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Ein Plädoyer für Deutschunterricht für Asylbewerber, nicht aber für den „Deutschkurs für Asylbewerber“

2015 26. August
von Martin Löschmann

Da hat man sich vorgenommen, keine Entwicklungen auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache und als Zweitsprache mehr zu kommentieren, und dann flattert einem ein Material auf den Schreibtisch und lässt einem den bestimmt guten Vorsatz brechen. Jahrzehntelange praktische sowie theoretische Beschäftigung mit den verschiedensten Sprachunterrichten (einschließlich der am Herder-Institut gesammelten Erfahrungen) und nicht zuletzt die aktive Beteiligung an Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrende in Integrationskursen und in den letzten beiden Jahren in Alphakursen sind die Antriebskräfte.

Alle Welt spricht heutzutage von den Flüchtlingsströmen und von der steigenden Zahl von Asylbewerbern. Die Bundesregierung rechnet in diesem Jahr mit mindestens 850.000 Asylbewerbern. Da ist spätestens jetzt geboten, ja unabdingbar, sich Gedanken darüber zu machen, wie über einen Unterricht in der deutschen Sprache der mögliche Aufenthalt und gegebenenfalls eine spätere Integration auf breiter Basis unterstützt werden können. Bekanntlich müssen trotz der schon gebetsmühlenartig wiederholten Forderungen in Politikerkreisen wie in den Medien Asylbewerber immer noch eine lange, oft zu lange Zeit auf die Bearbeitung ihres Asylantrages warten. In dieser Zeit sind für sie bisher keine offiziellen, d.h. bezahlten Deutschkurse vorgesehen. Erst wenn Flüchtlinge anerkannt sind, haben sie das Recht, aber auch die Pflicht, einen Deutschkurs zu besuchen. Weil Spracherwerb, sei er auch noch so begrenzt, so wichtig ist, springen dankenswerterweise oft Kommunen, ehrenamtliche Lehrkräfte und Helfer ein und sind somit bester Ausdruck einer ‚Willkommenskultur‘.

Dass Spracherwerbsunterstützung von Anfang an sein muss, wird wohl niemand bestreiten. Aus diesem Grunde muss man mal erst einmal anerkennen, dass die Autoren Karl Landherr, Isabell Streicher und Hans-Dieter Hörtrich einen „Deutschkurs für Asylbewerber“, „ein Workbook“ mit Untertiteln in englischer Sprache erarbeitet haben, der dem Spracherwerb gewissermaßen in der Überbrückungszeit dienen soll. (zu beziehen über die Webadresse: www.deutschkurs-asylbewerber.de)

Doch sosehr wichtige Themen (Vorstellung, Arztbesuch, Wetter, Verkehr, Behördengänge, Asylverfahren u.a.m) aufgegriffen und brauchbare wichtige Redemittel erfasst und andeutungsweise geübt werden, lässt das Arbeitsbuch/Workbook Wünsche, nein, eher Notwendigkeiten, übrig, die durch die „Lehrerhandreichung zum Workbook Deutsch für Asylbewerber“ nur zum Teil wettgemacht werden können (Vorschlag zu einem Spaziergang in die nähere Umgebung, dabei Supermarkt kennen lernen, Treffen in der Pfarrgemeinde u.a.m.) Sosehr indes der gute Wille hervorgehoben werden muss, so wenig kann man übersehen, dass das Arbeitsbuch – und nur das wird hier betrachtet – aus inhaltlichen, interkulturellen, strukturellen und didaktisch-methodischen Gründen nicht befriedigen kann.

