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Wer hat denn nun am Herder-Institut das richtige Leben im falschen geführt, Herr Gauck?

2012 12. März
von Martin Löschmann

Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist,
der will nicht, dass sie bleibt. (Erich Fried)

Eigentlich war für mich der vielleicht bekannteste Spruch aus dem philosophischen Erbe Adornos Es gibt kein richtiges Leben im falschen in meinem Kommentar zu Lothar Kalbs Beitrag in diesem Blog abgearbeitet. Der Beiträger stellt darin fest, dass er mit dem Diktum Adornos wenig anfangen könne, was mich aber nicht weiter beunruhigte. Erst als mir beim Lesen der Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud von Christa Wolf Adornos vielzitierter Satz zum zweiten Male ins Auge sprang, wurde ich stutzig und machte mich auf, das Werk Minima Moralia zu studieren, insbesondere das 18. Kapitel mit der Überschrift „Asyl für Obdachlose“, an dessen Ende die griffige Formulierung steht. Wenngleich mir klar wurde, dass die Metapher nicht losgelöst vom Gesamtwerk betrachtet und nicht mit der Wolfschen literarischen Verknappung abgespeist werden darf, konnte ich mich im gegebenen Kommentarrahmen mit der Feststellung der erst kürzlich verstorbenen Schriftstellerin begnügen, wonach „die Unmöglichkeit angemessenen Wohnens unter den gegebenen falschen,  nämlich kapitalistischen Verhältnissen erörtert wird: Eigentlich kann man überhaupt gar nicht mehr wohnen.

Doch dann begegnete mir die positive Umkehrung des Satzes von Adorno bei Joachim Gauck, unserem künftigen Bundespräsidenten, und brachte meine Reflexion wieder in Gang. Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den israelischen Schriftsteller David Grossmann am 10. 10. 2010 führte er aus: „Denn als Bürger der DDR haben ich und viele andere Menschen im ganzen Osten Europas Ohnmacht erlebt und trotz Ohnmacht Ähnliches geschafft: Es gibt ein wahres Leben im falschen.“ Die Adornosche Prägnanz der Formulierung lässt sicherlich niemanden übersehen, dass Gauck richtig durch wahr ersetzt, was keineswegs den Bezug auf Adornos Satz verdunkelt und mich nicht dazu bewegt, Gaucks Intentionen bei dieser Substitution nachzugehen. Das überlasse ich gern den Gauck-Jüngern.

Mit dem Zitat reiht sich für mich Gauck in die Gilde jener Publizisten ein, die auf Adorno gern anspielen, wenn es um das Leben in der DDR als einem totalitären Staat geht, wenn in Sonderheit DDR-Intellektuelle und deren Lebensgeschichten entwertet werden sollen. So ist denn auch das, was Gauck da von sich gibt, an sich nicht neu. Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat ihm als erster vorgemacht, indem er vom „richtigen Leben im falschen System“ sprach.
(Vgl. Vortrag von Dr. Florian Roth an der Münchner Volkshochschule vom 15.11.2002  Es_gibt_kein_richtiges_Leben_im_falschen pdf).

Nun steht es jedem frei, erst recht einem, der den Kampf um die Freiheit auf seine nachwendische Fahne geschrieben hat, einen These eines Philosophen zu verändern und zu übertragen, nur frage ich mich, ob man nicht “wenigstens andeutungsweise“ den Bezugspunkt markieren und vor allem mit ins Kalkül nehmen musste, dass das Diktum Adornos die „verwaltete Welt“ einbezog, die Christa Wolf mit Recht als die kapitalistische dechiffriert. Der manipulative Hintergrund ist unverkennbar, es wird suggeriert, dass sich für die heutige bundesdeutsche Gesellschaft die Frage nach dem richtigen Leben überhaupt nicht stelle, vorausgesetzt, man akzeptiert sie überhaupt als Fragestellung.

