dem 2. Weltkrieg aufregen kann.
– Die Veranstaltung findet in Leipzig statt, also sollte der Ort zu Wort kommen. In Zeitz etwas aus der Oberschulzeit, in Berlin etwas aus dem Berlin-Kapitel und im Himmel natürlich etwas aus dem letzten Kapitel.
Also: Leipzig, lange, lange Zeit unsere Wohn- und Arbeitsstätte, deshalb etwas aus der Studienzeit und dem Herder-Institut. Von Außenstehenden wird das Herder-Kapitel nicht gerade geschätzt, doch Mein Herder-Institut lob ich mir.
– Schließlich muss aus meiner Sicht unbedingt über die Vertreibung eines Großteils der DDR-Elite von den Universitäten und Hochschulen berichtet werden, von der ich unmittelbar betroffen war, gewissermaßen meiner zweiten Lebenskatastrophe und Schreibanlass.
Am Ende dann noch eine Zusammenschau in Gestalt von Fahrradgeschichten.Schuster4GOOUVO7
Ich wünsche uns einen unterhaltsamen Abend, und ich bin richtig froh, dass heute Corinna Harfouch liest.

Corinnaentschlossen2APXVRYW

Aus Kapitel 1: Annäherungen, das den Vorspruch trägt:

Feig, wirklich feig ist nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet. (Elias Canetti)

‚Was, du willst Memoiren, deine Memoiren schreiben?‘, fragt mich M. ‚Erinnerst du dich an den wunderschönen italienischen Don Camillo-Film? „Nimm dich nicht so wichtig“, sagt darin der Gekreuzigte zu Don Camillo. Weißt du nicht, wie viele Memoiren-Bände die Verlage jährlich abwehren müssen? Es gibt einfach zu viele Menschen, die eitel und womöglich besessen, erinnerungssüchtig genug sind, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Willst du wirklich einer von denen sein? Ja, wärest du bekannt und berühmt, in Skandale verwickelt, Posträuber, Entführer, Attentäter, Verräter, Entertainer, vom Tellerwäscher zum Millionär Emporgestiegener, ein Preisträger, irgendeiner, ein korrupter Politiker, Schauspieler, Dummschwätzer …
Was soll’s also? Erinnerungsschreiber wollen sich doch eher verhüllen als enthüllen. Und bedenke Ringelnatz: „Die Erinnerungen verschönen das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich.“ Willst du, dass der Rest deines Lebens unerträglich wird?‘ – Nein, ich erwarte das Gegenteil: nach vollbrachter Tat: erträgliche Heiterkeit für meinen Lebensrest.
Ermutigend war der Schwall von Fragen nicht gerade, obwohl ich mir sagen konnte, so tief hinaus wollte ich nie. Nicht nur einmal in den letzten Tagen, Wochen, Monaten, die mich zum Schreiben anhielten, habe ich den Kauz auf meiner Schulter mit seinem wozu-wozuu-wozuuu? gespürt. Immer wenn Professor Martin, Anglist, einer meiner Lehrer an der Leipziger Universität, auf für ihn abwegige Interpretationen englischer Literaturwerke stieß, bemühte er dieses Bild. Aber wer kennt Professor Walther Martin und will ihn kennenlernen?
Und doch will ich mich nicht abhalten lassen, gerate irgendwann in den Sog der Verteidigung meines Unterfangens und schwelge in Erinnerungen an einen Prominenteren, meinen Literaturprofessor Mayer, HANS MAYER. Kannst du dich erinnern, dass du bei deinem Vater im Arbeitszimmer Max Frischs Herr Biedermann und die Brandstifter hast liegen sehen mit den Unterstreichungen von eben diesem, meinem Literaturprofessor? Du hast dir mühselig und kostspielig ein Exemplar ‚aus dem Westen‘ besorgt, die authentischen Unterstreichungen übertragen und mir die Kostbarkeit geschenkt. Was für ein Geschenk. Denkst du nicht, dass ein Einfall wie dieser der Welt, meinetwegen der Nachwelt, überliefert werden müsste? Ja, ja, ein Personalmuseum muss her.
Mayer hat nicht nur unser Herangehen an Literatur geprägt, sondern gewissermaßen auch mein Schreiben mit veranlasst: In seinem Werk Der Turm von Babel (1991), findet sich der Kernsatz, der mich beflügelte: „Das schlechte Ende widerlegt nicht einen möglicherweise guten Anfang.“ In einem Spiegel-Beitrag aus dem Jahre 97 wird er dann noch deutlicher:
„… ich bin unbelehrbar“ und „all den Menschen aus der DDR, die redlich an eine neue Gesellschaftsordnung der Menschenwürde und Gleichheitschancen geglaubt haben und nun meinen, ihr Leben praktisch verspielt zu haben, sei gesagt: Dem ist nicht so, und: Das wollen wir noch mal seh’n!“
Auf einer Weihnachtsfeier des Instituts für Interkulturelle Kommunikation Berlin (an dem wir heute noch tätig sind) im Brecht-Keller in der Chaussee-Straße, ein Kollege spricht in seinem Beitrag über Brechts Vorlieben, erzähle ich fast 40 Jahre später meiner Nachbarin zur Linken, Frau Dr. Lilli Bock, einer Literaturwissenschaftlerin, dass ich noch gerade zu Lebzeiten von Brecht am Berliner Ensemble ein Praktikum absolviert habe, im Zusammenhang mit meiner Examensarbeit Brechts Stellung zur deutschen Klassik. „Über Ihr Praktikum müssen Sie unbedingt schreiben. Dafür interessiert man sich heute.“ Das schmeichelt „Und vergessen Sie nicht, ganz wichtig der Titel.“
Wendepunkte in meinem Leben würde nicht schlecht klingen. Mein Gefühl sagt mir, den Titel gibt es sicher längst. Die meisten Gedanken sind sowieso schon gedacht, aufgeschrieben und verlegt worden. Aber nicht mein Leben – mein Leben!
Wie wär’s mit Bruch-Stücke? Bruchstücke, auf die Doppeldeutigkeit des Wortes setzend. Ich möchte bloß gern den Schreiber im Titel signalisiert sehen und erweitere den Titel: Bruch-Stücke aus dem Leben eines Sonstigen. Ich schreibe ein Anti-Memoirenstück aus der Erinnerung, was immer das auch sein mag, und freue mich über den doppelbödigen Einfall: weder erhoben noch auserkoren, ein Sonstiger eben. Der Leser aus östlichen Gefilden wird allenfalls bemerkt haben, worauf ich anspiele, ein womöglich eher abgeneigter Leser aus den sog. alten Ländern will es kaum wissen, es interessiert ihn nicht sonderlich. Die Ex-DDR, ein Unfall der Geschichte. Vorbei, vorbei, was soll‘s. Doch rechne ich mit einem bestimmten Interesse bei ein, zwei geneigten ‚Westlesern‘, sobald sie erfahren, was Sonstiger bedeutete.
Ich hole weit aus: In unserer Finnlandzeit waren wir mit einem Mitarbeiter aus der DDR-Handelsvertretung befreundet, der für den BND spionierte, wie offenbar wurde, als er sich 1973 in die Bundesrepublik absetzte. ‚Unser Freund‘ war der sozialen Herkunft nach Arbeiterkind: Und Kinder von Arbeitern und Bauern wurden in der DDR mit Recht gefördert. Er hat es seinem Land nicht gedankt. Ich dagegen musste über 20 Jahre lang, der ‚sozialistischen Abstammungslehre‘ entsprechend, mit dem Makel des Großbauernsohns leben. Erst Anfang der 70er wurde die Schmach der dogmatischen Kategorisierung von mir genommen. Ich wurde als Sonstiger der sozialen Herkunft nach eingestuft und gehörte von nun an zu der Minderheit in unserer Republik, die sich nicht in die soziale Nomenklatur Arbeiter (A), Bauern (B) und Intelligenz (I) einordnen ließ.
Kaum zu glauben und doch unbestreitbar: Ich war seit der Umsiedlung stets ein Bauernsohn ohne Land, ein Fürst ohne Land, nicht wie Johann Ohneland im 12. Jh. in England bei der Erbschaft vergessen, sondern durch den Krieg ums Erbe gebracht. Eine Folge des Krieges, meiner ersten Lebenskatastrophe.
Es sei wie es sei, schließlich stellt sich das UNERHÖRT ein: Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Ja, das ist es: In dreifacher Bedeutung:
– unglaublich, beispiellos,
– sodann: unverschämt, was der sich traut, das geht auf keine Kuhhaut
– und von der spätmittelhochdeutschen Wortherkunft her: nie-gehört:
von mir erweitert: un-erhört, was niemand hören will.

Aus dem 2. Kapitel, dessen Überschrift im Text genannt wird

Irgendwann kommt die Zeit, wo man es wissen will. Auf der Suche nach dem Woher bildet der Geburtsort in der Regel eine erste, quasi natürliche Verortung. Viele der Umsiedler haben im Lauf der Jahre ihre Geburtsstätten in Ostpreußen, Hinterpommern, Schlesien, im Sudentenland aufgesucht, um Erlebnissen in der Heimat nachzusinnen, sich zu erinnern, den Abstand zu messen zwischen dem Heute und dem Gestern, Verlorenem nachzutrauern, Zurückgebliebenen zu zeigen, wie herrlich weit man es gebracht, sofern man es zu etwas gebracht hat, Ansprüche anzumelden, Identitätsfindung zu betreiben.
In Michael Zellers Roman Die Reise nach Samosch (2003) sagt die Polin Bascha zu Stephan, dem jungen Schriftsteller, der erfahren möchte, wo sein Großvater als Wehrmachtssoldat Schreckliches sehen und erleben musste: ,,Die Deutschen kommen immer nur nach Polen, um nach ihrem Krieg zu schauen.“ Mein Grund war das nicht. Es war die Neugier, auf einen Ort zu treffen, den andere Heimat nannten, den ich fürwahr vergessen sollte und weitgehend verdrängt hatte.
In der Schule bin ich niemals aufgefordert worden, meinen Heimatort zu beschreiben und hätte es gern getan – besonders dieses Stück Land am Wald, aus dem immer die Züge kamen, die Fahrten auf der Eisenbahndraisine, wann immer sie vorbeifuhr, und wir Jungs, erwartungsvoll an der Eisenbahnstrecke stehend, ein Stück mitgenommen wurden.
Im Gegensatz zu meiner Mutter und meinen beiden älteren Schwestern hatte ich immer den Wunsch, mir Bernsdorf einmal anzusehen. August 1972 – eine Ferienadresse in Oliwa, einem historisch trächtigen Ort, nordwestlich von Gdańsk, hatte uns fast in die Nähe der alten Heimat gebracht, knapp 200 km trennten uns. Der Abstecher nach Bernsdorf war gesetzt.
Von Bütow über Hügendorf (Udorpie) kommend, stellten wir unser Auto am Dorfeingang gegenüber der Schule ab. Es war ein Moskwitsch (in der DDR nicht zu Unrecht oft Rostkwitsch genannt) – als russisches Produkt nicht gerade eine Empfehlung in Polen. Mich beschlich die bange Frage: Wie würden uns Dorfbewohner entgegentreten? Immerhin war mein Vater Bürgermeister gewesen. Was man im Laufe der Zeit von Verwandten und Bekannten gehört hatte, musste nicht in jedem Fall verlässlich sein.
Bis zur Dorfmitte, bis zur Kreuzung. Auf einer leichten Erhebung steht mit ihrem eingelassenen verschalten Fachwerkturm die katholische Kirche, in die wir einen Blick werfen konnten: Hauptaltar im Stil des Rokoko, barocke Seitenaltäre, Tragaltäre aus dem 18. Jahrhundert. Angeeignetes Kulturwissen, in der Kinderzeit ein fremder Ort, der ‚naturgegeben‘ gemieden wurde, will sagen: Zwischen den beiden Konfessionen gab es Spannungen, gelegentlich abfällige Bemerkungen über Katholiken im Dorf. Sie lassen sich unter Bigotterie mit den Merkmalen Glaubenseiferei und Scheinheiligkeit zusammenfassen. Gefühlt war unser Dorf mehrheitlich evangelisch.
Die evangelische Kirche auf einer kleinen Anhöhe am südlichen Dorfausgang, die Kirche meiner Eltern, blieb uns verschlossen. Seit die letzten deutschen Bewohner das Dorf verlassen hatten, war sie funktionslos, entsprechend trostlos ihr Anblick. Der Eindruck verstärkt sich durch den völlig verwahrlosten Friedhof. Irla, meine älteste Schwester, hatte von Bemühungen erzählt, für den Erhalt der Kirche unter ehemaligen Einwohnern zu sammeln. Wenngleich man die Initiative von Heinz von Mrozeck achten muss, mir stellt sich die Frage: Wozu? Gewiss, als Kirche ein Denkmal, aber für wen und wofür? Keiner braucht sie heute und die, die sie einst brauchten, werden immer weniger. Von Mroczek indes ist unermüdlich, scheint geradezu besessen von seiner Rettungsaufgabe, selbst weit über die achtzig bat er noch zum Jahreswechsel 2008/2009 meine Schwester um einen Obolus für anstehende Dachreparaturen.
Wir stehen an der Kreuzung, und ich bin mir ziemlich sicher, wir müssen nach links, geradeaus geht’s nach Stüdnitz (Studnice), dort, wo der Pfaffensee beginnt.
Plötzlich taucht der Briefträger auf – ich denke, die Zeit ist stehen geblieben – stoppt sein klappriges Fahrrad und fragt in bestem Deutsch:
– Kann ich Ihnen helfen? Wohin wollen Sie?
– Zum Hof von Löschmanns, antworte ich so verhalten wie möglich.
– Löschmann? Davon gab es im Dorf zwei, schießt es aus ihm heraus, Stotter-Löschmann und Bürgermeister Löschmann.
Pause.
– Wie heißt dein Vater?
– Max.
– Dann bist du der Martin.
Wie kann er meinen Vornamen wissen?
Meine Mutter hatte von unserem Namensvetter im Dorf berichtet, eine Verwandtschaft gäbe es jedoch nicht. Er muss meine Vorsicht, durch Unsicherheit geprägt, schnell verarbeitet haben: „Du, Martin, dein Vater war anständig, kein übler Nazi wie der Ortsgruppenleiter Wedel.“ Ein Stein fällt mir vom Herzen, wusste ich tatsächlich nicht genau, wie sich mein Vater besonders den Kaschuben gegenüber verhalten hatte. Obwohl man sich seine Eltern nicht auswählen kann und Sippenhaft nicht erwartet wird, machten mich die Worte des Briefträgers ein wenig sicherer. „Geht die Dorfstraße hinunter, auf der rechten Seite ist euer Haus. Ich schau hernach gleich mal bei Flissakowkis vorbei.“