Erstens wird die spezifische Situation, in der sich die Asylbewerber befinden, entschieden zu wenig berücksichtigt. Die zwingend kommunikative Orientierung in dieser Grundsituation findet kaum statt. Es fehlen z.B. Benennungen von Personen, mit denen Asylbewerber in Verbindung kommen, und die entsprechenden Kurzdialoge mit ihnen, beispielweise auch Rechte und Pflichten von Asylbewerbern (Thema Arbeitserlaubnis), Anerkennung und Ablehnung von Asylersuchen, Schule (Stundenplan ist da zu wenig) u.a.m. Angesichts der besonderen Sprachsituation enthält das knapp 50 Seiten umfassenden Material viele ‚tote Sätze‘, d.h. für Asylanten geradezu abwegige Sätze:

  • Was machst du heute, Simon? – Ich lese heute.

   Wann? – Ich lese am Morgen. (S.6)

  • Welche Farbe hat der Montag?

Der Montag hat die Farbe blau? (S. 9) –

  • Das ist ein Bett. Das Bett ist schwarz. (S.12)
  • Wo ist die Tasse? Die Tasse ist unter dem Tisch. (S. 14)
  • Ich baue einen Schneemann. (S.26)

(Loriot (vgl. Deutschunterricht für Ausländer) hätte seine Freude daran.)

Dass bei allen den Unterrichtszielen und -bedingungen geschuldeten Einschränkungen grammatische Korrektheit gewahrt werden muss, versteht sich von selbst:

Welches es?

  • Das ist mein Kind. Es ist ein Mädchen. – Einführung

   Wie geht es dir? Es _________ – Übung (S. 4/5)

Zweitens ist auch der Wortschatz im gegebenen Rahmen alles andere als zielführend, wobei nicht klar wird, welche Ziele sich die Autoren überhaupt gesetzt haben. Sie berufen sich zwar auf das Konzept des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration und das des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, aber ich kann nicht glauben, dass die „Erstorientierung und Deutsch lernen für Asylbewerber“ eine solches unprofessionell daherkommendes Buch abdeckt.

Es ist zweifelsohne unbedingt erforderlich lebensnotwendige Realia zu benennen, Land und Leute vorzustellen, besser: zu benennen, aber die Aufgabe zu stellen, die Augenfarbe der Kanzlerin zu bestimmen und hinzuschreiben, ist schon naiv-grotesk.

Das zum Schmunzeln anregende Beispiel liefert die Seite 19. Dort geht es um das Thema Mein Gesicht. Warum es beschreiben? Schauen Sie sich die Seite doch einfach mal an.

Merkelneu

Die Stirn der Bundeskanzlerin mag wichtig sein, aber diese Vokabel für Asylbewerber, die weiß Gott lebenswichtige elementare Deutschkenntnisse erwerben wollen und müssen, doch eher nicht.

 

 

 

 

 

 

Drittens ist es hier auf jeden Fall hilfreich, mit Übersetzungen zu arbeiten und dabei mit dem Englischen zu beginnen. Wieso werden dann aber nicht das für Asylanten so existentielle Asyl-Verfahren und andere für den ersten Aufenthalt zentrale Begriffe, Prozeduren, Vorschriften, kurzum Infos, die z.T. in der Lehrerhandreichung stehen, nicht allen gegeben und übersetzt? Es wäre auch nützlich, wenn z.B. Wörter wie SONDERANGEBOT (S.17) übersetzt würden.

Viertens ist keine lernfördernde inhaltliche Strukturierung zu erkennen, hier dargestellt am ersten Thema Begrüßung, Vorstellung, Familie:

  • Willkommen
  • Wie geht es dir?
  • Wie geht es Ihnen?
  • Meine Familie
  • Ich mache etwas/Wir machen etwas
  • Antworte und schreibe
    Abgesehen davon, dass das Wort Vorstellung nur in der Überschrift auftaucht, gehen hier bunt durcheinander und in keiner Weise logisch begründbar verschiedene Gliederungsebenen wie Thema, Redemittel, Übungen.

