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Leipziger Allerlei à la Sinai

2013 15. Februar
von Bernd Landmann

 

Solche Sehnsüchte bilden sich meist dann besonders stark aus, wenn ihre Erfüllung unmöglich scheint. Als es mich 1968 für drei Jahre als Deutschlektor nach Kairo verschlug, lag der Sechstagekrieg gerade reichlich ein Jahr zurck und sein Ausgang hatte dafür gesorgt, dass der Sinai für Touristen unzugänglich geworden war. Umso schmerzlicher brannten sich mir die farbigen Berichte derer aus meinem Umfeld ein, die noch das Glück gehabt hatten, die sagenhafte Halbinsel bereisen zu können. Sie schwärmten von der überwältigenden Kulisse einer Ehrfurcht gebietenden Mondlandschaft aus schroffen granitenen Bergen, von der mühsamen, aber erhebenden Besteigung des Dschebel Musa, von faszinierenden Sonnenaufgängen hinter bizarren Gipfeln und vom biblischen Dornbusch, der im Katharinenkloster noch so vorzufinden sei, wie ihn Mose einst angetroffen hat, als Gott daraus in einer feurigen Flamme zu ihm sprach. Das Feuer hätte ihn, wie in der Bibel nachzulesen, tatsächlich nicht verzehrt. Mich aber verzehrte der Neid. Mir würde wohl der Sinai für immer versperrt bleiben. Dachte ich damals wehmütig. Indessen ist jeder gut beraten, Katja Epstein zu glauben, wenn sie singt: „Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehen“. Freilich muss man sich manchmal auch bis überübermorgen gedulden. Was mich und meine Frau betrifft, so ereignete sich das Wunder erst im Februar 1996. Nach langer Busfahrt durch die Wüste und einem Zwischenstopp bei einer Beduinenfamilie, die uns unter einem improvisierten Sonnensegel mit selbstgebackenen Fladen und aromatischem Tee bewirtete, tauchten da wie eine Fata Morgana plötzlich die trutzig-hohen Mauern des Katharinenklosters vor uns auf und wir konnten den mythenschweren sandig-steinigen Boden davor beglückt unter unseren Füßen spüren. Seltsamerweise galt mein erster Gedanke bei diesem Anblick nun aber nicht dem brennenden Dornbusch, sondern vielmehr meinem Freund Dirk Joschko. Der spätere Anblick des Dornbuschs rechtfertigte das. Das mickrige, dürrästige Gewächs, das ich schließlich erblickte, war denn doch eine recht herbe Enttäuschung. Daraus sprach kein Gott zu mir. Der Gedanke an meinen Freund aber beschwor sofort die markante Gestalt Oswald von Wolkensteins in mir herauf, dem viele Jahre all sein wissenschaftlicher Ehrgeiz gegolten hatte und von dem er nie müde wurde zu behaupten, dass ihn seine vielen abenteuerlichen Reisen bis hin zum Grab der Heiligen Katharina geführt hätten.

Dirk Joschko und Oswald von Wolkenstein Der spätmittelalterliche Sänger Oswald von Wolkenstein hatte Dirk früh in seinen Bann geschlagen. Mein Freund war geradezu fasziniert von diesem um 1377 im Südtiroler Pustertal zweitgeborenen Sohn eines niederen Adligen, der lange Zeit vergessen war, dann aber im 20. Jahrhundert triumphal fröhliche Urständ feierte. Seine neuzeitlichen Gefolgsleute sehen in ihm den genialsten Lyriker zwischen Walther von der Vogelweide und Goethe und messen ihm sogar weltliterarischen Rang zu, weil seine eigenwilligen, kraftvollen Lieder, obwohl noch der Tradition des Minnesangs verhaftet, bereits deutlich auf die wein- und liebestrunkene Lyrik eines Johann Christian Günther (1695-1723) und eines Carl Michael Bellmann (1740-1795) vorausweisen würden. Dirk Joschko hat 1982 seine Doktorarbeit über Oswald von Wolkenstein verfasst. Sie ist später auch als Buch erschienen. Und das Wolkenstein-Feuer brannte noch immer in ihm, als er nach der Wende Deutschlehrer an einer Leipziger Rahn-Schule wurde. Es brannte so lichterloh, dass die Flammen auf etliche seiner Schülerinnen und Schüler überschlugen. Unter Dirk Joschkos Regie erarbeiteten diese jungen Wolkenstein-Bewegten ein literarisch-musikalisches Programm, das im November 2004 zur Aufführung gelangte, dargeboten im  Leipziger Schumann-Haus. Auch das Leben des Dichters wurde ausgebreitet, das bis zu seinem Tode 1445 in Meran überaus reich war an Ereignissen und ausgesprochenen Abenteuern. Oswald von Wolkenstein war nämlich nicht nur Sänger, Dichter und Komponist, sondern zeitweilig auch Diplomat, u a. im Dienste des deutschen Kaiser Sigismund I., und nicht zuletzt Weltreisender. Dirk Joschko sorgte dafür, dass jeder, der ihm bereitwillig auf den Spuren des Wolkensteiners folgte, sich irgendwann überrascht und staunend vor den Toren das Katharinenklosters wiederfand und den Gluthauch des Sinai zu spüren bekam.