Ein paar Schritte nach links gewendet, konnte ich das Haus erkennen, ein Haus, wie man es überall im Norden Deutschlands kennt: Backstein, ein Giebel in der Mitte der zwei symmetrischen Haushälften, die gewissermaßen durch den Eingang mit Treppenaufgang markiert sind. Das ist es, wiewohl ich nicht begreifen wollte, wie klein, fast armselig es auf mich wirkte. Sah so das Haus eines Großbauernsohnes aus?
Als ich meinen Blick nach links schweifen ließ, er auf den Koppelberg traf, rief und ich spontan und vorwurfsvoll aus: „Den haben die Polen abgetragen.“
Da ist er, der angekündigte Titel des Kapitels – „Den Berg haben de Polen abgetragen“.
Der Koppelberg – maximal 150 m hoch – hatte sich als stattlicher Berg in meinem Kopf festgesetzt, auch deshalb, weil meine Mutter gern erzählte, wie mein älterer Bruder Dietrich, kaum hatte er seine Schier zu Weihnachten bekommen, den Koppelberg erklommen habe und ohne hinzufallen heruntergefahren sei. Kein besonderes Kunststück angesichts der bescheidenen Höhe und des sanft abfallenden Abhangs.
Dietrich war der Stolz der Familie, sportlich, klug, erfolgreiches Notabitur, Leutnant, der eigentliche Erbe des Hofes, hätte nicht die Gesetzgebung unter Hitler den jüngsten Sohn zum Erbhofbauern bestimmt. Die älteren Brüder wurden für den Krieg gebraucht. Ich war der jüngste Sohn, der fünfte, der späte Nachkömmling, dessen Geburt meine Mutter mit den im Dorf üblichen Abtreibungsmitteln gern verhindert hätte, wie sie mir erst in Zeitz gestand, und zwar an dem Tage, als ich ihr das mit sehr gut abgelegte Abitur vorlegte. Sie war froh, dass ich damals offensichtlich keinen größeren Schaden genommen hatte.
Auf der Straße vor dem Haus waren wir schnell von vier, fünf Dorfbewohnern umringt, die uns offensichtlich freundlich gesinnt waren, fragten, wie es den Löschmanns ergangen sei. Unter ihnen der Pole von gegenüber, bei dem ich fast zwei Jahre als Pferdejunge gearbeitet hatte. Der Teufel muss mich geritten oder die Verklärung der Kinderzeit mich überwältigt haben, als ich ihm gegenüber ein, mein krönendes Lebensresümee gebe: „Wissen Sie, meine schönste Zeit war eigentlich die nach dem Krieg bei Ihnen: keine Schule, Pferde füttern, striegeln, aus- und anspannen, reiten, pflügen und die herrlichen Ausfahrten am Wochenende. Erinnern Sie sich? Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Das war sein Lieblingslied, er sang es immer, sobald ich ihn, meistens eine Frau neben sich, von Hochzeiten, Kindtaufen, Begräbnissen nach Hause kutschierte. Ich geriet in Fahrt, wurde aber jäh gebremst, denn sein Gesicht versteinerte förmlich. Zu spät. Mit dem knappen Hinweis, er habe zu tun, verließ er abrupt die Runde. Offensichtlich hatte ihn ein Schuldgefühl den Perspektivwechsel nicht mit vollziehen lassen. Wie hätte ich mit zehn die Schule vermissen sollen? Mit Pferden selbstständig umzugehen war für einen Bauernjungen das größte Glück. Was scherte mich, wem Haus und Boden gehörten. Alle mussten ohne Unterschied aufs Örtchen am Ende des Hofes, allerdings Knecht, Magd und Saisonarbeiter in die linke Hälfte, die Besitzerfamilie in die rechte. Oder umngekehrt, getrennt aber allemal.
„Wenn der Bauer an den Waldesrand hetzt,
war das Plumpsklo schon besetzt.“

Noch in Zeitz hätte ich davon geschwärmt, Bauer zu werden, schreibt Irla, meine älteste Schwester, „und sei es auf einem ganz kleinen Hof wie dem von Knuths in Bernsdorf.“ Von dieser Sehnsucht ist nichts übrig geblieben. Bernsdorf kein Sehnsuchtsort.

