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Bin ich ein ‚Russlandversteher‘?

2014 7. Juli
von Martin Löschmann

Der Juni 2014 sah mich mal wieder in Sibirien, in Omsk und Tjumen. Die siebtgrößte Stadt Russlands kannte ich schon, Tjumen, eine prosperierende Stadt im südwestlichen Teil Sibiriens dagegen noch nicht. Eine üerraschende Entdeckung. Die Befahrer der transsibirischen Eisenbahn werden die Stadt mit ihren fast 600.000 Einwohnern kennen. Sie ist eine der ältesten russischen Siedlungen in Sibirien. Die wichtigste Sehenswürdigkeit Tjumens ist eines der wenigen weltweit komplett erhaltenen Mammutskelette im Naturkundemuseum.
Sowohl in Omsk als auch in Tjumen habe ich im Auftrage des DAAD einwöchige Seminare zur Motivation im Fremdsprachenunterricht an jeweils einer Universität durchgeführt. Knapp 20 Professorinnen, Dozentinnen und Lektorinnen von den verschiedensten Universitäten nahmen je Seminar teil. Die Unterrichtssituation bezüglich der deutschen Sprache ist bekanntlich dadurch gekennzeichnet, dass die Semesterwochenstundenzahl im Fach Deutsch selten mehr als zwei bis vier Stunden pro Woche beträgt. Englisch wird wie in aller Welt eindeutig als erste Fremdsprache bevorzugt und Deutsch bestenfalls als zweite Fremdsprache gewählt. Bei diesen Rahmenbedingungen fällt es schwer, die Studierenden zu motivieren bzw. die Motivation aufrechtzuerhalten.

Kollegin T. fragt mich, ob ich in Deutschland etwas über meinen neuerlichen Sibirienbesuch berichten werde. Ich verneine und enttä¤usche sie offensichtlich.    Es sei doch gerade in der gegenwärtigen Situation erforderlich, die Wahrheit über Russland zu verbreiten. Wird sie sich freuen, dass ich nun doch schreibe, wenn auch nur hier auf kleinstem Raum, im Blog?

Im Seminar war es u.a. um Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache gegangen: In der mündlichen Kommunikation steht das konjugierte Verb im Kausalsatz schon lange nicht mehr am Ende des Satzes, weil ich habe keine Zeit und „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ der Titel eines Buches von Bastian Sick. Interessanter noch war meinen Teilnehmerinnen die Aufnahme neuer Wörter in die neueste Dudenauflage: die Schuldenbremse, Shitstorm, Vorständin, Wutbürger u.a. Eine der neuesten Prägungen Russlandversteher hat wohl kaum eine Chance aufgenommen zu werden, wird von mir jedoch angeführt, weil der Begriff gegenwärtig eine aufschlussreiche Rolle in der Kommunikation zwischen Deutschland und Russland spielt.

20150902_172647Was bedeutet dieses neue Kompositum? Es hilft nicht weiter, wenn ich mich als Russlandversteher präsentiere und auf den herderblog-Eintrag Vergleiche, die hinken und zum Himmel stinken oder Zwischenbilanz III: Noch ist der Blog nicht am Ende! verweise, in denen ich versuche, krass negative Russland-Darstellungen in Deutschland aufs Korn zu nehmen.

 

 

 

Werner Klembke: Nichts für Humorlose.
Titel zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution.
November 1967

 