Oswald von Wolkenstein und Konstantin von Tischendorf Ob Oswald aber wirklich das Katharinenkloster besucht hat, ist in der Wissenschaft umstritten, wie überhaupt viele biographische Aussagen, die seine Lieder enthalten. Das sei hier unumwunden eingestanden. Gewichtige Indizien sprechen allerdings dafür, dass er tatsächlich, wie es in einem seiner bekanntesten Lieder heißt, „Durch Barbarei, Arabia gezogen“ ist. Andere Lieder künden ausdrücklich davon, dass er als Pilger zu den Heiligen Stätten unterwegs gewesen sein will und u. a. Bethlehem mit eigenen Augen gesehen habe. Aussagestark ist aber vor allem ein Denkstein mit Umschrift und figuraler Plastik, den Oswald 1408 in Auftrag gegeben hat und der erhalten geblieben ist. Man findet ihn heute im Arkadengang neben dem Brixener Dom. Die Plastik zeigt den Auftraggeber mit eindeutig individuellen Merkmalen wie seinem hängenden Augenlid, das heute gleichsam als sein Markenzeichen gilt. Oskar tritt uns entgegen als Ritter im Harnisch mit Pilgerfahne und Kreuz auf seinem Schwertgürtel. Die Darstellung kann nicht anders als steinerne Absichtserklärung gedeutet werden, nach Jerusalem zu ziehen und sich dort zum Ritter des Heiligen Grabes schlagen zu lassen. Für die folgenden zwei Jahre sucht man bezeichnenderweise vergebens nach Dokumenten, die einen Aufenthalt Oswalds in Tirol belegen könnten. Erst Ende 1410 bzw. Anfang 1411 ist seine Anwesenheit in Tirol wieder dokumentiert. Dass er in der belegfreien Zwischenzeit seine Pilgerabsicht offenbar verwirklicht hat, lässt sich auch noch aus einem viel später verfassten Brief schließen. Es handelt sich um den Brief, den er am 19. August 1426 an den Pfalzgrafen Ludwig III. gerichtet hat. Darin gibt er dem Kurfürsten detaillierte Ratschläge für dessen geplante Palästinareise, die er schwerlich ohne einen eigenen Erfahrungshintergrund so detailliert hätte verfassen können. Nun muss man wissen, dass Reisen ins Heilige Land den Pilgern Ablass von ihren Sünden verhießen. Je mehr heilige Stätten man besuchte, auf desto mehr Sündenerlass durfte man hoffen. Eine Rolle spielte dabei auch der Grad der Heiligkeit des Ortes. Das Katharinenkloster hatte unter den Pilgerorten damals einen recht hohen Stellenwert. Deshalb folgern nicht wenige Wolkenstein-Forscher wie Anton Schwob und eben auch Dirk Joschko,dass Oswald, wenn er nun schon, wie er in einem seiner Lieder bekennt, Soldanskron kennengelernt hat, d.h. das Herrschaftsgebiet des in Kairo residierenden Sultans, sicher auch noch die beschwerliche Reise auf sich genommen hat, über Gaza zum Kloster St. Katharinen zu pilgern.Nicht den geringsten Zweifel gibt es aber über den Aufenthalt einer anderen Persönlichkeit in dem uralten Kloster auf dem Sinai. Auf ihren Namen hätte ich eigentlich schon 1996 bei meinem Besuch dort stoßen müssen. Bin ich aber nicht. Der Name Konstantin von Tischendorf prägte sich mir vielmehr erst 2011 bei einem Ausstellungsbesuch in der Leipziger Universitätsbibliothek nachhaltig ein. Der Titel der bemerkenswerten Ausstellung in der sog. Bibliotheca Albertina lautete: „Tischendorf auf der Suche nach der ältesten Bibel“. Fast magisch zog es mich zuerst zu den ausgestellten Seiten des weltberühmten ‚Codex Sinaiticus‘. Dieser Codex ist das älteste mit einem vollständigen Text des neuen Testaments erhaltene Bibelmanuskript, von dem man weiß. Es stammt aus der Mitte des 4. Jahrhunderts u. Z.. Der 1815 in Lengenfeld im Vogtland geborene Konstantin von Tischendorf hat das unschätzbar wertvolle Manuskript im Mai 1844 im Kloster St. Katharinen entdeckt. Ein reiner Zufallsfund war das nicht, sondern das Ergebnis einer hartnäckigen, unermüdlichen, systematischen Suche, die von dem Ziel geleitet wurde, Bibelhandschriften aufzuspüren, die möglichst nahe an die Originalquellen herankommen. Dass dabei sehr früh das Katharinenkloster in seinen Fokus geriet, erscheint nur allzu logisch, denn dieses Kloster gehört zu den ältesten der Welt und Tagebuchaufzeichnungen eines Italieners aus dem Jahre 1761 enthielten bereits Fingerzeige auf eine sehr alte Bibelhandschrift in der dortigen Bibliothek. Als Tischendorf in dem Kloster eintraf, vermochte allerdings keiner der Mönche ihm genaue Auskunft über die Bestände zu geben. Er machte sich deshalb selbst ans Werk und stieß auf 129 großformatige Pergamentblätter, deren Bedeutung er schnell erkannte. Nach eigenen Angaben wurde ihm erlaubt, 43 davon mit nach Leipzig zu nehmen, wo er seinen Wohnsitz hatte und 1874 auch gestorben ist. Seit 1834 war er aufs engste mit dieser Stadt und ihrer Universität verbunden. In diesem Jahr hat er an der Alma mater lipsiensis begonnen, Theologie und Philologie zu studieren. Hier hat er auch seinen Doktor gemacht und sich habilitiert. Schließlich ist er über Zwischenstufen hier bis zum Ordinarius für Theologie und biblische Palöografie aufgestiegen. Es war eine schöne Geste des Dankes, dass er die 43 pergamentenen Bibelblätter der Leipziger Universitätsbibliothek überließ, wo sie sich heute noch befinden. Zu Ehren des Sachsen-Königs Friedrich August II., der seine Sinai-Reise unterstützt hatte, gab er dem übereigneten Bibelfragment den Titel „Codex Frederico Augustanus“. Die Geschichte der Auffindung und Bergung der Manuskriptblätter war damit aber noch nicht zu Ende. Sie ging im Gegenteil recht aufregend weiter und nahm dabei sogar Züge eines spannenden Krimis an. Aber das wäre ein Thema für sich.