Weiter: aus dem Kriegskapitel:
Ohne Schlittschuhe in den Krieg geschlittert

„Opa, wie hast du den Zweiten Weltkrieg erlebt?“, fragte mich Julika 2003 in einer E-Mail aus Chiang Mai. Im Geschichtsunterricht in ihrer internationalen Schule wurde der 2. Weltkrieg behandelt und im Rahmen einer Projektarbeit sollten – wo möglich – Zeitzeugen befragt werden.
Allein, wie vermittelt man Vierzehn-/Fünfzehnjährigen vieler Herren Länder in Thailand Kriegserlebnisse aus ferner Zeit und fernem Ort? Wie soll sich ein Großstadtkind wie Julika, ein Friedenskind, das Leben in Kriegszeiten in einem kleinen Dorf vorstellen können, in einer Gegend, deren Namen sie nie gehört hat. Ein Gott verlassenes Nest, wie soll sie sich da hineinversetzen?
Überhaupt: Wie erzählt ein Großvater seiner Enkelin vom zweiten Weltkrieg, den sie aus dem Geschichtsbuch als einen von vielen Kriegen kennen lernt und der für sie vorab durch die vorgesetzte ZWEI relativiert wird?
Jaja, der Ansatz, ein Enkelkind vor Augen über große Ereignisse in unserem Leben zu berichten, ist nicht gerade originär. Wer hat nicht alles versucht, sich über von Nachkommen eingeforderte Erinnerungen zu definieren. Ich denke an Jürgen Kuczynskis Anfang der 80er Jahre veröffentlichten kritischen Dialog mit meinem Urenkel, in der DDR geradezu verschlungen und 1997 mit schwarzen Marginalkennzeichnungen erschienen, die von der DDR-Zensur entfernten Stellen markierten. Ach, da fallen mir sofort andere Namen ein: „Im Leben sammelt sich was an“, sagt in Erwin Strittmatters Laden der Großvater zu seinem Enkel Esau, als der von seinen schriftstellerischen Ambitionen berichtet. Nach unserem Chinaaufenthalt fiel mir Der Kaiser von China von Tilman Rammstedt, Ingeborg-Bachmann-Preisträger, in die Hände: Aus der Höhlenperspektive, nämlich unterm Schreibtisch schlafend, essend, wohnend, beginnt ein Keith, die Hauptfigur in diesem Roman, das Leben seines Großvaters aufzurollen.
Mein Großvater war stets beleidigt, wenn man nicht auf ihn gehört hatte, dabei konnte man nie auf ihn hören, weil er einem immer erst im Nachhinein mitteilte, was man alles hätte anders machen sollen, aber ihn habe ja keiner gefragt, und schau, jetzt bist du nass, und schau, jetzt haben wir uns verfahren, und schau, jetzt bin ich tot.
Ich, der ich keinen Großvater hatte, begann so: Als sich der Krieg ernstlich in mein Leben einmischte, näherte sich mein zehnter Geburtstag. In unserem kleinen Dorf hatte ich lange kaum etwas vom Krieg gespürt. Bedenke, ich war mal gerade vier, als der Krieg ausbrach. Ich sah, wie meine Eltern wie andere auch immer öfter aufgefordert wurden, allerlei Dinge zu spenden. Was man im Krieg so braucht: Wolldecken, Handschuhe, Pulswärmer für die Soldaten, die im unerbittlich harten Winter in Russland kämpften. Kindersachen waren nicht gefragt.
Ein polnischer Jugendlicher war unserem Hof ‚zugeführt‘ worden. Adam wurde er genannt, kaum über 15. Wie er zu uns kam, weiß ich nicht. Mein Vater hätte mir keine Antwort gegeben, meine Mutter, verstrickte sich in vagen Andeutungen: Adam sei elternlos und verwahrlost in Warschau von deutschen Soldaten aufgegriffen und wie andere polnische Jungen und Mädchen in einer deutschen Familie untergebracht worden. Dass man ihn wie einen Knecht behandelte, blieb uns natürlich nicht verborgen. Wir Kinder fühlten uns zu ihm hingezogen, damit meine ich mich und meine Schwester Gisela – deine verstorbene Großtante, Julika. Er war für uns eine Art älterer Bruder, kam aus einer anderen Welt, aus dem Wald, aus dem die Züge heranstampften, drei, vier Jahre jünger als mein Bruder Dietrich, der, nach Notabitur zum Offizier ausgebildet, an die Ostfront kam und 1945 in Russland gefallen ist. Adam spielte in seiner Freizeit oft mit uns: Räuber und Gendarm z.B. Wir bewunderten ihn, wenn er etwas Verbotenes tat und das passierte nicht selten. Er rauchte gern, am liebsten Zigarren. Um uns seine Zuwendung zu erhalten, klauten wir aus der Zigarrenkiste meines Vaters ab und an eine dicke Zigarre für ihn. Heute weiß ich, dass er sich mehr zu Renate, meiner zweitältesten Schwester, hingezogen fühlte, sie war in seinem Alter. Er gab ihr mehrfach zu verstehen und freute sich dabei über die Schockwirkung, die seine Drohgebärde auslöste, er würde sie heiraten, sobald er achtzehn und volljährig wäre. Als der Krieg zu Ende war, hat Renate große Angst ausgestanden, er würde als Sieger sein angedrohtes Versprechen wahrmachen. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie froh Renate über sein spurloses Verschwinden war.
Dass Adam ein Recht auf Wiedergutmachung hatte, steht auf einem ganz anderen Blatt. Mehr als fünfzig Jahre dauerte es, bis polnischen Zwangsarbeitern von deutscher Seite aus eine Entschädigung für die geleistete Fronarbeit gewährt wurde. Wäre es nach dem Vorschlag von Manfred Gentz von Daimler-Chrysler gegangen, hätte Adam keinen Anspruch gehabt; nach diesem Vorschlag sollte nur Geld empfangen, wer „unter Gefängnis ähnlichen Bedingungen“ schuften musste. Und davon konnte auf unserem Hof keine Rede sein, dennoch ist Adam für mich das lebendige Beispiel für die Deportation von Zwangsarbeitern.
Konkrete Gestalt nahm der Krieg für mich an, als die ersten Flüchtlinge aus Gebieten weit weg in unser Dorf kamen, aus Ostpreußen, wo der Krieg bereits hingekommen war. Sie suchten meistens ein Nachtlager, das ihnen durchaus gewährt wurde, erwartungsgemäß auch bei uns im Haus und in der Scheune. Doch sah man sie lieber weiterziehen als zwei Nächte in unserem Dorf verharren. Sie mussten Essen, die Pferde Futter bekommen.
Der Ernst der Lage wurde in Bernsdorf erst zu dem Zeitpunkt begriffen, als ein russisches Flugzeug ungehindert über unser Dorf flog und die Kreisstadt Bütow bombardierte. Die Luftangriffe wiederholten sich. Unser Dorf blieb jedoch weitgehend verschont, sieht man von Freitag, dem 2. März 1945, als sich in der Joppe meines Vaters ein Bombensplitter verfing, just als wir uns versammelten, um die Flucht anzutreten.
Einige Tage nach meinem Geburtstag hatte es geheißen, das Dorf wird geräumt, viel zu spät, wie sich bald herausstellte. Die Deutschen mussten fliehen, die kaschubischen Dorfbewohner und die Fremdarbeiter wie Adam blieben, sie hatten nichts zu befürchten, im Gegenteil, sie konnten damit rechnen, nach Hause zurückzukommen.
Weil der Packraum arg begrenzt war, hieß es, wir Kinder dürften nur je ein Spielzeug mitnehmen. Ich wählte meine Schlittschuhe aus, ich hatte sie gerade zu Weihnachten bekommen. Bei uns im Dorf liefen fast alle Kinder Schlittschuh. Das konnte man gut und gern drei bis vier Monate lang auf Teichen, Seen und glatten Straßen. Ein Traum war für mich in Erfüllung gegangen. Ich übte jeden Tag und machte gute Fortschritte. Mit der Flucht stand mir eine große Reise bevor. Rundum toll fand ich die Vorstellung, sich an das Pferde-Fuhrwerk zu hängen und über die Straßen zu schlittern, ohne sich allzu sehr anzustrengen. Natürlich war das ein verbotenes Vergnügen. Ich malte mir aus, wie ich mit meinen untergeschnallten Schlittschuhen über die glatten Straßen ins Rettende schlittern würde. Bevor ich die Schlittschuhe mein eigen nennen durfte, war ich mit den Schuhen über die glatten Flächen geschlittert. Der Ausdruck wurde beibehalten. Wir liefen nicht Schlittschuh, sondern wir schlitterten. Was für eine Vorfreude auf die Flucht und wie hab’ ich geweint, als meine Mutter zu guter Letzt entschied, dass ich meine heißgeliebten Schlittschuhe nicht mitnehmen durfte. Sie wurden zusammen mit dem guten Geschirr und anderen Gegenständen nachts in einem Hohlraum unter der Diele versteckt. Meine Mutter tröstete mich, wir kommen bald zurück, dann bekommst du deine Schlittschuhe wieder. Sie sollte nur zum einem Teil recht behalten, wir kamen bald zurück, von meinen Schlittschuhen und all den versteckten Sachen keine Spur.
Ohne Schlittschuhe hatte die Flucht für mich jeglichen Reiz verloren. Ich weinte wie fast alle auf den Flüchtlingswagen, als es geordnet losging. Wir reihten uns ein in einen riesigen Flüchtlingstreck. Sehr langsam ging es gen Bütow voran, überall auf den Straßen neben den und vor den Wagenkolonnen Militärfahrzeuge, Verwundetentransporte, stundenlanges Stehen, Umleitungen, Übernachtungen zumeist in Scheunen und Pferdeställen, allerdings zwei-, dreimal in Häusern mit gemachten Betten, sonst keine Badewanne, keine Dusche, kein Waschschuber, tagelang oft ungewaschen durchs Land ziehen, irgendwann etwas essen, was meistens nicht schmeckte, und die Front kam immer bedrohlicher näher. Ein-, zweimal tauchten Flugzeuge auf und beschossen die Wagenkolonne. Wir blieben verschont, gewiss nicht weil wir uns rechtzeitig in den Straßengraben geworfen und in den Schnee eingewühlt hatten. Zufall, purer Zufall, im Ernstfall hätte uns nichts geschützt.
Endstation am 13. März, es ging nicht mehr weiter, in einer Schule saßen wir fest. Hunderte von Gefangenen, Häftlingen, vermutlich aus einem KZ, wurden durch das Dorf getrieben, schleppen sich dahin, von Stöcken und Gewehrkolben gesteuert.
Urplötzlich schrie jemand: „Die Russen kommen“ oder etwas Ähnliches. Eine unbeschreibliche Stille – Stille aus Angst – breitete sich aus. Russische Panzer tauchten auf, zuerst Spähpanzer, dann die berühmt-berüchtigten T34. Sie ratterten vorbei, als wollten sie gar nicht anhalten. Sie mussten angehalten haben, denn auf einmal standen drei leibhaftige Russen vor uns, drei Rotarmisten, wie wir sie später nannten. „Woijna kapuut!“ Der Krieg sei für uns zu Ende, erklärte einer, fraglos der Offizier, in Deutsch. „Damoi, damoi“, wir sollten dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen seien, nach Hause. Kein blitzendes Messer zwischen den Zähnen, kein Ohrenabschneiden, kein Zungenherausreißen.
Wir mussten umkehren. Ein Fuhrwerk war geblieben. Die zwei Pferde, die den Wagen nach Hause bringen sollten, hielten sich kaum auf den Beinen, völlig abgemagert, klapperdürr. Irgendwie setzte sich der dezimierte Treck dennoch heimwärts in Bewegung. Schon im ersten oder übernächsten Dorf wurde er gestoppt, russische und polnische Soldaten schritten die Wagenkolonne ab: Ob sie Nemetz oder Polski, Deutsche oder Polen waren, wurden alle Männer gefragt, die auf den Fuhrwerken saßen. Ich höre meinen Vater mit fester Stimme sagen: „Deutscher.“ Mit diesem Bekenntnis hatte er sein Todesurteil unterschrieben.
Er musste vom Wagen heruntersteigen und sich zu der Männergruppe unter Bewachung etwas abseits stellen: alles Männer über 50, die bestenfalls dem Volksturm angehören konnten, Uns wurde befohlen weiterzufahren. Der Vater blieb da. Keine Verabschiedung. Ich schnappte mir die Leine und versuchte die Pferde in Bewegung zu setzen. Vater wird nachkommen, hieß es. Er kommt wieder, er kommt bestimmt wieder, er muss doch wiederkommen, und kam nicht wieder.
Nach wochenlangen Märschen gen Osten unter unmenschlichen Strapazen ist er vor Schwäche zusammengebrochen und von einer der russischen Begleitpersonen erschossen worden. Das erfuhren wir sehr viel später von einem Heimkehrer. Er sei in den Wald geflohen, den er gut kannte, und auf der Flucht erschossen worden, war eine andere Variante.
Ein starker Mann, jünger als mein Vater, reagierte blitzschnell, als die Schicksalsfrage gestellt wurde, er gab sich als Taubstummer aus. Er spielte die Rolle dermaßen überzeugend, dass er unbehelligt blieb und sicher nach Hause kam. Im Laufe der Zeit perfektionierte er seinen Auftritt dadurch, dass er den Siegern mit gezielter Taubstummen-Gestik aus seinem Tabakbeutel Tabak anbot. Jedes Mal bin ich vor Bewunderung erstarrt, wenn Herr Berndt und die Gefahrbringer in friedlicher Runde die Friedenspfeife rauchten. Ach ja, das Bild trifft nicht bis ins Letzte zu: erstens rauchte nur er Pfeife, während die Bedränger ihre selbstgedrehten Papirossa qualmten, zweitens war es eher ein Auszeitnehmen, gegründet auf dem grenzüberschreitenden Mitleid mit Behinderten.
Meine Kutscherfreuden währten nicht lange, hatten sie denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt gewährt, frage ich mich beim Korrekturlesen. Die Wehrmacht hatte sich die besten Pferde genommen, nunmehr holten Russen und Polen, was übriggeblieben war: Pferd und Wagen. Hab und Gut verringerten sich Stück um Stück. Irgendjemand nahm uns mit auf seinem Wagen, meine Mutter, meine zwei Schwestern und mich.
Wieder einmal an einem Morgen tauchten russische Soldaten in unserer Unterkunft auf und verlangten, ich und weitere Jungen zwischen 10 und 15 Jahren sollten mitkommen. Meine Mutter versuchte mich festzuhalten, wurde aber bedrohlich zurückgestoßen. Das hatte es bisher nicht gegeben, dass Jungs eingesammelt wurden. Des Rätsels Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Wir sollten mithelfen, frei herumlaufende Kühe, Bullen und Ochsen, Schafe und Ziegen in eine eingezäunte Koppel zu treiben. Mit Geländewagen wurden wir in Gruppen von vier bis fünf Treibern, geleitet von je einem Rotarmisten, fünf oder sechs Kilometer von Reckow, südlich von Bütow, abgesetzt und los ging die Jagd. Wir schwärmten nach verschiedenen Seiten aus und bewegten uns, mit Stöcken ausgerüstet, vorsichtig auf die Tiere zu – in der Mehrzahl Kühe. Das Gelände war hügelig, die verharschte Schneedecke, aus der hier und da graue Erdklumpen herausragten, erschwerte das Fortkommen. Mir machte das wenig aus, ich war in meinem Element: Kühe zusammentreiben und hüten hatte ich gelernt.
Mein Eifer und Geschick mussten den dirigierenden Soldaten aufgefallen sein. Jedenfalls wurde ich, nachdem das Tagewerk vollbracht und ich in unserer Unterkunft zur Freude meiner Mutter unversehrt abgeliefert war, kurz danach als einziger der Jungen in den Gemeinschaftsraum geholt und verpflegt wie die Russen auch: mit Brot, Wurst, gebratenen Eiern und Speck. Müde gelaufen und hungrig wie ich war, habe ich kräftig zugelangt. Kritisch wurde es erst, als man mir Wodka reichte und unbedingt erwartete, dass ich ihn hinterkippte. Gleich mehrere Soldaten machten mir vor, wie auch ich diese Aufgabe männlich bewältigen könne. Molodjetz – Prachtkerl. Das Zeug stank erbärmlich, ich wusste, das bringst du nicht runter, und fing an zu weinen. Da tauchte ein Offizier auf und bot dem nicht kindgemäßen Treiben zu meiner Erleichterung ein Ende.
Wir kehrten nach Hause zurück.
Haus und Hof waren inzwischen von einer polnischen Familie in Besitz genommen worden. Uns gehörte nichts mehr im Dorf, das nunmehr Ugoszcz hieß. Wir kamen im Nachbarhaus unter und mussten den neuen Besitzern zur Hand gehen, ich als Stalljunge bei dem Polen, der den Hof bewirtschaftete, auf dem wir jetzt wohnten, meine beiden Schwestern als Hausmädchen. Lohn für die Arbeit gab es nicht, genug zu essen und zu trinken schon.
Fast drei Jahre hat es gedauert, bis wir die Erlaubnis erhielten, die Heimat zu verlassen. Warum es in unserem Fall bis Ultimo dauerte, ist mir bis heute nicht erklärlich. Waren wir billige Arbeitskräfte für die Polen, die polnischen Behörden mit der Aussiedlung überfordert oder war es purer Zufall? Facharbeiter wurden zurückgehalten, solange es ging, Arbeitsfähige generell, in diese Kategorie gehörten wir wohl eher nicht. Was wir mitnehmen durften, war äußerst begrenzt, zwei Koffer, zwei, drei Taschen. Auf dem Sammelplatz in Bütow wurde das Gepäck einer scharfen Kontrolle unterzogen. Das war’s. Nun ade, du, mein lieb Heimatland.
In Zeitz wurden wir in einem der großen Säle der Moritzburg untergebracht, nachdem man uns durch eine Entlausungsstation geschleust hatte. Wir lagen mit über 50 Personen in einem ehemaligen Rittersaal. (Wer denkt da nicht an die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen!) Mehr als acht Wochen mussten wir dort leben, auf dem Fußboden kampieren, zwei Decken standen jedem am Anfang zur Verfügung. Die Verpflegung war zentral geregelt. Zum Sattessen zu wenig, zum Verhungern zu viel. Hunger hatten wir Jungs immer.
Das Mittagessen wurde in Kübeln gebracht. Da sie undicht waren, klebten an den Außenseiten, besonders an den Deckeln übergeschwappte Essensreste. 20 bis 30 Jungen warteten darauf, dass die leeren Kübel auf den Hinterhof gestellt wurden. Kaum erschien einer, stürzte sich die Horde darauf, um die unappetitlichen Reste abzukratzen und zu verschlingen. Jedes Mal tobte ein unerbittlicher Kampf, denn nur einer konnte jeweils der Gewinner sein. Es gab an keinem Tag genügend Kübel für alle Hungrigen.
Erst jetzt – 1948 – forderte die Schule ihr Recht. Mehr als 50 Fehler im ersten Diktat machten mich zum krassen Außenseiter der Klasse. Ich schämte mich unendlich, auch wegen der grob gestrickten langen Strümpfe, die keiner mehr trug. Sie waren mithilfe von Strumpfhaltern, heute Strapse genannt, an einem Leibchen festgemacht, welches man zwischen Unterhemd und Hemd trug. Und diese ekligen gelblichen Igelitschuhe, hergestellt aus gesundheitsschädlichem Weich-PVC. Im Sommer schwitzte man furchtbar darin, im Winter fror man erbärmlich. Anfang der fünfziger Jahre wurden sie Gott sei Dank aus dem Verkehr gezogen.
Da ich in die Klasse eingestuft worden war, in die ich vor der Flucht ging, überragte ich alle, geistig schien ich ein Zwerg zu sein. Mein Banknachbar gab mir jedoch eine Chance: „Du stinkst wenigstens nicht.“ Lange hielt meine Drangsal nicht an. Durch den Krieg, den Tod des Vaters und die geschwächte Mutter vollends auf mich gestellt, lernte ich hochmotiviert und holte den Stoff relativ schnell auf, sodass ich innerhalb eines Jahres zwei Klassen überspringen konnte.
Damit wollte ich mit dem Krieg für mich abschließen. Beim Wiederlesen des Kapitels wird mir eine Leerstelle klar: Das Thema Vergewaltigungen, sowohl in der DDR und als auch in der Sowjetunion tabuisiert, ist nicht allein aus meiner kindlichen Erlebnisperspektive zu erzählen, sie verstärkt womöglich das von Meinungsmachern einseitig geprägte Bild von den Russen.
Die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Bernsdorf, quasi ins alte Zuhause, hatten wir auf dem Fußboden in einer Schule verbracht: Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, Alte und Junge. An Schlaf war nicht zu denken, mindestens fünf oder sechsmal wurde die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen, bewaffnete Russen trieben uns hoch, mal suchten sie deutsche Soldaten, mal wollten sie Schmuck haben, mal Uhren – Uris, mal beides.
Und nicht nur das. Die nächtlichen Eindringlinge zeigten sich erbarmungslos. Nach einiger Zeit kamen die geschändeten und geschundenen Mädchen und Frauen zurück. Obwohl ich nur ahnte, was ihnen angetan wurde, waren ihr Schreien, ihr Schluchzen, ihre Hilferufe unvergleichlich erschütternd, etwas Furchtbares musste mit ihnen geschehen sein. Die grausamen Ängstigungen, Demütigungen, Erniedrigungen der Nacht hätten sich in die Gesichter eingegraben, hieß es. Meine Schwester Renate, ungefähr so alt wie du jetzt, Julika, wurde gegen Morgen herausgeholt. Eine Frau hatte mit der Vergewaltigung nicht leben können und sich unter dem Dach des Schulgebäudes erhängt.
Hätte ich Julika mit Werner Heiduczek, dem Leipziger Schriftsteller aus Oberschlesien, kommen können? Kaum. Er brach 1977 in seinem wohl bekanntesten Roman Tod am Meer das Tabu, indem er auf die Frage „Habt ihr vergewaltigt?“ den sowjetischen Offizier antworten lässt:
„Ob Griechen oder Römer, Osmanen oder Chinesen, Amerikaner oder Russen, schick sie in den Krieg, und es wird Mord geben, Raub, Plünderung und Vergewaltigung. Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.“
Einfach lächerlich, die Spatzen pfiffen es von den Dächern, kein Geringerer als Ilja Ehrenburg hatte es in seinem Tagebuch bestätigt. Gut ein Jahr vor Heiduczek hatte Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster das heikle Thema gewissermaßen gestreift, indem sie von einem jungen russischen Offizier erzählt, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Heiner Müller gab dem Thema in seinem letzten dramatischen Text Germania 3 Gespenster am toten Mann zudem eine neue Perspektive:
Schlafzimmer mit Doppelbett. Ein russischer Soldat vergewaltigt eine deutsche Frau. Auftritt ein Mann in der gestreiften Uniform des Konzentrationslagers mit dem roten Winkel des politischen Häftlings. Er sieht eine Weile zu, dann erschlägt er den Soldaten.
Hier beginnt die Befreiung, der Frieden mit einem Mord.