Es gäbe für Anti-Russland-Lobby genügend Gründe, mich als Russlandversteher zu bezeichnen, schon deshalb, weil ich nicht in das landesübliche Putin-Bashing einstimme und mich nicht auf die vereinfachende Formel einlasse: nach außen aggressiv und nach innen repressiv, so als ob Russland keine Geschichte hätte. Im Theater in Tjumen entdeckte ich an einer Wand in den öffentlichen Gängen einen vergilbten Artikel mit einem Stalinbild. „Was macht denn Stalin hier in den heiligen Hallen?“, frage ich. „Was wollen Sie, hallt es ein wenig barsch zurück, das ist unsere Geschichte.“
„Seien Sie doch froh, dass Sie als Russlandversteher attribuiert werden.“ Meine Zuhörerinnen begreifen die Wortbildungsstruktur positiv, anerkennend. Gut so, es wird jemand benannt, der Russland versteht, der die Geschichte Russlands kennt, Beweggründe der russischen Politik anzuführen weiß und bestimme Handlungsstränge der russischen Politik erklären und womöglich verstehen kann. Verstehen muss ja nicht gleichbedeutend damit sein, dass man alles akzeptiert. So könnten einem Bedenken kommen, wenn ab 1. Juli „Mat“ (Mutterflüche), womit hier der Gebrauch obszöner Vulgärsprache gemeint wird, unter Strafe gestellt sind. Strafen für kräftiges Fluchen. Der einfache Bürger könnte mit 200 Rubel (= 43 Rubel) belegt werden; für das Zeigen eines Films mit solchen verwerflichen Flüchen drohen 100 000 Rubel.
Russlandversteher, die feminine Form ist mir bis jetzt noch nicht untergekommen, ist eindeutig negativ konnotiert. Der Begriff enthält Kritik und kann sogar zum Schimpfwort in der etablierten Gesellschaft werden. Beispiele sind aus dem Internet pfeilschnell aufzurufen. Wie denn das Antonym zum Russlandversteher lautet, will man wissen. Wir sind bei motivierender Wortschatzarbeit. Ich muss überlegen: „Russlandhasser“, „Russlandbesserwisser“, „Russlandverdreher“, nein, ein echtes Gegenstück finde ich nicht. Das gilt auch für die Synonym-Suche: Freunde Russlands, obwohl es davon durchaus nicht wenige in Deutschland gibt, eliminiert die diffamierende Komponente. Wir halten es eher mit dem Politikwissenschaftler und Friedensforscher Peter Strutynsk „Lieber ein Russlandversteher als ein Kriegsflüsterer.“
„Und wie ist Ihre Meinung zum Krim-Anschluss?“ Gäbe es nicht Kosovo oder die Invasion der USA im Irak, würde ich, geleitet von völkerrechtlichen Paragraphen, den Krimanschluss ablehnen. Aber auf eine solche Argumentation lasse ich mich erst gar nicht ein und antworte: „Wissen Sie, schon lange vor der sogenannten Ukraine-Krise habe ich mich gefragt, wieso hat man nicht, als sich die Sowjetunion auflöste, gefordert und durchgesetzt, dass die Krim wieder zu Russland kommt? Die Halbinsel war und ist doch Teil Russlands. Das willkürliche Zarengeschenk des Herrn Chrustschow an die Ukraine war mit dem Zerfall der Sowjetunion hinfällig.“ Die Zustimmung ist mir gewiss.
Eine ältere Kollegin in Omsk macht sich große Sorgen um die Lösung des Ukraine-Konflikts. Sie sieht einen Krieg kommen. Sie ist es auch, die mich fragt, ob ich die Gefahr des Wiederauflebens des Militarismus in Deutschland sehe. Als ich ganz entschieden eine solche Gefahr ausschließe, muss ich mir sagen lassen, ich würde vielleicht die Lage verkennen. „Erklären Sie mir doch einmal, wieso Ihr Präsident Gauck, zum wiederholten Male fordert: Deutschland müsse sich militärisch stärker in der Welt engagieren. Heißt das nicht auch im Ukraine-Konflikt militärisch eingreifen und damit auch Russland im NATO-Verband bekämpfen?Es käme ihr so vor, als ob man glaubte, Kriege könnten nur in Afrika und Asien geführt werden.
Ich hätte Gauck nie gewählt, wenn der Präsident in Deutschland vom Volk gewählt würde. Mir sei es schier unverständlich, heute bevorzugt man das Verb nachvollziehen, also nicht nachvollzierbar, was dieser ehemalige DDR-Pastor aus der DDR in die Welt hinausposaunt. Einfach unfassbar dieser Segen eines ehemaligen Pastors für den militärischen Einsatz  natürlich im Namen der Demokratie und Freiheit. Und „in diesem Kampf für Menschenrechte oder das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.“ Da lobe ich mir doch den Papst Franziskus, der die Verbindung von Krieg und Kapitalismus herstellt und konstatiert: „Einen dritten Weltkrieg kann man jedoch nicht führen, und so greift man eben zu regionalen Kriegen.“
Auf der anderen Seite könnte ich Gauck durchaus folgen, würde er z.B. von Russland eine Einschränkung des Rüstungsexports fordern. Immerhin läge Ihr Land an der zweiten Stelle beim Waffenexport. Doch eine solche Forderung brächte ihn in große Schwierigkeiten. Er müsste den Übeltäter an erster Stelle, die USA, und den an dritter Stelle, nämlich Deutschland, nennen und ebenso richten. Doch da sei Gott davor. Was für ein absurder Gedanke trotz seiner argumentativen Kraft. Deshalb wird er sich auch nicht dagegen aussprechen, dass Russland Kampfjets an Bagdad liefert, die im Kampf gegen die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) eingesetzt werden sollen. Doch diese Nachricht erreicht mich, als ich schon wieder in Berlin bin.
Die Seminarteilnehmerinnen werden ohnehin nichts gegen die russische Lieferung einzuwenden haben, da sie ja einem guten Zweck dienen und Russland bereit ist, sich im Kampf gegen den Terror der ISIS zu engagieren. Indes wäre es falsch, wenn der Eindruck entstanden sein sollte, in meinen Seminaren sei es politisch hochhergegangen. Alles andere als das. Doch dass die Ukraine-Krise fast alle beschäftigt, kann als gegeben gewertet werden. Sie haben mit landeskundlichem Interesse zur Kenntnis genommen, dass es die sogenannten Russlandversteher von links bis rechts gibt und sie sich in Deutschland durchaus Gehör verschaffen.
Sie hoffen wie wir alle, dass der der Ukraine-Konflikt trotz des bereits auf beiden Seiten geflossenen Bluts am Ende auf dem Verhandlungswege gelöst wird und die Gauck-Doktrin vom notwendig größeren deutschen militärischen Engagement in der Welt nicht zum Tragen kommt.