Konstantin von Tischendorf und Robert Schumann Seit Januar dieses Jahres trage ich als Vorstandsvorsitzender des Leipziger Schumann-Vereins Mitverantwortung für das oben erwähnte einstige Wohnhaus des großen Komponisten, das heute Eigentum der Europäischen Stiftung der Rahn Dittrich Group für Bildung und Kultur ist. Das Schumann-Haus bewirbt sich, unterstützt vom Freistaat Sachsen, gemeinsam mit acht weiteren authentischen Leipziger Musikerhäusern um Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe. Das bedeutet für Eigentümer und Verein erhöhte Verantwortung. Vor diesem Hintergrund wird man gut nachvollziehen können, dass es mich elektrisierte, als ich in einer der Rezensionen über die Codex-Sinaiticus-Ausstellung in der Albertina beiläufig angemerkt fand, Tischendorf habe eine Zeit lang in der Leipziger Inselstraße gewohnt. Das wollte, das musste ich unbedingt genauer wissen. Sollten Schumann und Leipziger Allerlei Tischendorf durch nachbarschaftliche Nähe miteinander in Kontakt gekommen sein? Und wenn ja: Hat sich daraus ein für beide Seiten interessanter Dialog entwickelt? Tischendorf und Schumann sind tatsächlich miteinander bekannt geworden und haben sich offenbar auch ein wenig angefreundet. In der Woche vom 25.-31. Oktober 1840 vermerkte Schumann im Ehetagebuch: „Freitag nahm Dr. Tischendorf Abschied für Paris.“ In Paris, wohin sich Tischendorf zu Studienzwecken begab, hat er Kontakt aufgenommen zu Freunden und Weggefährten Schumanns wie Berlioz, Chopin, Liszt und Wagner und darüber dann in die Inselstraße Briefe geschrieben. Berichte an Schumann über seinen Sinai-Aufenthalt sind allerdings nicht bekannt. Aber Sehnsucht nach der Ferne und speziell nach dem Orient waren damals in Europa generell en vogue. Davon blieb Schumann nachweislich nicht unbeeindruckt. Denken wir nur an sein Klavierstück „Von fremden Ländern und Menschen“aus den Kinderszenen op. 15 (1838) oder besser noch an seine „Bilder aus dem Osten op. 66“ (1848). Gerade aus diesen sechs Impromptus weht uns unüberhörbar ein Hauch orientalischen Kolorits entgegen. Wer verbietet uns die Vorstellung, dass sich diese nahöstliche Anmutung nicht teilweise auch dem unbewusst nachwirkenden Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit Konstantin von Tischendorf verdankt, wenn man wohl auch nicht so weit gehen darf, dabei an die fantastische Welt des Sinai zu denken. Tischendorf wäre beim Hören dieser Musik aber ganz gewiss so weit gegangen, denn seine Bilder aus dem Osten dürften nun mal höchstwahrscheinlich vor allem mit seiner Hoch-Zeit im Katharinenkloster verknüpft gewesen sein.