Übrigens: Inzwischen gibt es eine wissenschaftliche Untersuchung, die Heiduczek und auch mich belegt: Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs.“ Darin wird nachgewiesen, dass die amerikanischen Soldaten gleichfalls vergewaltigten, die englischen auch, wenngleich merklich weniger. Was für ein schwacher Trost!

Abgelehnt und doch studiert – aus dem 6. Kapitel

Das Abitur mit EINS in der Tasche und Mitglied in der FDJ, da hätten mir die Leipziger Universität doch weit offen stehen müssen. Pustekuchen. Der Schreck drang mir tief in die Knochen, als ich die Mitteilung las, dass meine Bewerbung um einen Studienplatz am Germanistischen Institut der Leipziger Universität nicht berücksichtigt werden könne. Ich hatte mit allem, aber nicht mit einer Ablehnung gerechnet, zumal ich ‚nur‘ Deutschlehrer, nicht Diplomgermanist werden wollte. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wissen konnte – oder doch? In Leipzig nahm man im Immatrikulationsjahr ausschließlich Lehrerstudenten und -studentinnen auf und erst beim Treffen in Leipzig anlässlich unseres goldenen Examens erfuhr ich, dass für einige, die unbedingt in Leipzig Germanistik studieren wollten, das Lehrerstudium lediglich ein Vorwand gewesen war. Für mich hingegen war es damals Verstandes- und Herzenswunsch. Sicherlich hatte bei meiner Ablehnung auch meine soziale Herkunft eine Rolle gespielt. Allerdings hätte ein AUSGEZEICHNET auf dem Abiturzeugnis mir die Bedrängnis wahrscheinlich erspart, denn damit war ein Anspruch auf das gewünschte Studienfach garantiert, nicht jedoch auf einen bestimmten Studienort.
Dass ich dennoch zum Studium kam, verdanke ich in erster Linie meiner Schwester Gisela, angestellt beim Rat der Stadt. Sie erzählte dem damaligen Zeitzer Bürgermeister von der Ablehnung. Seinen Namen habe ich bedauerlicherweise vergessen, den hätte ich mir schon aus Dankbarkeit merken müssen. Ihm fiel spontan die Romanistin Rita Schober in Berlin ein, er kannte sie, weiß ich woher, und war felsenfest überzeugt, sie könne und würde mir helfen.
Da der Universitätsbetrieb im Sommer weitgehend ruht, empfängt mich die bedeutende Schülerin von Victor Klemperer in ihrer Wohnung. Ihn kannte ich natürlich, sein Notizbuch eines Philologen LTI. Lingua Tertii Imperii, in dem er sich mit dem Sprachgebrauch des Nationalsozialismus auseinandersetzt.
Meine Aufregung überschritt das Maß, das noch Kreativität erlaubt, weshalb mein Erinnerungsvermögen hinsichtlich des Situationsrahmens mehr als dürftig ist. Ich stand einer Professorin für Romanistik gegenüber und beherrschte nicht Französisch. Selbstverständlich hatte ich mich auf das Gespräch vorbereitet: Jemand brachte Tee, wir könnten in einem Wintergarten gesessen haben, zum ersten Mal in meinem Leben Tee mit einer Professorin, die schlank und rank; bei irgendeiner Tagung an der Humboldt-Universität sprach man von der bestangezogenen, der schönsten Professorin an der Humboldt-Universität. Die Anmutige ließ mich darlegen, warum ich ausgerechnet Germanistik studieren wolle, warum gerade in Leipzig und welche Gründe ich für meine Ablehnung sähe. Daraufhin stellte sie mir ein, zwei, drei Fragen zu literarischen Neuerscheinungen und plötzlich sagt sie: „Sie können bei mir Romanistik studieren.“ Meine stotternd vorgetragenen Bedenken, dass ich nicht Französisch könne, wischte sie mit einem einnehmenden Lächeln vom Tisch. Nach meinem Abitur zu urteilen, könne ich die Sprache im ersten Studienjahr wohl hinreichend lernen. Da ich jedoch skeptisch, äußerst skeptisch blieb, verfolgte sie ihren Vorschlag nicht weiter und versprach, sich bei den Germanisten in Leipzig für mich zu verwenden.
Fast 50 Jahre danach lese ich in einem Interview aus dem Jahre 2007:
„Ich meine, dass jede Gesellschaft scheitern muss, die glaubt, mit den Funktionsmechanismen ihres Systems die endgültige Lösung für alle Probleme bereits gefunden zu haben, die also für eine weitere Entwicklung und selbstkritische Reflexion des Bestehenden nicht mehr wirklich offen ist.