Fünftens steht wohl außer Frage, dass mit der Sie-Form begonnen werden muss. Die Asylanten haben es schließlich zunächst mit Beamten, Ärzten, offiziellen Helfern usw. zu tun und werden in ihrem Familien- und Mitasylbewerberkreis auf absehbare Zeit Deutsch nicht als Verkehrssprache einsetzen. Ein positiver Nebeneffekt: Die Sie-Form ist leichter zu lernen. Zum Beispiel könnte so auch auf (S. 3) der schwierige Vokalwechsel bei ich spreche – du sprichst vermieden werden. Auch dir hier zu signalisieren, ist nicht nur didaktisch-methodisch unprofessionell.

Sechstens wäre es angebracht, zwei, drei elementare Satzstrukturen im Vergleich zum Englischen zu verdeutlichen, z.B. konjugiertes Verb immer an 2. Position, Rahmenstruktur bei Verwendung von Modalverben und beim Perfekt, wobei die Bezeichnungen selbstverständlich nicht auftreten müssen.

Schließlich, also siebentens, dürfen in einem Workbuch Hinweise zur Aussprache nicht fehlen. Eine CD allein genügt da nicht.

Zusammenfassend ist festzustellen:

Mir will scheinen, als sei das Arbeitsbuch mit heißer Nadel und mit relativ wenig didaktisch-methodischem Sachverstand verfasst worden. Gut, man kann einwenden, ein Material ist besser als gar keins. Doch machte man es sich so nicht zu einfach?

Was Asylbewerber und -bewerberinnen wirklich ‚bräuchten‘, wäre ein spezifischer Sprachführer, der ihnen hilft, sich in der neuen Kommunikationswelt zurechtzufinden, der existentielles Sprachmaterial sowie lebenswichtige landeskundliche und interkulturelle Informationen enthält. Da nicht damit zu rechnen ist, dass das Englisch von allen und hinreichend beherrscht wird, sollte zum Englischen die jeweilige Muttersprache dazukommen, das erste Paar wäre sicherlich Englisch und Arabisch. Wenn natürlich in der Übergangszeit Deutschunterricht möglich wird, könnte man immer auf vorhandene Lehr- und Lernmittel zurückgreifen, die es bereits gibt. Mit einem Sprachführer für Asylbewerber hätte man auf jeden Fall spezifische Kommunikationssituationen eingefangen und das ganz spezifische Sprachmaterial, das dann in die Alphabetisierungs- und Integrationskurse eingebaut werden kann. Ein geeignetes Beispiel wäre gegebenenfalls  Langenscheidt Deutsch in 30 Tagen

  1. Martin Löschmann permalink*
    September 16, 2015

    Obergrenze

    Ach, das muss ich einfach loswerden, obwohl es womöglich als Kommentar an dieser Stelle nicht so richtig her passt.

    Die Kanzlerin ist von der Not, dem Elend der Flüchtlinge bewegt und lässt sich – ‚DDRrisch‘ geprägt – hinreißen und formuliert den Spruch, der aufhorchen ließ und lässt: „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze.“
    Angesichts der Massen, die mit dem Anspruch auf Asyl vor den Toren Deutschlands standen und stehen, war dieses Wort gewiss ein Wort zur falschen Zeit und am falschen Ort; ganz abgesehen davon, dass man ohne Obergrenzen in vielen Fällen ohnehin in der Realpolitik und im wirklichen Leben überhaupt nicht auskommt.
    Anstatt ihr euphorisches Wort zurückzunehmen oder es zu relativieren, beharrt sie auf ihren irrationalen Standpunkt und sagt in stoischer Ruhe: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Das ist eine Rücktrittsdrohung aus dem ‚hellen Deutschland‘, denn, wenn es sich herausstellen sollte, dass es nicht ihr Land ist, kann sie es auch nicht regieren.

    Kurzum: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in diesem Fall keine Zivilcourage gezeigt, denn sonst hätten Sie sich von dem falschen, nicht angemessenen Begriff Obergrenze im gegebenen Kontext distanzieren müssen.

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  1. Im Anspruch wissenschaftlich, im Vollzug wohl eher nicht | Herderblog.net

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