Das christliche Morgenland und die Koptologie
Wenn vom christlichen Abendland die Rede ist, geht es meist um Abgrenzung von der islamisch geprägten Welt. Insbesondere bei vielen Westeuropäern schwingt dabei unterschwellig die irrige Meinung mit, dass die christliche Religion in der einst von Rom beherrschten westlichen Welt ihre Urheimat hat. Dabei hat sich das Christentum zunächst gar nicht so sehr dort, sondern vielmehr zuerst im Morgenlande rasant ausgebreitet, wo es ja auch entstanden ist. Die christliche Kirche Ägyptens, die sog. koptisch-orthodoxe, war einst eine überaus mächtige und zählt anerkanntermaßen zu den Ältesten der Welt. Sie führt ihre Gründung auf den Evangelisten und Märtyrer Markus zurück, der im 1. Jh. u. Z. in Ägypten gewirkt haben soll. Als unbestritten gilt, dass die Wiege sowohl des Eremiten- als auch des Mönchswesens in Ägypten gestanden hat. Die Erfindung des Letzteren schreibt die Tradition Pachom zu. Er habe um 320 u. Z. das erste Kloster und zuletzt gar einen ganzen Verbund von Männer- und Frauenklöstern geleitet. Er ist auch der Erste gewesen, der eine Regel für das klösterliche Zusammenleben verfasst hat. An Klöster in Westeuropa war zu dieser Zeit überhaupt noch nicht zu denken. Viele koptische Klöster entwickelten sich zu bedeutenden wirtschaftlichen, kulturellen und literarischen Zentren sowie Ausbildungsstätten. Deshalb ist der hier im Titel verwendete Begriff christliches Morgenland, der möglicherweise von diesem oder jenem irritierend oder gar provokativ empfunden wird, keineswegs ein contradictio in adjecto, d.h. ein Widerspruch in sich, allerdings eine eher historische Kategorie.
Aufs engste mit der Christianisierung Ägyptens ist die Entwicklung der koptischen Sprache verbunden. Sie entwickelte sich ab dem 3. Jahrhundert unter starkem Einfluss des Griechischen aus dem Idiom, das die einheimische Bevölkerung Ägyptens sprach und gilt damit zu Recht als die letzte Stufe des Altägyptischen. Das Wort Kopte ist eine arabisierte Form des griechischen Wortes Aigyptos und bezeichnete ursprünglich nichts anderes als eben das: Ägypter. Die arabischen Eroberer bedienten sich seiner, um die eigenen Leute von der angestammten Bevölkerung zu unterscheiden. Später, als Arabisch das Koptische als Verkehrssprache in dem Lande beidseits des Nils immer mehr verdrängte, engte sich der Begriff zunehmend auf die Zugehörigkeit zur koptischen Kirche ein.
Die Koptologie nun ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der koptischen Sprache, Kultur, Geschichte und Religion beschäftigt. Sie müht sich also um die Bewahrung und Erschließung eines wichtigen Weltkulturerbes, zählt inzwischen allerdings zu den Orchideenfächern. Das macht das sehr übersichtliche einschlägige Stellenangebot an den Universitäten augenfällig. Teilweise sind freilich auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten, vor allem was die Förderung bestimmter Projekte betrifft. Doch ganz ohne Zweifel sind auf diesem Fachgebiet vornehmlich Idealisten gefragt. Ägypten bedeutet für einen Koptologen in der Regel eine Dreieinheit von Inspiration, Profession und Passion, und Letzteres oft im doppelten Sinne von Leidenschaft und Leidensweg. Das vom 10. bis 14. Juni dieses Jahres am Ägyptologischen Institut Georg Steindorff der Leipziger Universität unter maßgeblicher Federführung von Prof. Dr. Tonio Sebastian Richter (siehe auch Papyrus Heft 5, Leben auf dem Land) durchgeführte internationale Kolloquium mit Teilnehmern aus Deutschland, Kanada, den USA, Frankreich, Italien, Spanien und Israel über die umfangreiche schriftliche Hinterlassenschaft des geistlichen Autors Schenute, der vom späten 4. bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts Archimandrit (Abt) eines oberäütischen Klosters von exorbitanter Ausstrahlungskraft war und dessen Werk an Umfang und Bedeutung in der koptischen Kirchenliteratur etwa mit dem des Augustinus in der westlichen Kirche zu vergleichen ist, stellte das für mich recht anschaulich unter Beweis.
Die einstige Wirkungsstätte Schenutes, von der nur noch die Kirche existiert, die es nun allerdings an Ausdehnung mit einer mittleren Klosteranlage locker aufnehmen kann, ist heute als Weißes Kloster bekannt und zieht alljährlich Tausende Touristen an. Die imposante Kirche befindet sich in der Nähe von Sohag. Der ehemals reiche Buchbesitz der geistlichen Einrichtung hat ein trauriges Schicksal erlebt. Die meisten Bücher wurden im Laufe der Jahrhunderte willkürlich auseinandergenommen. Von der stolzen Buchsammlung existieren jetzt nur noch ca. 10.000 teilweise stärker beschädigte einzelne Blätter, und zwar zu allem Unglück über die halbe Welt verstreut. Mit ihrer Erfassung, Rekonstruktion, Ordnung und Herausgabe beschäftigt sich ein internationales Team unter Leitung des an der Universität Münster wirkenden US-amerikanischen Forschers Prof. Dr. Stephen Emmel. Dieser war denn auch der Star des Kolloquiums.