Mit großer Ehrfurcht betrat ich im September 1955 die heiligen Hallen der Alma Mater Lipsiensis, Immatrikulationsfeier in gehobener, aufgeregter Stimmung. Aus der Provinzstadt Zeitz angekommen in einer Großstadt, Messestadt obendrein, endlich eine Bude für mich komplett allein, und ist sie noch so klein, 14 m². Damenbesuch bis 22 Uhr. Ich war zwanzig!
Zwei Seminargruppen wurden gebildet, mehr als dreißig waren wir wohl nicht insgesamt. Zu meiner Überraschung werde ich zum FDJ-Sekretär meiner Gruppe vorgeschlagen und gewählt, obgleich man mich doch zuvor gar nicht haben wollte und ich an der Oberschule nicht gerade durch aktives Mitwirken im Jugendverband aufgefallen war. Um bei diesem Erinnerungsstrang sicher zu gehen, rufe ich im August 2009 bei Ingeborg Voigtsberger an, geb. Forner, Tochter eines Bäckermeisters, Mitschülerin seit der Grundschule, die sich an die Schulzeit viel besser erinnert als ich. Leider weiß sie es selbst nicht mehr genau, geht die besten Schülerinnen und Schüler durch und hält immerhin für möglich, dass ich FDJ-Sekretär der Klasse gewesen sein könnte. Mein Freund Rainer, der nicht Zahnmedizin studieren durfte und in Westberlin sein Glück versuchte, reagierte unmissverständlich, als ich ihm meine Erinnerungsnot mitteile: „Martin, du kannst ganz sicher sein, an der Penne warst du eine politische Null“. Danke, lieber Freund, soll mir ein Stein vom Herzen fallen? Nein, da war überhaupt kein Stein.
Es war im zweiten Studienjahr, also 1957. Die GST steckte in ihren Anfängen. Wir Studenten waren angehalten, in den Ferienmonaten an Übungen teilzunehmen. Die Leipziger Universität hatte in Breege auf Rügen ein Zeltlager, das als Ausbildungsbasis diente. Wenn ich mich recht entsinne, sah der Dienstplan vor: vormittags Ausbildungseinheiten und nachmittags Freizeitgestaltung, zwei Ganztagsexkursionen eingeschlossen. Eingeschränkter, aber bezahlter Ostseeurlaub.
Die erste Exkursion startete am 8. August 1957 und führte nach Hiddensee, der kleinen Insel ohne Autoverkehr, ehemals Sommerwohnsitz von Gerhart Hauptmann. Auf Morgensport wurde nicht verzichtet, danach wie immer Sturz auf die Frühstücksbaracke. Ich erwische mit meinem Teller einen Eckplatz an einem langen Tisch: drei Brötchen, Butter, ein Stück grobe Leberwurst und eine Käseecke drauf. Von meinem Platz aus habe ich einen freien Blick auf die Ausgabeluke. Die Jungen sind abgefrühstückt, da marschieren die Mädchen herein in Zehnergruppen. Meine Augen richten sich von dem eintönigen Frühstück weg auf die erste Zehnergruppe, bleiben stehen bei der 6. Position, deren Platzhalterin wie alle eine abgelegte Arbeitskluft der Volksarmee trägt. Da ich sie nur schräg erfassen kann, prägt sich mir eine Seitenansicht ein, die bestimmt wird durch eine lachende Gesichtshälfte, eine sich in der Kluft abzeichnende linke Brustwölbung, eine aufreizend auffällig eng gegürtete Taille und eine linke Pobacke, die allerdings selbst durch die ausgebeulte Armeehose erahnt werden kann. Sie durchkreuzte mein Sehfeld von rechts kommend, versprühte ein paar Funken und verschwand nach links.
Der Bus bringt uns nach Schaprode, von dort verkehren die kleinen Fähren nach Hiddensee. Das Boot bis zum Bersten beladen, doch ich erkämpfe mir einen Sitzplatz, stehe auf, überblicke mit Siegermiene das vollgepfropfte Deck und entdecke ganz am anderen Ende die wohlproportionierte Seitenhälfte, jetzt mit voller Breitseite, ohne Sitzplatz. Blitzartige Entscheidung: Versuche mich bemerkbar zu machen und durch fahrige Zeichen auf einen zu vergebenden – meinen! – Sitzplatz zu weisen. Nach mehrmaliger nonverbaler Rückkopplung setzt sich die erwartete Auserkorene in Bewegung, bahnt sich ihren Weg durch die wie Heringe gepressten Ausflügler und Ausflüglerinnen. Die Eingepferchten empört, wo will die denn hin, ist doch alles dicht. Ich kann ihr nicht entgegengehen und eine gegenläufige Schneise zum Platz öffnen, weil mein Platz von mehreren Individuen umstanden ist, die sich vermutlich sofort auf meinen Königsstuhl gestürzt hätten. Sie schafft es auch ohne mich, kommt etwas zerknautscht an, bedankt sich artig und setzt sich. Ich stehe vor ihr, ein Entweichen ist kaum möglich, zu sehr steckt der Spießrutenlauf in Seele und Knochen.
Die verbale Kontaktkommunikation kann beginnen. Die Überfahrt dauert knapp eine Stunde. Die musst du wiedersehen, mit angestrengtem Gesicht kommt dann auch die alles entscheidende Frage, eigentlich keine Frage, eher eine Aufforderung: „Sollten wir uns nicht nach dem Abendessen am Strand treffen?“ Es ist genau die Fragestruktur, die eine chinesische Studentin 2006 in Tsingtau bei einem Treffen mit deutschen Studenten von der Nachbaruniversität zu verstehen hatte, nur dass der Student sie in ein Restaurant einladen wollte. Sollten wir uns nicht mal in einem Restaurant treffen? Welche Bedeutung hat in dem Satz das SOLLTEN, wollte die besagte Studentin wissen? Diese Bedeutung war in unserem Grundkurs bislang nicht vorgekommen.
19 Uhr wird bestätigt, überpünktlich bin ich am verabredeten Ort, doch keine Marianne erscheint, auch nach einer Viertelstunde nicht. Etwa 80 bis 100 Meter entfernt sehe ich ein Pärchen stehen. Nein, das kann sie nicht sein, obzwar … Entrüstet, empört, gekränkt kehre ich ins 20-Mann-Zelt zurück: Was nimmt die sich heraus und nicht einmal ein Foto von ihr. Ich lenke mich ab und lese in Brechts Arturo Ui. Nach etwa einer halben Stunde ruft der Wachhabende ins Zelt hinein: Martin, eine Jani möchte dich sprechen. Lese, nicht zu sprechen. Ein Gemurmel setzt ein, das zum Gejohle aufsteigt. Marianne bewegt sich in geduckter Haltung im Zwischengang auf mich zu, der am Ende des Zeltes auf der rechten Seite seinen Schlafplatz hat. Sie kniet vor mir nieder und bittet zerknirscht mit verheißungsvollem Augenaufschlag um Entschuldigung. Bei den aufreizend gejohlten Begleitkommentaren war das eigene Wort nicht zu verstehen, geschweige denn das von Jani. Eigentlich hätte ich sie ein wenig zappeln lassen müssen, aber ich fühlte mich derart geschmeichelt, dass ich ohne langes Zögern aus dem Zelt kroch, sie vorne weg.
Draußen verabredeten wir uns ein zweites Mal, für den Tanzabend am kommenden Tag. Ich war fest überzeugt, sie würde kommen und sie kam. In der Liebe hat man keine Wahl.
Was macht denn dein Vater?, fragt mich die achtzehnjährige Marianne beim ersten Tanze auf der dörflichen Tanzdiele irgendwo auf der Insel Rügen. Nachdem ich meine Verwunderung ob der Frage unumwunden zum Ausdruck gebracht und mich als Bauernsohn, nicht als Großbauernsohn aus Hinterpommern geoutet hatte, wie man heute im besten Neuhochdeutsch sagt, erfuhr ich von Marianne, dass ihr Vater Professor für Theaterwissenschaft und obendrein, stellte sich gesprächsweise heraus, mit Professor Hans Mayer befreundet ist. Ich gestehe, dass ich als Leipziger Germanistikstudent, der den berühmten Professor Mayer nur aus respektvoller Entfernung kannte, beeindruckt war, ohne es in irgendeiner Weise zu verbalisieren.
Imponiergehabe als verliebter Student musste sein, mir kamen meine Ferienjobs in den Sommerferien jenseits der Westgrenze zupass. Meine Schwestern in Dortmund und Hohenaspe vermittelten sie mir, wovon niemand im Studium erfahren durfte. Das meiste des sauer verdienten Geldes tauschte ich um: 1 zu 5. Ich konnte und wollte damals nicht beurteilen, ob es sich um einen Schwindelkurs oder nicht handelte, ich sah die einmalig günstige Chance zu Geld zu kommen und ergriff sie bedenkenlos. Mich plagte auch kein Schuldgefühl, gewissermaßen am Ausverkauf der DDR beteiligt zu sein. Beim zweiten Besuch bei Renate holte ich mir obendrein das Begrüßungsgeld ab. Ehe ich mich versah, hatte ich zwar keinen Stempel im Pass, der mich als Empfänger des ‚Westgeldes‘ auswies, jedoch ein mittels Locher fabriziertes Loch links unten. Als Gelochter kannst du nicht über die Grenze zurück. Guter Rat ist teuer, ich nehme ein Streichholz und brenne die Ecke mit dem Loch weg. An der Grenze die entrüstete Frage: „Wie ist denn das passiert?“ „Bin starker Raucher, war unvorsichtig, ist mir selber sehr peinlich, entschuldigen Sie“. Es hätte schlimmer kommen können … Der Kelch ging an mir vorüber.
Und dann kam es, wie es hätte nicht kommen sollen, jedenfalls zu unserer Zeit nicht, wenige Jahre wäre die Geburt unseres Sohnes Jörg sogar staatlicherseits begrüßt worden.
Heirat oder gar Kinder in die Welt setzen während des Studiums wurde eher als Makel angesehen. Als Stipendienempfänger des Staates hatte man sich auf das Studium zu konzentrieren: „Was ich mir denn dabei gedacht hätte, während der Studentenzeit ein Kind in die Welt zu setzen“, wurde ich im August 1959 von einer FDJ-Kommission im GST-Lager gefragt, vor der ich mich gewissermaßen verantworten musste. Ich hatte gebeten, mich wegen der Geburt des Kindes zu beurlauben. Was ich mir dabei gedacht habe, na was wohl, nichts, es war halt passiert.

Obwohl das Kapitel Mein Herder-Institut lob ich mir bei nicht wenigen Lesern und Leserinnen auf geringes Interesse stieß, aus welchen Gründen auch immer, Anwesende natürlich ausgenommen, und ehemalige Kolleginnen und Kollegen erst recht, aber darauf verzichten, geht nicht, es war mein Arbeitsleben. Ganz abgesehen davon, dass darin noch eine Menge Wirkungspotential steckt.
Lehrerinnen und Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, damals noch Deutsch für Ausländer, werden in den kommenden Jahren dringend gesucht, die Zahl der ausländischen Studierenden wächst und überschreitet 1960/61 bereits die Sechshundert. Ich erlebe den Aufbau und Ausbau des Instituts und stelle fest, hier wirst du gebraucht, hier wird aktive Mitarbeit von dir verlangt. Vom ersten Tage an fühlte ich mich aufgenommen und angenommen. Was für ein Unterschied zur Atmosphäre an der Schule in Delitzsch, an der ich zuvor ein Jahr gearbeitet hatte! Ich bin nunmehr an einer Stätte zur sprachlichen, zum Teil auch fachlichen Vorbereitung ausländischer Studierender, die in der DDR studieren wollen, hauptsächlich aus ehemals kolonial unterdrückten Ländern, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit am Aufbau ihres Landes mitwirken wollen und sollen.
Es gab in der Tat viele Gründe, sich zu engagieren: an etwas Neuem mitwirken, gefordert sein, bessere Entlohnung als in der Schule, die Aussicht, unter Umständen im Ausland arbeiten zu können, im weitesten Sinne die humanistische Zielsetzung – so abgeschmackt oder hochtrabend das klingen mag: einen Beitrag leisten zu einer Welt, in der es weniger Armut und Elend, weniger Analphabetentum und möglichst keine Kriege gibt. Was hier entstand, war nicht mit dem Goethe-Institut schon gar nicht mit dem der 60er Jahre in der Bundesrepublik gleichzusetzen, war etwas Neues, etwas Singuläres, ja Unvergleichbares, neuhochdeutsch ausgedrückt: Es hatte das Alleinstellungsmerkmal: Vorstudienanstalt für ausländische Studierende und Stätte zur Förderung deutscher Sprachkenntnisse im Ausland, wozu 1967 eine Forschungsabteilung gegründet wurde. Und weil es das hatte, musste es schon Befremden auslösen, als nach der Wende eine Teilstruktur als Herder-Institut bezeichnet wurde, der Anstand hätte es geboten, wenigstens von einem „Neuen Herder-Institut“ zu sprechen.
Natürlich bin ich nicht in solchem Maße naiv zu glauben, die Hilfe seitens der DDR erfolge interessenlos, gewissermaßen aus reiner Menschenliebe. Nein, nein, dahinter steckten zugleich handfeste politisch-ideologische und wirtschaftliche Absichten. Tendenzen der Überideologisierung waren ständig einzudämmen und nicht immer erfolgreich. Aber für mich war der Unterstützungsgedanke wesentlich, der sich in der Verpflichtung zeigte, die ausgebildeten Fachkräfte möglichst schnell und gut ausgebildet in ihre Heimatländer zurückkehren zu lassen. Damit widersetzte sich die DDR dem Brain Drain westlicher Länder. In den 80er Jahren wurde das Grundanliegen durch die teilweise Kommerzialisierung des Ausländerstudiums in bestimmtem Maße zurückgedrängt. Insgesamt gesehen überwog jedoch bis zum Ende der Solidaritätsgedanke: Ausbildung von jungen Menschen, die in westlichen Ländern oft nur bedingt eine Chance hatten, denken wir z.B. an Akteure der südafrikanischen Befreiungsbewegung, des ANC, von denen manche ohne das doch unabdingbare Abitur kamen, an die Vietnamesen, besonders während des Krieges, die Kubaner, die Zypern und viele andere.
Frau Professor Harig, gerade mal drei Jahre als Direktorin im Amt, hatte einen nicht unwesentlichen Anteil am Instituts-Enthusiasmus. Geflohen vor der Gestapo, emigriert in die Sowjetunion, wo sie als Mathematik- und als Sprachlehrerin an allgemeinbildenden Schulen, an einem Pädagogischen Technikum und einer Universität tätig gewesen war, wurde sie mit der für sie völlig neuen Leitungsaufgabe betraut. Als hochgebildete und erfahrene Pädagogin, nicht promoviert, konzentrierte sie sich zunächst auf den Aufbau der Ausbildungsstätte und hatte weniger eine wissenschaftliche Fundierung des Unterrichts im Auge, wohl aber schöpferische pädagogische Arbeit. Die Gründung der Forschungsabteilung erfolgte unter ihrem Nachfolger Prof. Johannes Rössler, der mir im Ernst wie im Spaß bis zum Schluss gern mit dem Großbauernsohn kam. Unsere produktive Zusammenarbeit wurde davon nicht beeinträchtigt.
Andere mögen es anders sehen, für mich war es die richtige Direktorin zur rechten Zeit. Ihre Couragiertheit, ihre Erfahrung, ihre Schlagfertigkeit und Offenheit gaben ideologischer Borniertheit wenig Raum. Sicherlich waren es solche Persönlichkeitsmerkmale, die die Freundschaft des Professorenehepaares Harig mit den berühmten Leipziger Professoren Hans Mayer, Ernst Bloch und Walter Markov begründeten. Prof. Mayer hat ihr in seinem Buch Zeitgenossen ein würdiges Denkmal gesetzt. Ich bin ziemlich sicher, es geht über den Horizont einiger der Kenner und Gestalter des jetzigen Herder-Instituts‘ hinaus, wenn sie die erste Direktorin in einer illustren Gesellschaft bei Mayer versammelt sehen: Adorno, Canetti, Celan, Döblin, Eisler, Giehse, Hermlin, Weiss.
Bewundert und zugleich gefürchtet waren die sogenannten Vorstellungsrunden im Direktorenzimmer. Nachdem man eine Studentengruppe vier bis sechs Wochen geführt hatte, musste man sie ihr vorstellen und dabei unter Beweis stellen, dass man seine Gruppe gut kennt: Namen (richtig aussprechen!), Herkunftsland, Ausgangssprachen (was wusste man über sie), soziales Umfeld, Lerneinstellung, angestrebte Studienfächer, besondere Vorkommnisse, Betreuungsaktivitäten u.a.m. Dreimal hatte ich das Vergnügen. Sie war immer vorbereitet, hatte die Unterlagen der Studierenden für sich aufbereiten lassen, stellte ihre eigenen Fragen, die die ausländischen Studenten gelegentlich aufhorchen ließen. Hinterher wurde ausgewertet, ohne die Studenten versteht sich. Sie konnte fuchsteufelswild werden, falls sie feststellte, dass Studierende Probleme hatten und der Lehrer oder die Lehrerin sie nicht kannten, sie aber hätten kennen müssen. Zwei aus meiner besten Gruppe, einer Gruppe indischer Doktoranden, erwähnten in bestem Englisch, sie hätten bis jetzt keinen Doktorvater. Oh Gott, ich hatte vergessen, dieses in der Tat gravierende Problem in meiner Vorstellung der Gruppe zu benennen. Ob ich denn wüsste, wie wichtig die Doktoranden für das Ansehen der DDR seien, es gäbe in unserem Land genügend Professoren, die ausländische Doktoranden gern betreuten. Ob ich den Verantwortlichen für die Gewinnung von Betreuern überhaupt kennte. „Warum haben Sie sich nicht mit ihm in Verbindung gesetzt? Fast alle Doktoranden haben zu Hause Familie, wollen schnell zurück. Ich werde mich persönlich um die Sache kümmern, das entbindet Sie aber nicht, sich in gleicher Richtung in Marsch zu setzen.“
Ich hatte schnell begriffen, warum sich Bildungs- und Sozialarbeit, um einen heute gebräuchlichen Begriff zu bemühen, auf natürliche Weise so eng verbanden. Im Grunde genommen folgten wir dem Programm unserer Direktorin:
„Wir wollen keinem unserer ausländischen Gäste unsere Meinung aufoktroyieren, aber wir wollen ihm helfen, die wirtschaftliche und geistige Situation in der DDR kennenzulernen und zu verstehen. Wir betrachten es als unseren Auftrag, unseren Studierenden zu helfen, geistig allseits entwickelte Persönlichkeiten zu werden, die ihrer Heimat treu bleiben und dorthin nicht als ‚Nur-Fachleute‘ zurückkehren.“
Dieses Programm charakterisierte Prof. Mayer zwar als „ein idealistisches“, „doch sie hat daran geglaubt“, schreibt er weiter, „und sie hat sich daran gehalten“. Auch ich wie übrigens viele meiner Kollegen und Kolleginnen.