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  1. Martin Löschmann permalink*
    August 10, 2015

    Putin wird immer böser

    „Jetzt lässt er auch noch illegal eingeführte Lebensmittel aus der EU vernichten. Könnte er nicht wenigstens den armen Menschen in Russland diese Lebensmittel zukommen lassen?“, so wird in diesen Tagen in den gleichgeschalteten Medien in D argumentiert.
    Keiner fragt sich, was eigentlich mit den eingeführten verbotenen Lebensmitteln in Deutschland passiert. Die Antwort lautet unmissverständlich: VERNICHTET. Oder weiß jemand besser Bescheid und kann nachweisen, dass illegal eingeführte Lebensmittel bei den deutschen Armen landen. In dem gegebenen Fall könnte man schon eher die neuerliche Putin-Schelte verstehen.

    Sie bestätigt die Untersuchungsergebnisse einer Münchner Bachelor-Studie (München 2012), die “für die Jahre 2000 bis 2012 bei 80 ausgewählten Artikeln der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu den Staatsführern Obama (USA) und Putin (Russland) einmal die Adjektive und Adverbien zusammengestellt“ hat, „also Worte in Zusammenhang mit Obama oder Putin, welche in den Artikeln an eine wertende Beschreibung herankommen. Bei Putin sind die von der FAZ verwendeten Adjektive und Adverbien eindeutig negativ belegt, etwa: drohend, rau, angriffslustig, konfrontativ, antiwestlich, machtpolitisch, wahrheitswidrig, kühl, kalkuliert, berechnend, zynisch, harsch, barsch, nicht stichhaltig (Argumente) und nicht glaubwürdig (Argumente). Natürlich kommen solche Adjektive und Adverbien nicht im Zusammenhang mit Obama vor, dafür aber durchweg positiv aufgeladene Wörter: engagiert, frenetisch begrüßt, begeistert, konziliant, gelobt, hoffnungsvoll und entschlossen .(zitiert nach Uwe Ulfkotte: Gekaufte Journalisten. Rottenburg: Kopp.)
    Welche Adjektive sind mir im Zusammenhang mit der Lebensmittelvernichtung durch Putin begegnet: drohend, antiwestlich, machtpolitisch, berechnend, zynisch, harsch usw. darüber hinaus: unverantwortlich, unvernünftig, wider aller Vernunft u.a.m.

    Sicherlich könnte/möchte/müsste man sich eine Welt vorstellen, in der keine Lebensmittel aus politischen und ökonomischen Gründen vernichtet werden. Angesichts des Hungers in der Welt sträubt sich alles in einem, Putins machtpolitische Demonstration zu verstehen. Dennoch: Die illegal eingeschleppten Lebensmittel konnten doch nicht so behandelt, als ob sie legal importiert worden seinen. Was wäre Russland für ein Land, das sich den Boykottmaßnahmen beugen würde. Putins/Rußlands Gegenmaßnahmen würden sich im Sande verlaufen, es wird in Moskau ein Gegenboykott beschlossen, aber gleichzeitig wird von westlicher Seite verlangt, dass die Unterwanderung dieses Boykotts akzeptiert wird. Das kann im Ernst niemand erwarten. Im Übrigen, sind am Einschleusen verbotener Lebensmittel zwei Seiten beteiligt: die westliche und die russische. Warum wird aber nur die russische Seite behelligt.

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