Emmel ist übrigens spätestens 2006 einer breiteren internationalen Öffentlichkeit bekannt geworden, denn in diesem Jahre veröffentlichte das Magazin National Geographic die Ergebnisse der Untersuchungen zu dem geheimnisumwitterten und umstrittenen sogenannten Judas-Evangelium weltweit in Form einer zweistündigen Fernsehdokumentation. Diese Sendung, in der wiederholt Emmels Name fällt, erregte unerhörte Aufmerksamkeit und wird seitdem immer und immer wieder ausgestrahlt. Ich hatte Gelegenheit, mich mit Stephen Emmel über diesen Papyrus-Kodex ausführlicher zu unterhalten.
Das interessante Dokument ist eine ägyptische Inspirationsquelle sui generis. Es handelt sich um eine sogenannte apokryphe Schrift. Unter Apokryphen werden Texte mit biblischen Inhalten verstanden, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Man geht davon aus, dass das Judas-Evangelium etwa gegen 160 u. Z. in einer wenn man so will ketzerischen Sekte in griechischer Sprache verfasst wurde. Das erste Zeugnis von seiner Existenz lieferte uns im Jahre 180 u. Z. Bischof Irenäus von Lyon. Er setzte sich kritisch mit einer der Hauptaussagen der Schrift auseinander, Jesus habe Judas ausdrücklich um den Verrat gebeten, um der ihm bestimmten Aufgabe, Messias zu sein, vollkommen gerecht werden zu können. Danach galt der Text als verschollen. 1976 tauchte er wie aus dem Nichts wieder auf, und zwar in einer koptischen Übersetzung. Bauern, die als Grabräuber unterwegs waren, um ihr Einkommen aufzubessern, hatten den Kodex in der Nähe des Ortes Nag Hammadi 1976 zufällig gefunden. Danach ist er in die Hände eines Kairoer Antiquitätenhändlers gelangt, der ihn versilbern wollte. Die Story sollte nun noch durch ein kriminelles Intermezzo um Sensationsstoff bereichert werden. Das Schriftstück wurde dem Händler gestohlen. Er konnte es sich aber auf unbekannte Weise wieder beschaffen und bot es 1982 zusammen mit anderen Dokumenten in Genf zum Verkauf an. Stephen Emmel, damals Doktorand in Rom, bekam den Auftrag die Echtheit des Dokuments zu prüfen und es dann für maximal 150.000 Dollar für seinen Auftraggeber zu erwerben. Die Verkaufsgespräche scheiterten, weil der Antiquar von seiner Forderung 3 Millionen Dollar nicht abweichen wollte. Es folgten weitere dramatische Wendungen, bis das wertvolle Unikat, inzwischen durch unsachgemäße Lagerung in einem Tiefkühl- und danach in einem Bankschließfach stark zerfallen, endlich in die richtigen Hände gelangte. Eine Schweizerin erwarb den Papyrus-Kodex und ermöglichte, dass mit Hilfe der National Geographic Society eine Restauration erfolgen konnte. In der sich anschließenden Phase der Auswertung spielte Stephen Emmel erneut eine gewichtige Rolle. Jetzt steht fest, dass es sich um eine echte apokryphe Schrift aus dem dritten oder vierten Jahrhundert handelt. Radiokarbondatierung, Tintenanalyse, multispektrale Bildverarbeitung, kontextuelle und paläographische Belege sprechen eindeutig für diesen Schluss. Inzwischen ist der Papyrus, der zu 85 % wiederhergestellt werden konnte, ediert worden und erhitzt seitdem gehörig die Gemüter derer, die sich seiner Interpretation widmen.
Der Leser wird mir glauben, dass das kein trockenes Gespräch war. Das war es aber auch schon deshalb nicht, weil es auf dem Empfang stattfand, den die Organisatoren des Schenute-Kolloquiums für die teilnehmenden Wissenschaftler und interessierte Gäste gaben. Stephen Emmel und ich hatten beide ein Weinglas in der Hand, als wir miteinander sprachen. Das Büffet, dem sich diese gesprächsfördernde lockere Atmosphäre verdankte, hat, und das soll hier nicht unerwähnt bleiben, Ägyptenfreund Gotthard Dittrich gesponsert, der viel von der Marketingweisheit hält: Tue Gutes und rede darüber. Diese wird hier nun allerdings arbeitsteilig verwirklicht. Er hat Gutes getan und ich rede darüber. Eigens um an der Eröffnung des Kolloquiums teilnehmen zu können, war er an diesem Tag aus Kairo eingeflogen, wo er gerade mit den Dr. Nermien International Schools vereinbart hatte , dass sich die Rahn Dittrich Group erneut als Partner der Privaten Deutschen Schule Kairo einbringen wird, die sie einst mitbegründet hat. (Für das ägyptische Papyrus MAGAZIN Heft 4/2014 geschrieben)
Foto: privat; G. Dittrich, Prof. Dr. Emmel, Prof. Dr. T. Richter, Dr. B. Landmann