Und dann schafften wir (Marianne hatte ein Zusatzstudium absolviert und arbeitete mittlerweile auch am Institut) den Sprung ins Ausland, nach Finnland. Guinea und Mali Anfang der 60er hatten sich zu unserem Leidwesen zerschlagen. In Finnland arbeitete ich 3 1/2 Jahre als Cheflektor des Deutschlektorats am DDR-Kulturzentrum in Helsinki.
„Aus den Fugen geraten – In Finnland“ ist das Kapitel überschrieben, mit dem Vorspruch:
In der Sauna verraucht der Zorn, und die Galle trocknet aus.

Ich habe auch deshalb etwas aus diesem Kapitel ausgewählt, weil ich vor Kurzem auf eine mir bis dato unbekannte wissenschaftliche Arbeit „zur Auswärtigen Kulturpolitik und Kaltem Krieg“ stieß, die im Grunde bestätigt, was wir während unseres Aufenthaltes gelebt hatten und ich aufgeschrieben habe. Das Buch von Olivia Griese trägt nämlich den Untertitel: „Die Konkurrenz von Bundesrepublik und DDR in Finnland 1949 bis 73.“
Na, da stutzt man. Sie auch? Richtig, das kann doch gar nicht wahr sein, die DDR als Gegenstand von Konkurrenz, das geht doch überhaupt nicht, da muss sich doch jemand begrifflich vergriffen haben. Weit gefehlt: Ich zitiere: „In den sechziger und siebziger Jahren gab es auf Seiten der Bundesrepublik „viele Maßnahmen, die „einen stark ‚reaktiven‘ Charakter“ trugen, „weil damit in verschiedenen Bereichen zeitweilige Vorteile der DDR wieder wettgemacht werden sollten. Das betraf sowohl die Gründung des Deutschen Instituts in Helsinki als Gegengewicht zum Kulturzentrum der DDR, an dem wir just von 1969 bis 74 gearbeitet haben, aktivere Kontakte in der Jugendarbeit, das Nachziehen der Städtepartnerschaften sowie das Einzellektorenprogramm, mit dem auch ein Gegengewicht zur DDR-Präsenz in der finnischen Provinz geschaffen werden sollte.“ Zur Erläuterung: Die DDR hatte Sprachlektoren nicht nur in Helsinki, sondern in verschiedenen anderen finnischen Städten wie Turku, Oulu, Tampere usw.
Jetzt aber aus dem Finnlandkapitel
Nie wieder in unserem Leben haben wir so viel gefeiert wie in Finnland. Gefördert wurde die Feierlust zusätzlich durch den Alkohol, der uns über die Diplomatenversorgung der Handelsvertretung billig zufloss. Ansonsten waren Alkoholitäten in Finnland teuer, nur in wenigen, besonderen Geschäften zu erwerben, Bedingungen: Volljährigkeit, keine Vorstrafen. Am Anfang konnten wir unbegrenzt bestellen, bald jedoch wurde der Umsatz im Getränke-Bereich auf 50 Finnmark pro Monat begrenzt. Schottischer Whisky rund 5, russischer Wodka 1,90, der bekannte Finlandia-Wodka, den Jelzin bevorzugt haben soll, am Anfang schlappe 0,90, gute Weine zwischen 5 und 15, bekannte finnische Beerenliköre wie Lakka und Mesimarja zwischen drei, vier Finnmark.
Mittwochs fuhr ich mit dem Wartburg zum Konversationsunterricht nach Lahti, bekannt durch die große Skisprungschanze. Rund 100 Kilometer, Mittwochmittag hin und Donnerstagabend zurück. Die Konversationskurse waren gefragt. Fast ausschließlich Teilnehmerinnen, einige darunter, für die die Kurse in der Hauptsache Unterhaltungswert besaßen. Die Themen bestimmten die Kursanten, die von mir vorgeschlagenen erzielten am Anfang bestenfalls Achtungserfolge, mit den Ausnahmen: Schule in der DDR und Sport in der DDR.
„Lieben Sie es gesellschaftspolitisch“, fragt Wolfram Eilenberger in Finnen von Sinnen (2010), „ist spätestens jetzt der Zeitpunkt, in einem Nebensatz die PISA-Studie zu erwähnen und, sofern es opportun erscheint, das nordische Gesamtschulkonzept direkt auf den Besuch einer Forschungsgruppe bei der damaligen Bildungsministerin der DDR zurückzuführen – also Margot Honecker.“
Einmal kamen wir auf Volkslieder zu sprechen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, ich vergleiche finnische mit russischen Liedern und konstatiere gewisse Ähnlichkeiten. Stille. Wie lange sind Sie schon in Finnland? Ich ahne Unheil, die gespannten Beziehungen zwischen Finnland und Russland werden mir bewusst, und sage: „zwei, drei Monate“. Entspannte Gesichter: „Wie wollen Sie unsere Lieder kennen. Finnische Lieder haben mit den russischen nichts, gar nichts gemein.“ Eine entsprechende Beobachtung gibt Karin Kunz-Uusitalo in ihrem E-Book Wanderin zwischen drei Welten zum Besten: Finnen hätten „mit den Russen nichts am Hute“ und wollen „schon gar nicht mit ihnen verglichen“ werden. Der von ihr zitierte kannibalistische Spruch „Der Russe wird nicht besser, wenn man ihn in Butter brät.“ ist uns nicht begegnet.
Kam ich am Abend aus Lahti zurück, war nicht selten irgendwo eine Fete im Gange und ich musste mich in kürzester Frist mit kräftigen Zügen in einen Zustand bringen, der mir den Zugang zu der alkoholisch-beschwingten Gesellschaft ermöglichte. Whisky mit Milch macht müde Männer munter. Was zählt ist der Moment. Ein Wochenende, an dem nicht irgendwer und irgendetwas gefeiert wurden, gab es wohl nicht – und sei es nur ein gemeinsamer Saunabesuch. Obwohl jeder von uns die Warnungen kannte, möglichst keinen Alkohol zu sich zu nehmen, verband sich das Saunieren nach dem ersten bzw. nach dem zweiten Gang immer mit solchen Getränken, erst recht bei den Finnen. In allen Wohnhäusern, in denen wir während der Finnlandzeit wohnten, gab es natürlich eine Sauna, die wenigstens einmal in der Woche von uns frequentiert wurde.
Wissen Sie, warum Finnen ihren ‚Ort der Reinigung‘ so lieben?
Weil sie sich so schon an die Hitze in der Hölle gewöhnen können.
Auch: Weil das Bier nirgendwo so gut schmeckt wie in der Sauna.
Unvergesslich die Feste zur Sonnenwende, genauer immer am Samstag zwischen dem 20. und 26. Juni eines Jahres, in den Nächten, in denen es kaum dunkel wird, wo St. Petersburg seine weißen Nächte feiert und Isländer sich nackt im Tau rollen, weil die Kräuter gerade zur Sonnenwende magische Kräfte besitzen sollen. In den Tagen um Juhannus, wie das Mittsommerfest nach Johannes dem Täufer in Finnland genannt wird, herrscht eine Stimmungslage, die Energien freisetzt und Fesseln sprengt, freie Liebe als etwas Natürliches erscheinen lässt, wie Sex in der Sauna. Zwei Personen bilden ein Paar, drei eine Gruppe – Gruppensex um Juhannus. Die Holzstöße, auf Lichtungen und an den Stränden platziert, meterhoch, Tage vorher aufgetürmt, regelrechte Stapelkunstwerke, sind an der Erzeugung einer Art Trance-Zustand beteiligt. Man kann sich dem nicht entziehen und begreift so recht, wie die Sonne, wie das Licht unser Leben beeinflusst. Viele Bräuche verbinden sich mit diesem zweitgrößten Fest nach Weihnachten, Rituale werden zelebriert. Allein Bräuche, Rituale, Kulte können nicht die alkoholischen Exzesse überdecken. Lärmen und Trinken gehörten seit eh und je zu Juhannus, hieß es, z.B. fiele nach einem alten Glauben die Ernte umso besser aus, je mehr man bei diesem Fest trinke.
Uns entging nicht, wie erotisch aufgeladen die Sonnenwendfeiern sind. Sie dienen wie anderen Orts der Karneval nicht zuletzt „der Verbreitung des Genpools“, so wurde das mal wissenschaftlich umschrieben. Ein solches Fest hätte uns zum Verhängnis werden können, denn die Handelsvertretung achtete strikt darauf, dass die Gesetze des Gastlandes konsequent beachtet, selbstverständlich die eigenen Gesetze bzw. Dienstanweisungen und nicht zuletzt der fragile Moralkodex der ‚10 sozialistischen Gebote‘ eingehalten wurden. Wenn es zu Verstößen kam, reagierte man strengstens und der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin, ob SED-Mitglied oder nicht, musste ab nach Hause. Von einem verheirateten Außenhändler, der nach seinem Urlaub in der DDR nicht wiederkam, hieß es, er habe auf seinen Dienstreisen mehrmals mit seiner Mitarbeiterin „gemeinsam gekocht“.

Zurück in der DDR nach 31/2 Jahren machte ich am Herder-Institut gewissermaßen Karriere: Vom Lehrer zum Professor für Deutsch als Fremdsprache.1984.

Wenige Jahre später schon kam dann die Wende.
Ich werde bezichtigt, gegen „Gesetze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit“ verstoßen zu haben. Aus heiterem oder getrübtem Himmel, kafkaesk.