Jedenfalls könnte ich mir gut vorstellen, dass Gaucks ehemaliger Freund Heiko Lietz, der als wahrer Bürgerrechtler in der DDR einsitzen musste, auch an solcherart Manipulationen dachte, als er auf die Frage, ob er Gauck wählen würde, ein klares Nein aussprach:
„Aber nicht wegen damals. Er hat sich heute mit einem System arrangiert, in dem der Mammon regiert, womit wir wieder bei Adorno wären, gewiss auf einer niederen Abstraktionsstufe. (B. Honnigfort, Der Bürgerrechtler, der keiner sein wollte. Berliner Zeitung v. 1. März 2012, S.6)

Doch nicht allein wegen des Gauckschen Einstimmens in den Chor der Angepassten und Eingepassten, wenn es um die undifferenzierte Verurteilung der DDR geht, habe ich dieses bei Adorno zum Aphorismus geronnene Diktum noch einmal bemüht, sondern eher, weil ich mich schon fragen muss, ob der designierte neue Bundespräsident sein auf Adornische Struktur gegossenes Bekenntnis künftig in reale Politik umsetzen will und wenn ja wie. Werden von ihm auch diejenigen vertreten, die in seiner Sicht ein falsches Leben im falschen in der DDR geführt haben? Und wer genau sind die, die ein falsches Leben geführt haben?
Konkret gefragt: Wer vom Herder-Institut z.B., in dem doch alle mehr oder weniger ihrer redlichen Arbeit nachgingen, hat ein falsches und wer ein richtiges, meinetwegen auch wahres Leben geführt? Nach welchen Kriterien sollen sie sortiert werden? Ist die SED-Parteizughörigkeit das entscheidende Kriterium? Dann fielen etwa zwei Drittel der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in die Schublade FALSCHES LEBEN, der glückliche Rest in die: RICHTIGES LEBEN. Und wenn dies das entscheidende Kriterium sein sollte, dann dürften wohl die Mitglieder von Blockparteien nicht ausgenommen sein, waren sie doch fest eingebunden in das System. Anders gewendet und den Kirchenmann Gauck gefragt: Wer aus der ehemaligen DDR darf auf seinen Grabstein schreiben Er/Sie führte ein richtiges Leben im falschen? Werden Sie, Herr Gauck, nach üblicher Lesart antworten: Nur diejenigen natürlich, die aktiv Widerstand in der Opposition leisteten. Doch dann: Wie steht es mit Ihnen? Ich weiß, Sie haben in früheren Jahren nie behauptet, dass Sie bis zur Wende zu den Aktivisten der Dissidenten-Bewegung in der DDR gehörten. Sie lebten im und unter dem Schutz der Kirche und haben sich irgendwie arrangiert, darüber kann ihr kritisches, meinetwegen auch mutiges Auftreten in der Kirche nicht hinwegtäuschen. Damit will ich mich indes keinesfalls mit denjenigen gemein machen, die Sie „als Glückskind der friedlichen Revolution“ als einen, der sich „mit fremden Federn schmückt“ titulieren (vgl. Berliner Zeitung vom 1. März 2012). Nein, warum sollte Ihnen nicht die Erleuchtung während der Wendezeit gekommen sein, sich an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung in der DDR zu stellen bzw. sich stellen zu lassen. Die Vorwendezeit und erst recht die Wendezeit haben ja nicht nur den Kirchenleuten die Augen weiter geöffnet.
Das DDR-System war überfällig, keine Frage. Was ich zu bedenken gebe, ist Ihre protestantische Verve, mit der Sie im Nachhinein die DDR in Grund und Boden stampften und stampfen und die heutige krisengeschüttelte Gesellschaft gewissermaßen als die Verheißung Gottes zelebrieren. Die Charakterisierung der Antikapitalismusdebatte, der internationalen Occupy-Bewegung mit „unsäglich albern“ lässt sich kaum anders deuten.

Nachtrag:
Wer sich eine ganz andere Verarbeitung des Adornoschen Diktums zu Gemüte führen möchte, höre sich einfach Rainald Grebe „1968“ an: http://www.youtube.com/watch?v=HbVqmY1fHSg

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  1. Ulla Boehnke-Kuckhoff permalink
    März 16, 2012

    … Las noch nach eurem Besuch zum 100. Geburtstag von Armin-Gerd (Kuckhoff – admin) Martins guten Gauck-Beitrag. Aber ob der den herderblog überhaupt liest? Wäre gut.
    Eure Ulla

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