Leipziger Allerlei Der Leser wird sich fragen: Was hat das alles nun mit Leipziger Allerlei zu tun? Die Frage kann nicht bündig beantwortet werden, ohne zunächst geklärt zu haben, was Leipziger Allerlei ist. Das ist ein Gemüsegericht, das in vielen Varianten zubereitet werden kann. Man nehme junge Erbsen und Möhren, so man hat auch Spargel und Morcheln, dazu ad libitum grüne Bohnen, Blumenkohl oder Kohlrabi. Das Gemüse wird geschnitten und getrennt gegart, danach in Butter geschwenkt und in einer Schale angerichtet. Gewürzt wird mit Salz und weißem Pfeffer. Raffinierte Geschmacksnoten erzielt man durch Zugabe von Muskat, Kerbel und Petersilie. Zur klassischen Variante gehören gekochte Flusskrebsschwänze, Krebsbutter und Semmelklößchen. Dadurch erfährt das Gericht seine Krönung. Es kann als Beilage oder auch als eigenständiges Gericht verzehrt werden. Wenn sich in diesem Beitrag die einzelnen Textteile trotz ihrer thematischen Verschiedenheit dank der kräftigen Prise Sinai, mit dem alles abgeschmeckt ist, am Ende wie beim Leipziger Allerlei zu einem Ganzen fügen, ist die Intention des Autors aufgegangen. Wohl bekommt’s. Quellen: Dirk Joschko: Oswald von Wolkenstein. Eine Monographie zu Person, Werk und  Forschungsgeschichte. Göppingen 1985 Vgl. Anton Schwob: Oswald von Wolkenstein. Biographie, Bozen 1989, S. 80 Christfried Böttrich: Der Jahrhundertfund. Entdeckung und Geschichte des Codex Sinaiticus, Leipzig 2011 Wolfgang Bötticher, Briefe und Gedichte aus dem Album Robert und Clara Schumann, Leipzig 1979, 2. Aufl. 1981, S. 187 f. und 320 Robert und Clara Schumann: Ehetagebuch 1840-1844, Hsg. Gerd Nauhaus, Leipzig 1987, Tagebuch II, S. 118 Bildnachweis: Privat: Jens Lewandowsky, Ansicht Katharinenkloster Privat: Dr.Bernd Landmann, Plakat zur Wolkenstein-Veranstaltung im Schumann-Haus; Ansicht der Leipziger Universitätsbibliothek *Erscheint auch im Magazin Papyrus in Ägypten.

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  1. Martin Löschmann permalink*
    März 8, 2013

    Gut, dass wieder einmal ein Mitarbeiter des Herder-Instituts ins Rampenlicht des herderblogs gerückt wird: Dr. Dirk Joschko, für mich ein Lehrer, ein Lektor, der seinen Job am Herder-Institut mit Engagement und verschmitztem Witz erfüllte – ich dächte, er arbeitete in der Landeskundegruppe der Abteilung E/A – und der sich zugleich mit dem Dichter und Sänger Wolkenstein aus dem späten Mittelalter beschäftigte. Bis Dirk ans Institut kam, war mir dieser Dichter völlig unbekannt, und ich muss zugleich bekennen, dass ich aus Sicht des Herder-Instituts ein solches Promotionsthema auch lange Zeit für abwegig hielt. Da war ich übrigens nicht der einzige, der zunächst so dachte. Doch als bekannt wurde, dass seine Dissertation unter dem Titel Oswald von Wolkenstein. Eine Monographie zu Person, Werk und Forschungsgeschichte in der Bundesrepublik, im Westen, in Göppingen (nicht Göttingen) 1985 erschienen war, fand ein Umdenkungsprozess seinen Abschluss. Warum sollten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Herder-Instituts nicht Themen im Rahmen von Dissertationen bearbeiten, die im engeren Sinne für das Institut uninteressant waren, aber doch zur höheren Qualifikation seiner Mitarbeiter auf jeden Fall und zur Reputation des Instituts obendrein beitrugen.

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