Verjagt aus keinem guten Grund<– so der Titel des entsprechenden Kapitels. 1991 werde ich entlassen und Gott sei Dank, konkreter: Frau Tübke-Schellenberg sei Dank, klagte ich dagegen. Die Rechtsanwältin, mit dem Maler Werner Tübke verheiratet, hatte ihr Haus unserer Wohnung gegenüber.Der Weg dorthin war kurz, nur über die Straße, der Entschluss, zu prozessieren und sich dazu beraten zu lassen, dauerte Tage. Tübke konnte übrigens mit meinem zuweilen leicht skurilen Humor absolut nichts anfangen. „Was für eine umwerfende Idee, Herr Tübke, in den Vorraum einen großen Schlitten zu stellen, farbenfroher schon, aber mich doch stark an den meiner Eltern erinnernd, mit dem sie im Winter in die Kreisstadt gefahren sind.“ Beifälliges Nicken. Kann man im ersten Kapitel lesen. Sein Sizilianischer Großgrundbesitzer mit Marionetten, bei uns in der Springerstraße jahrelang als gerahmter Druck an der Wand hängend, das vieldeutige Original in der Galerie Neue Meister in Dresden, ist uns bis heute wichtig geblieben. Mit 58 Jahren stand ich also zum ersten Male vor Gericht und war fest überzeugt, was immer in meinem Leben schief gelaufen ist und was man mir vorwerfen kann, diesen Prozess wirst du gewinnen, denn die Hauptanschuldigung war so hahnebüchend. Dr. Weber, nicht vom Herder-Institut, hatte der sogenannten Ehrenkommission unter dem Vorsitz der Linguistin Dr. U.F, die später berufen wurde, mitgeteilt, ich hätte dafür gesorgt, dass er und seine Familie vor Ablauf der regulären Zeit zurückgeholt wurden. Es kommt im Buchtext noch einmal, aber damit dann möglichst alle es gut verstehen, wird dies vorausgeschickt: Es ist und bleibt unbestritten: Die Aufenthaltszeit für einen Auslandslektor betrug im NSW, dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, was für eine anmaßende Benennung! 3 Jahre, es konnte passieren, dass daraus vier Jahre wurden, wir waren 31/2 Jahre dort. Dieser Weber war nachweislich 5 Jahre in Finnland. Mindestens 3 Mitglieder der Kommission waren selbst Auslandslektoren im NSW!! gewesen, damit im höchsten Maße befangen, sie wussten natürlich also ganz genau, dass Dr. Weber ihnen da eine mehr als primitive Behauptung auftischte. Ich vertraute den neuen Gerichten, was mich nicht daran hinderte, schrecklich aufgeregt zu sein, obwohl mich Herr W. im Talar mehrmals sanft beruhigte. Das gelang umso mehr, als Dr. Weber, gewissermaßen der Hauptdenunziant, der Aufforderung des Gerichts als Zeuge aufzutreten, ohne Angabe von Gründen nicht gefolgt war. So ein Feigling, so ein miserabler Schweinehund, Scheißkerl, ich hätte ihm leidenschaftlich gern meine Verachtung ins Gesicht geschrien. Wozu Intellektuelle fähig sind, die es irgendwie nicht geschafft haben, vom Ehrgeiz zerfressen, womöglich selbst verstrickt in die ehemaligen Machtstrukturen. Bis heute keine Reaktion von ihm trotz all meiner Bemühungen auch im Interesse der Nachwelt – kein Sterbenswörtchen von ihm. Die Universität musste mich, zähneknirschend zwar, wieder einstellen und war bereit „zur Fortzahlung der Bezüge rückwirkend ab 01.01.93 … unter dem Druck des erstinstanzlichen Urteils und vorbehaltlich anderslautender Entscheidungen in den weiteren Instanzen.“ Was für eine Sprache, in die ich mich verbissen hineinkniete. Ich muss lernfähig gewesen sein, denn ich war relativ schnell in der Lage, für Herrn W. verwendbare Texte aufzusetzen, die er ins Fachchinesisch der Schriftsätze übertrug. Ich habe mich so in die Sprache der Juristen vertieft, dass ich später sogar Seminare zur Einführung in die Fachsprache der Juristen für ausländische Deutschlektoren an juristischen Fakultäten bzw. Universitäten Russlands und Kasachstans gestalten konnte. Erwartungsgemäß ging der Freistaat Sachsen in die Berufung, konnte sich jedoch beim Landesarbeitsgericht in Altenberg nicht durchsetzen. Bloß nicht den Termin verpassen, ich bin zwei Stunden vor Prozessbeginn in Altenburg, wer nicht kommt, ist mein Rechtsanwalt. Das ist doch nicht zu fassen, ich überprüfe Ort, Zeit, Zeit, Ort, Ort, Zeit, rufe in Dresden an, erfahre von der Kanzlei, ihr Mitarbeiter sei nach Leipzig gefahren. In der Annahme, dass das Landesarbeitsgericht sich noch in Leipzig befände, war Herr W. zum Verhandlungstermin pünktlich angereist Das kann ja gut werden: Aufgerufen und kein Rechtsanwalt an meiner Seite. Der hatte dem Gericht sein Missgeschick bereits mitgeteilt. Den Termin verschieben hätte eine Wartezeit von mehreren Monaten bedeutet, die Gerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern war noch im Aufbau. Ich höre mich sagen: „Hohes Gericht, ich denke, dass die Verhandlung ohne meinen Rechtsanwalt stattfinden kann.“ Das war kühn, ich werde auf die Konsequenzen aufmerksam gemacht und bleibe bei meiner Aussage. Der Richter, ein Schwabe, hebt nicht gerade hoffnungsvoll an, verweist auf meine SED-Vergangenheit, ich sei ein Roter, was ich überhaupt zu meiner Verteidigung vorbringen könne. Oh Gott, wie willst du diese schwarze Wand aufbrechen, Selbstmotivation setzt ein, bleib ruhig, argumentiere wie bisher, immer sachlich, rein sachlich, lass dich nicht provozieren, du musst es schaffen. Ich frage: Geht es hier um einen allgemeinen Gesinnungsprozess, wenn ja, bin ich allerdings im falschen Gericht. Nein, ich bin entlassen worden, weil ich gegen „Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit“ verstoßen haben soll. Diese Verstöße seien in der erstinstanzlichen Verhandlung von der Gegenseite nicht zu belegen gewesen und soweit ich sähe, gäbe es überhaupt keine neuen Erkenntnisse. Ich müsse mich ernsthaft fragen, wie man es angesichts der Beweislage wagen konnte, die kostbare Zeit des hohen Gerichts in Anspruch zu nehmen. Was soll man von dem Hauptzeugen halten, der ohne Angabe von Gründen der Einladung des Gerichts nicht folgt, wie in Dr. Webers Fall? Wohlan, das mag Sie nicht überzeugen, ich bin kein Jurist, dann schauen wir doch auf die Anschuldigung im Einzelnen. Herr Weber hätte mich anklagen können, dass ich ihn bedroht, bestohlen, seine Frau benachteiligt hätte, alles auf den ersten Blick hin höchst verwerfliche Handlungsmöglichkeiten, aber nicht, dass ich dafür gesorgt hätte, dass er vorzeitig in die DDR zurück musste, denn die Regelzeit für Lektoren in westlichen Ländern betrug drei Jahre, in Ausnahmefällen vier, Dr. Weber blieb fünf ganze Jahre. Was sich da in der sogenannten Ehrenkommission unter dem Vorsitz von Frau U. F. abgespielt hat, könnte nicht mal in einer leidlich guten Komödie verwendet werden. Da der zweite Vorwurf ebenso eindeutig ad absurdum geführt wurde, verzichtete die Gegenseite auf merkenswerte Entgegnungen. Einspruch der Vertreter der Uni abgelehnt. Ja, wie verhält man sich nach gewonnenem Prozess? Müsste man diesen ‚Stellvertretern‘, die die Drecksarbeit für andere besorgten, um für sich das Beste, die Berufung auf Kosten anderer herauszuholen. Muss man Ihnen gram sein und bleiben? Einerseits schon, auch deshalb, weil sie ihre Anschuldigungen ohne wachen Geist und offensichtlich mit viel künstlichem Schaum vor dem Mund formulierten, um das Weiß der eigenen Weste der neuen Macht entgegenzutragen. Golo Mann hat sie treffend charakterisiert. Sie stehen für ihn für viele, „die es bisher mit der alten Ordnung gehalten haben“ und sich „unter Vorteilsnahme und zum Nachteil von anderen“ anschickten, „mit der neuen ihren Frieden zu machen“. Andererseits will ich nicht verkennen, dass diese Leute womöglich insofern aus der Bahn geworfen wurden, als sie von den Zeitläuften ebenso überrascht, im Sinne des Philosophen Hans Jonas keine verantwortungsvollen Gedanken – und ich füge hinzu keinen mitfühlenden Gedanken fassen konnten, sich nur auf die gegebene Chance konzentrierten, sich schnell und ohne sonderlich viel Mühe, zu Helden der Revolution, zu den benachteiligten Wissenschaftlern zu stilisieren und gegebenenfalls berufen zu werden. Was ich diesen Leuten, die nicht allein mit dem Kürzel Wendehälse beschrieben werden können, obendrein vorwerfe, dass sie sich auf extrem niedrigem Niveau als Opfer aufspielten und damit die tatsächlichen Opfer des DDR-Machtsystems herabwürdigten. Und dann der Mangel an Zivilcourage, sich zu ihren Taten, den Missetaten zu bekennen oder sich – wie es heute ja üblich ist, wenigstens zu entschuldigen. Wie konnten eine Linguistin wie Frau F. das Denotat der Wortgruppe „Grundsätze der Menschlichkeit“ bezogen auf meinen Fall so verkennen bzw. ignorieren. Wie kann sie damit leben, dass sie vermeintliche Anschuldigungen, die gegen mich erhoben wurden, nach Dresden weiterleitete, obwohl sie allesamt schon vor dem Prozess widerlegt worden waren. Dass ich mich nach erneuter Kündigung – nun durch Wegfall des Lehrstuhls verdeckter/gedeckter Kündigung, aber mit angemessenem Führungszeugnis – aufraffen konnte, auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache weiter zu arbeiten. Zum Schluss eine Zusammenschau ganz anderer Art: Radfahrgeschichten, die im Buch in verschiedenen Kapitel erscheinen.

In Zeitz nach dem Kriege
Kaum war der größte Hunger nach dem Krieg gestillt, erst kommt das Fressen, dann das Fahrrad – gingen wir – das waren vier Freunde in Zeitz – auf die Suche nach einem Fahrrad. Müllhalden, Straßengräben, Hinterhöfe wurden nach verwendbaren Teilen abgesucht. Schließlich stand ein klappriges Fahrgestell vor uns‚ zusammengebaut aus allen möglichen und unmöglichen Teilen, die Räder nicht luftbereift, sondern mit einem Hartgummibelag.
Die Freude währte nicht lange. Der angerostete Rahmen brach bei der dritten Probefahrt. Ich als Vierter hatte keine Gelegenheit mehr.
Mein erstes fahrtüchtiges Rad bekam ich beim Öbster Urban unter die Füße, als ich zur Erntezeit in den Schulferien bei ihm mithalf. Er vertraute mir eines Tages sein Herrenfahrrad an. Ich sollte es aus seinem Schuppen zu seiner Obstplantage bringen. Voller Elan schwinge ich mich darauf, die Glückshormone schießen ins Blut. Es geht den leicht abschüssigen Eulengrund – kräftig in die Pedalen tretend – zügig hinunter. Knapp 100 Meter gefahren, kommt die sattsam bekannte scharfe Rechtskurve, ich verliere das Gleichgewicht und versaue Einsteins Fahrradvergleich: „Das Leben ist wie ein Fahrrad. Man muss sich vorwärtsbewegen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.“ Ich stürze über den Bordstein links, komme selber mit Schürfwunden davon, aber das Fahrrad ist im Eimer, verbogen und verzogen, eine Acht deutlich erkennbar. Hin ist der fahrbare Untersatz, ein schier unersetzlicher Verlust für den Öbster. Mich springt sein entsetztes Gesicht an, als ich mit dem Vehikel auf der Plantage ankomme.
In jenem Sommer gab es nichts für mich zu verdienen, nicht nur das Vorderrad musste ersetzt werden.

In Finnland
Mein erstes Fahrrad – mit 35 Jahren. Ein Geschenk der Familie zu Weihnachten, für das Jörg und Kati wochenlang etwas von ihrem Taschengeld abgegeben hatten. Ein Trekking-Rad mit allen Schikanen: Shimano-Kette, Trommelbremse usw.
Nach Rückkehr mit dem Container in die DDR gekommen, wurde es dort von fast allen Jungen und einigen wenigen Mädchen bestaunt, sobald ich es irgendwo abstellte. Mein Bike – Objekt der Begierde. Kati nahm es eines Tages, ohne zu fragen, mit zur Disko, und vergaß es anzuschließen. Oder war das Mariannes und meins wurde aus dem Treppenhaus geklaut. Weg war es, ein in der DDR nicht ersetzbarer Verlust.

In Kingston/England
Klar, in England musste sofort ein Rad her. Wenn schon nicht in Oxford oder Cambridge, sich dann doch wenigstens auf dem Fahrrad wie ein Don in Oxbridge fühlen können. Obendrein Teilrealisierung des Wendeslogans: Mit dem Fahrrad durch Europa und das nicht erst als alter Opa. Nun gut: Ich war schon so um die 60.
Wenn das Wetter es einigermaßen zuließ, benutzte ich mein Bike, fuhr in den Bushy Park, in dem sich während des 2. Weltkrieges das Gebäude der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force befand, wo General Dwight D. Eisenhower den D-Day plante. Sanfte Fahrradwege führen an Teichen zum Angeln und für Modellboote, Reitwegen, Blumenanlagen, Farndickichten und am frei lebenden Rotwild vorbei – die Parks in der Stadt als Wildschutzgebiete. Quer durch den Park die Chestnut Avenue.
Das Eintauchen in die Parklandschaft auf dem Wege zur Uni war aufbauend, immer neue Ansichten und Einsichten. Am Morgen Einstimmung auf den Tag, nach getaner Arbeit die Seele auf dem Rad baumeln lassen. Wenn das Tor zum Park hinter mir zuschlug, war schnell die Kingston Bridge in Sicht, nach deren Überquerung konnte man zur Themse hinunter und mit wenigen Unterbrechungen bis auf Höhe der Uni gelangen. Einmalig diese 20 bis 30 Minuten.
Doch eines baldigen späten Abends aus dem Pub gegenüber der Uni Kingston kommend, suche ich meinen sorgsam angeschlossenen Drahtesel auf dem Universitätshof vergebens. Das kann einfach nicht wahr sein, du hast es wie üblich abgestellt und angeschlossen. Wohlan, man kann sich leicht irren, wenn ein paar Pints den Kopf vernebeln, die Suchaktion ein letztes Mal gestartet, und ich werde fündig: Schreck in nächtlicher Stunde, nicht mein Rad finde ich, lediglich das angeschlossene Vorderrad. Wie hatte ein Mitarbeiter des Sportgeschäftes Tapir einst vor Jahr und an mein Fahrrad vor der Deutschen Bücherei auf ein Stück Pappe geschrieben: So angeschlossen, werden Sie das Rennrad nicht lange haben.
Mit dem Vorderrad in der Hand fahre ich mit dem Bus nach Teddington und kaufe am nächsten Tag ein neues Bike, mache allerdings zur Bedingung: das mitgebrachte Restteil muss in Zahlung genommen werden.

In China/Tsingtau
Als wir in China – da waren wir 2006 ein halbes Jahr als Lektoren tätig – kundtaten, wir wollten Fahrräder kaufen, kam die halbe Gruppe mit. Wir wurden gut beraten und waren zufrieden mit unseren Rädern, meins ein auf alt getrimmtes großes, schwarzes, schweres. Keine drei Wochen vergingen, oh Schreck, oh Weh, Mariannes Rad war weg. Naja, Haustüren sind nicht – planmäßig nicht, heißt: baumäßig nicht vorgesehen – und ein Fahrradschloss ist für das richtige Werkzeug nicht ernstlich eine Hürde, wie Timmy, einer unserer Besten, uns an seinem eigenen sauber durchgeschnittenen Schloss zeigt. Vier Studenten kamen am Abend wie üblich zur Kleingruppenarbeit in Phonetik zu uns nach Hause und was brachten sie mit? (Na, was?) Ein neues Rad. Unsere Studenten hatten zusammengelegt, waren in die Stadt gefahren, wieder ein blaues, weil sie wussten, dass ihr das alte blaue sehr gefiel. Am Morgen von dem Verlust erzählt und am gleichen Abend das neue Rad in unserer Wohnung, eine Frage der Nationalehre für sie.
Und dann noch dieses schwer zu vermittelnde Gefühl in New York an der 72sten aus der Metro zu steigen, um ‚nach Hause‘ in die kleine Wohnung mit einem Fahrrad zu gehen, die uns Peter Brown – entfernter Verwandter von Marianne, ein guter Freund, Prof. an der New York State Universität, Herausgeber unseres literarischen Lesebuches Einander verstehen – mehrmals zur Verfügung stellte. Das Fahrrad nehmend und zum Hudson fahren – ein unvorstellbarer Genuss. Ein Ossi auf dem Fahrrad am Hudson-River! Ich mit Fahrrad am Hudson. Ein ehemaliger DDR-Bürger am Hudson, und zwar mit einem Fahrrad. Nur noch einmal mit dem Fahrrad am Hudson!

Zu Hause in Berlin
Beim Umzug von Leipzig in die Guineastraße im Wedding wird mein schmuckes, schnittiges Rennrad in den Keller gebracht und angeschlossen, allerdings bleibt aus Ermangelung eines Vorhängeschlosses die Tür unverschlossen. „Bring es hoch in die Wohnung, solange wir noch kein Schloss besorgt haben.“ Wie die Fahrradgeschichte ausging, dürfte leicht zu erraten sein.
Mein jetziges Fahrrad ist ein mittelpreisiges Tourenrad, steht im Fahrradabstellraum in der Knaackstraße 18, im Prenzlauer Berg, zweifach gesichert, der abgewetzte Sattel wird nicht ersetzt, denn zu tief sitzt das Entsetzen, als ich vor Jahren, auf dem Darß, vom Weststrand kommend, feststellen musste, dass man von meinem Fahrrad wie von weiteren den Sattel abmontiert hatte. Ein kleiner Junge fragte bedauernd: „Onkel, musst du jetzt im Stehen fahren?“ Ja, und das fünf oder sechs Kilometer. Eigentlich damals keine allzu hohe Hürde, wenn man bedenkt, welche sich vor einem in den späteren Jahren aufbauten.

Das letzte Kapitel ist überschrieben: Nach meinem Tode zu lesen. Obwohl das eher ein Gebot, denn ein Verbot ist, wollen wir es hier nicht aufschlagen.
Aber bleiben Sie schön neugierig!

  1. Erhard Rößler permalink
    November 18, 2015

    … für die Ermöglichung unserer Teilnahme an der Lesung aus Deinem Lebenswerk durch Corinna Harfouch nochmals herzlichen Dank.
    Es war für uns erbaulich, dabei gewesen zu sein und mal Deine Gedanken und Formulierungen direkt zu erleben.
    Mir hat besonders gefallen, daß Du Deine Erlebnisse aus vergangenen Zeiten realistisch, locker und aus der Sicht Deines jeweiligen Lebensalters sehr überzeugend dargestellt hast.
    Schön war auch, daß ich nach unserem ersten Treffen vor langer Zeit in Zeitz Deine sehr sympathische Frau mal wiedersehen konnte. Wir sahen uns eine Weile an, kramten in Erinnerungen und erkannten uns dann wieder.
    So waren denn die Lesung und das Wiedersehen angenehm.
    Karin Keller schreibe ich heute auch kurz, um sie von der Lesung zu informieren. Ich nehme an, daß sie dann 2016 ein neues Treffen im kleinen Kreis organisieren wird. Im Alter ist das schon eine gute Sache.

  2. Britta Müller permalink
    November 20, 2015

    .. Danke für die Nachlese und für den schönen Abend. Wir sind gern gekommen und der Abend hat uns gut getan, eine echte Ablenkung vom täglichen Ärger.
    Und sicher lese ich nun das eine oder andere nochmal nach. ..
    Morgen ist ja bundesweiter Vorlesetag. …noch sind meine Schüler wohl noch zu jung ( max. 8. Klasse), aber wer weiß, vielleicht wähle ich in der Zukunft aus deinem Buch einen Vorlesetext aus.

  3. November 20, 2015

    Selbst gelesen hatte ich deine Lebenserinnerungen ja schon zu Beginn dieses Jahres.
    Sie in Auszügen nun nochmals von Corinna Harfouch, der von mir so geschätzten Schauspielerin, vorgetragen zu bekommen, das ermöglichte eine zusätzliche und andrere Perspektive auf deine Geschichte(n). Dass die Qual der (Aus)Wahl bei so viel Stoff groß gewesen ist, kann ich mir gut vorstellen …
    Nicht ohne Grund schreibe ich ja selbst mit großer Begeisterung Biographien als Auftragsarbeiten nieder. Es ist und bleibt für mich stets spannend, wenn Menschen Rückschau auf gelebte Jahre halten. Wenn diese Personen dann auch noch ein so bewegtes Leben hatten wie du, bewegt das den Leser/Hörer natürlich mit.
    Schön war für mich, in diesem Rahmen auch auf eine ganze Reihe früherer Kollegen aus der Herder-Instituts-Zeit zu treffen.
    Danke an alle Beteiligten für den gelungenen Abend im Schumann-Haus.

  4. Dr. Angelika Neumann-Pudszuhn - Best Age Forum permalink
    November 23, 2015

    Beitrag für r-aktuell

    Lesung im Schumann-Haus mit Corinna Harfouch

    „Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen“( Engelsdorfer Verlag Leipzig 2015), so der Titel der autobiografischen Memoiren von Martin Löschmann, kamen am 12.11.2015 im Schumann-Haus zur Lesung. „Unerhört“ in „dreifacher Bedeutung: unglaublich, beispiellos, sodann: unverschämt, was der sich traut, das geht auf keine Kuhhaut und von der spätmittelhochdeutschen Wortherkunft her: nie-gehört…un-erhört, was niemand hören, niemand zur Kenntnis nehmen will“, so die Erklärung des Autors (S. 19).
    Und doch kamen gerade an diesem Abend mehrere Erinnerungen zu Gehör.
    Die subtile Auswahl aus 16 Kapiteln- gelesen und gekonnt interpretiert von der renommierten Schauspielerin Corinna Harfouch- gestalteten den Abend zu einem Erlebnis.
    Der Autor, der viele Jahre in Leipzig lebte und am ehemaligen Herder-Institut der Leipziger Karl-Marx- Universität wirkte, ist Professor für Deutsch als Fremdsprache. Er war an vielfältigen Lehr-, Weiterbildungs-, und Forschungs-aufträgen auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache beteiligt und in mehr als 30 Ländern im Ausland tätig. So leitete er auch in jüngster Zeit für die europäische Stiftung der RDG für Bildung und Kultur ein Seminar zur Weiterbildung russischer Deutschlehrer in Kaliningrad.

    Corinna Harfouch ist es gelungen, die Zuhörer in den Bann der Schilderung von Lebenssituationen des Ich-Erzählers zu ziehen. Martin Löschmann erzählt als Zeitzeuge facettenreich und teilweise mit kriminalistischer Spurensuche, so besonders wenn es um seine zweite Lebenskatastrophe und seinen Schreibanlass geht, seiner Entlassung vom Herder Institut der Universität. Die erste Lebenskatastrophe sei der Krieg, den er als 10jähriger erlebte, gewesen und die damit im Zusammenhang stehende Vertreibung aus der pommerschen Heimat. Folglich standen an diesem Abend Kriegskindheit, der“ Elite-Austausch im Osten Deutschlands“ (S. 12) in der Nachwende-Zeit sowie seine Leipziger Jahre und sein Finnland-Aufenthalt mit der Familie von 1969 bis 1973 im Focus. Letzterer war offensichtlich so nachhaltig beeindruckend, dass er dieses Kapitel titelte: „Aus den Fugen geraten- In Finnland“.

    Die „Unerhörten Erinnerungen eines Sonstigen“, anlässlich des 80. Geburtstages 2015 vollendet und zunächst für den Familienkreis gedacht, wecken offensichtlich ein größeres öffentliches Interesse. Dafür sprach der voll besetzte Saal im Schumann-Haus, wo es ein Wiedersehen mit Freunden, alten Bekannten, Verwandten und ehemaligen Kollegen gab. Und natürlich waren auch Verehrer und Fans von Frau Harfouch gekommen.
    Martin Löschmann hat also nicht nur für seine Familie etwas Bleibendes geschrieben, sondern als Zeitzeuge eines untergegangenen Staates, ja eines untergegangenen Gesellschafts-und Wirtschaftssystems ein Zeitdokument geschaffen.

    Dass diese gelungene Veranstaltung im authentischen Musiksalon des Schumann-Hauses stattfinden konnte, ist der europäischen Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur zu danken, die freundlicherweise den Raum zur Verfügung stellte.

Kommentar schreiben

Info: Benutzung von einfachem XHTML (strong,i) erlaubt. Die E-Mail-Anschrift wird niemals veröffentlicht.

Kommentar-Feed abonnieren